Vom 21. April 2015 bis zum 15. Juli 2015 fand vor dem Lüneburger Landgericht der womöglich letzte Prozess gegen einen in Auschwitz tätigen ehemaligen SS Mann statt. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover lautete „Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen“. Diese Zahl erklärt sich durch die juristische Eingrenzung der Anklage auf die sog. „Ungarn Aktion“, bei der im Sommer 1944 in nur 57 Tagen über 430.000 jüdische Menschen aus Ungarn deportiert, nach Auschwitz verschleppt und über 300.000 von ihnen direkt in den Gaskammern ermordet wurden.
Der Angeklagte Oskar Gröning war von September 1942 bis Oktober 1944 als SS Mann in Auschwitz und dies auch während der gesamten „Ungarn Aktion“: Er sortierte, zählte und verbuchte das geraubte Geld der Ermordeten und tat ebenso mehrfach Dienst an der Rampe.
Am 15.07.2015 sprach ihn die vierte Strafkammer des Lüneburger Landgerichts für schuldig der Beihilfe zu Mord in 300.000 Fällen und verhängte ein Strafmaß von vier Jahren Freiheitsstrafe.
Wir haben die 17 Prozesstage besucht, begleitet und dokumentiert.
Zunächst zielte unsere Arbeit durch das Initiieren einer „Platzhalter*innen-Aktion“ den Angehörigen von Nebenkläger*innen, von Auschwitz-Überlebenden den Einlass zum Prozess zu sichern: Solidarische Menschen stellen sich in die Warteschlange an und übergeben kurz vor Einlassbeginn ihren Platz an die Angehörigen. Am Prozess waren über 70 Nebenkläger*innen beteiligt. Einige von ihnen haben als Zeug*innen vor Gericht ausgesagt. Sie und ihre Angehörigen sind u. a. aus Kanada, den USA, England, Ungarn und weiteren Ländern angereist. Durch die „Platzhalter*innen–Aktion“ sollte zum einen erreicht werden, dass die Angehörigen, die bereits eine so lange Reise bis nach Lüneburg auf sich genommen haben, nicht noch Stunden in der Warteschlange vor dem Gericht anstehen müssen, zum anderen sollte vermieden werden, dass sie vor Ort mit Faschist*innen und Holocausleugner*innen konfrontiert werden. An mehreren Tagen ist die „Platzhalter*innen–Aktion“ erfolgt und konnte durch eine breite Beteiligung solidarischer Menschen umgesetzt werden.
Nach den ersten beiden Prozesstagen haben wir uns entschieden, eine eigenständige, unabhängige Prozessdokumentation zu erstellen, da wir in den Medien das Prozessgeschehen nicht in dem Maße abgebildet sahen, wie wir es wahrnahmen. Da es uns aufgrund der Sicherheitsbestimmungen des Landgerichts nicht möglich war, Schreibmaterial mit in den Gerichtssaal zu nehmen, haben wir uns im Anschluss nach jedem Verhandlungstag zusammengesetzt, um das Geschehen zu erinnern, zu rekonstruieren und zusammenzutragen. Dabei sind die Dokumentationen entstanden, die wir nach jeder Prozesswoche per Verteiler an Interessierte geschickt haben. Diese haben wir im Folgenden nun veröffentlicht. Hierbei haben wir keinerlei Änderungen vorgenommen, da es für uns ein authentisches Abbild unserer Wahrnehmungen des jeweiligen Prozessgeschehens nachzeichnet. Die vorab in den Mails erfolgten organisatorischen Hinweise sind entweder entfernt worden oder entsprechend veraltet, eine ungefilterte Wiedergabe der Prozessmails war uns jedoch wichtig, um aufzuzeigen, wie facettenreich die Zeit des Prozesses war. Für uns, wie auch viele weitere Menschen, die diesen Prozess besucht und begleitet haben, sind die Erlebnisse und Erfahrungen dieser drei Monate wesentlich nachhaltiger, als wenn wir uns rein über die mediale Berichterstattung informiert hätten.
Wir hoffen, Euch durch unsere Dokumentation einen Eindruck darüber vermitteln zu können.
Lüneburg, September 2015