Tag 13

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf der vergangenen Prozesswoche informieren.

Vorab einige Hinweise:

1. Rechtsanwalt Thomas Walther, der zahlreiche Nebenkläger*innen im Verfahren vertritt, wurde vor dem Beginn des Prozesses zu den Erwartungen an und der Besonderheit dieses Gerichtsprozesses gefragt. Es handelt sich um ein 6minütiges Interview, das in der NDR Sendung Schabat Schalom ausgestrahlt wurde:

http://media.ndr.de/download/podcasts/podcast4076/AU-20150417-1351-2742.mp3

In einem weiteren Radiofeature, dass Ende Juni im Südwestfunk gesendet wurde und ca. 25 Minuten geht, zieht RA Walther Bilanz über den bisherigen Verlauf des Prozesses:

www.swr.de/swr2/programm/sendungen/tandem/thomas-walther-rechtsanwalt-der-nebenklaeger-ueber-den-lueneburger-ausschwitzprozess-besser-als-jede-therapie/-/id=8986864/did=15713342/nid=8986864/7rvset/index.html

Beide Interviews wurden von der Journalistin Almuth Engelien geführt.

Spannend wäre nun, eine Bewertung nach dem letzten Prozesstag, also der angekündigten Erklärung zu erhalten. Während die Beurteilung dazu auseinander gehen, nennt sie RA Walther einen „Schlag ins Wasser“, dazu im Bericht mehr.

2. Wir möchten Euch auf die Seite http://nebenklage-auschwitz.de aufmerksam machen. Diese Seite archiviert Aussagen und Erklärungen von Nebenkläger*innen, ebenso sind die Vertreter genannt. Es handelt sich nicht um eine gesamte Auflistung, sondern 49 der mehr als 60 Personen der Nebenklage, also um den Großteil. Ebenso schildern dort Nebenkläger*innen ihre Eindrücke vom Prozessgeschehen. Schaut sie Euch an, sie wird sicherlich kontinuierlich aktualisiert, da jetzt schon eine Rubrik „Plädoyers“ angefertigt ist.

3. Der Einlass in den Prozess beginnt immer um 8:30 Uhr, das Interesse und der Andrang von Besucher*innen sowie Medien richtet sich nach dem angekündigten Ablauf und geplanten Inhalten des jeweiligen Verhandlungstages. Am Mittwoch war das Interesse sehr groß, bereits um 7:00 Uhr haben 60 Personen in der Schlange gewartet. Es gibt nur 60 Plätze für die Öffentlichkeit, am Mittwoch haben sich jedoch Menschen einfach in den Prozess an den Wartenden vorbei gemogelt und sich so den Einlass erschlichen. Bis die Absperrung erfolgt, gibt es dafür keine andere Handhabe, als die, dass wir daran appellieren, sich weiterhin solidarisch, fair und respektvoll zu verhalten. Genau das ist die Grundlage, auf der das Platzhaltersystem funktioniert: früh genug aufstehen, dann ist der Einlass gesichert. Mit diesem Selbstverständnis haben wir uns alle in den letzten zwei Monaten gut organisiert. Bitte weist die Personen darauf hin, die dies ignorieren und ihr eigenes Interesse über all jene setzen, die seit Stunden anstehen. Es gibt immer eine Person, die Nummer 61, 62, 63 ist und nicht mehr reinkommt, obwohl sie rechtzeitig da war, allein aus dem Grund, weil Einzelne ihr Anliegen über das der anderen stellen. Wäre es ihnen wirklich wichtig gewesen, wären sie einfach früh genug aufgestanden. Es war uns wichtig, dies nochmal zu benennen.

Mittwoch, 01.07.2015 Tag 13

Aufgrund der langfristigen Ankündigung der ergänzenden Einlassung des Angeklagten sowie der Tatsache, dass Irene Weiß, die im Mai ihre Aussage wegen der Erkrankung des Angeklagten nicht halten konnte, erneut vor Gericht sein wird, um dies nun nachzuholen, war das öffentliche Interesse an diesem Verhandlungstag enorm. Sowohl hinsichtlich des Medienaufkommens (insgesamt waren alle Presseplätze bis auf zwei besetzt) wie auch der Zahl an interessierten Besucher*innen mit über 100 Wartenden verdeutlicht den Andrang am Morgen des 1. Juli.

Am Mittwoch war nicht nur Irene Weiß als Nebenklägerin anwesend, sondern auch Hedy Bohm und Judith Kalman, die bereits im April und Mai ausgesagt haben, sind erneut zur Verhandlung erschienen. Ebenso der Nebenkläger Andor Sternberg aus den USA.

Die Verhandlung beginnt mit dem Antrag des Rechtsanwalts Rückel, der drei Nebenkläger aus den USA vertritt. Er hat schon vor zwei Monaten beantragt, die Nebenkläger, die die Reise nach Lüneburg nicht mehr auf sich nehmen können, vor Ort zu befragen und anzuhören. Hieran schloss er an und beantragte, eine von ihm mitgebrachte DVD mit der Aussage einer seiner Mandanten im Gericht abzuspielen und zur Beweisaufnahme hinzuzuziehen. Die Aussage seines Mandanten dauern ca. 45 Minuten. Ebenso beantragte er die Inaugenscheinnahme des „Auschwitz Album“, dass er im Prozess vorliegen hat und in dem die Vorgänge in Auschwitz Birkenau von der Ankunft, der Selektion, dem gesamten Ablauf des Schicksals der Deportierten dokumentiert ist.

Der Verteidiger Herr Holtermann sprach sich gegen den Antrag aus, u. a., da die Hinzuziehung der DVD unzulässig sei, da nicht geklärt ist, unter welchen Umständen sie entstand und dies nicht den strafprozessualen Anforderungen entspreche. Der Vorsitzende Richter Kompisch wies den Antrag von RA Rückel zurück und begründete dies bzgl. des „Auschwitz Albums“ damit, dass bereits bei den Ausführungen des Sachverständigen Hördler ausführlich auf die Dokumente des Albums eingegangen wurde und diese auch gesichtet wurden. Bezüglich der DVD mit der Aussage des Nebenklägers aus den USA sowie einer Anhörung der Nebenkläger vor Ort hob er hervor, dass das Gericht durch die bisherigen und die heute noch kommende Aussage der Zeugen mit deren Darstellungen einen Eindruck im Rahmen der Beweisaufnahme erhalten habe. Die Zurückweisung des Antrages solle nicht als mangelnder Respekt gegenüber diesen Nebenklägern verstanden werden. Vielmehr sind für die Realisierung eines solchen Antrages immense diplomatische und bürokratische Anforderungen geknüpft, die nicht im Verhältnis zur „Prozessökonomie“ stehen würden.

Es folgte die angekündigte Einlassung des Angeklagten. Dies begann jedoch damit, dass von Seiten der Verteidiger darauf hingewiesen wurde, dass die Beschäftigung mit den Geschehnissen in Auschwitz, die durch die Aussagen der Nebenkläger sehr präsent wurden, ihren Mandanten außerordentlich belasten. Ein Gutachter hat den Angeklagten daher nicht nur bzgl. seiner physischen, sondern maßgeblich bzgl. seiner psychischen Konstitution untersucht. Daher wird die Einlassung nicht durch den Angeklagten selbst, sondern durch seine Verteidigerin Frau Frangenberg verlesen. Die Bewertungen zu der dann folgenden Erklärung des Angeklagten gehen auseinander und auch für uns stellt es sich in die Kontinuität dessen, welchen Eindruck, welches Bild sich uns vom Angeklagten bislang zusammenfügte: ambivalent. Die Erwartungen, die die lang angekündigte erneute Einlassung geweckt hat, vor allem unter dem Aspekt, inwieweit ihn die Aussagen der Überlebenden erreicht haben, wurden aus unserer Sicht nicht erfüllt. In der fünfseitigen Einlassung wird auf den ersten drei Seiten angeführt, was bereits bekannt war. Er schildert seine Tätigkeit und wiederholt hierbei nur, was er bereits ausgesagt hat. Erst dann geht er mit einem Satz auf die von ihm als „kleines Rädchen“ bezeichnete Rolle ein: „Auch wenn ich unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun hatte, habe ich durch meine Tätigkeit dazu beigetragen, dass das Lager Auschwitz funktionierte. Dies ist mir heute bewusst“. Er führt weiter aus, dass er versucht habe, sich „rauszuhalten“ und sich auf seine Tätigkeit in der HGV zu beschränken. Es setzte eine Verdrängung ein, die ihm heute unerklärlich sei. Als mögliche Begründung führt er die Erziehung zum Gehorsam an, welche Widersprüche nicht zuließ. Das Berufen auf diesen Gehorsam bezeichnete er selbst treffend als „Bequemlichkeit“, in die man sich durch Berufung auf die Befehlsstruktur begibt. Als weiteren Aspekt die „Gewohnheit, Tatsachen zu akzeptieren, wie sie auftraten, um sie später zu verarbeiten“ Nun wirft dies Fragen auf, wie diese Verarbeitung aussah, wenn sieben Jahrzehnte nach diesen Geschehnissen am ersten Verhandlungstag in den Aussagen des Angeklagten der Sprachstil vielfach dem SS Jargon glich. Auf diesen Punkt geht er ein, indem er erklärt:

In der Befragung nach meiner ersten Erklärung zur Sache habe ich mehrfach Formulierungen verwendet, wie sie damals unter den SS–Angehörigen in Auschwitz gang und gäbe gewesen sind. Diese Auffassungen entsprechen in keiner Weise meiner heutigen Auffassung. Ich habe ausgesagt, so gut und wahrheitsgemäß ich konnte. Dabei habe ich nicht bedacht, wie furchtbar diese Worte auf andere, insbesondere die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer, wirken mussten. Hierfür bitte ich um Entschuldigung, es war nicht meine Absicht, ihre Gefühle zusätzlich zu verletzen.“

Durch die Entschuldigung für seine im Prozess verwendeten Worte und Formulierungen schien es uns, als sei nun die Tür einen Spalt geöffnet, die Mauer, hinter der er sich zurückzog, ins Wanken geraten und die eigentliche Erklärung in Bezug auf das, was die Schilderungen der Zeugen in ihm ausgelöst haben, würden nun ausführlicher bzw. überhaupt benannt. In den folgenden zwei Absätzen gibt er an, wie sehr ihn die Schilderungen der Überlebenden außerordentlich stark beeindruckt haben und welche Auswirkungen die Schrecken in Auschwitz auf ihr gesamtes Leben hatten. Ebenso wie sehr der Holocaust das gesamte Leben der Nebenkläger beeinflusst habe. Er verwies darauf, sich durch seine Tätigkeit in der HGV am Holocaust mitschuldig gemacht zu haben, wenngleich er seinen Anteil daran als klein bezeichnet. Es schien uns, als nähere er sich mit diesen Sätzen dem Moment, um sich direkt an die Überlebenden wendet, um sich nicht nur für seinen Sprachstil im Prozess zu entschuldigen. Die Einlassung endet dann jedoch mit der Erklärung: „Mir war in meiner ersten Erklärung wichtig, zum Ausdruck zu bringen, dass ich in Demut und Reue vor den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer stehe. Gleichwohl habe ich bewusst nicht um Vergebung für meine Schuld gebeten. Angesichts der Dimension der in Auschwitz und anderswo verübten Verbrechen steht mir meiner Auffassung nach eine solche Geste nicht zu. Um Vergebung kann ich nur meinen Herrgott bitten“.

Durch diese abschließende, etwas pathetisch anmutende Aussage, nimmt er jedoch nicht nur Bezug auf seine Rolle bzw. welche ihm nicht zustehe, sondern legt dadurch auch die Rolle der Überlebenden fest, indem sie nicht als Adressaten in Frage kommen, über die Frage der Vergebung zu entscheiden. Er nimmt sich und ihnen dadurch von vornherein die Möglichkeit dazu. Nun entspricht es nicht unserem Vorgehen, ins Spekulieren oder Psychologisieren zu verfallen, aber die Erklärung wirkte auf uns doch eher so, als habe der Angeklagte versucht, mit dieser Form der Erklärung seinen Frieden für sich zu finden, und ist ihm dies nur in diesem gesetzten Rahmen möglich.

Wenn ein Gutachter feststellt, dass der Angeklagte durch die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen stark psychisch belastet sei und die Konsequenz daraus ist, dass er sich persönlich nicht mehr äußert, ist das erstmal die Situation. Mit dem Verlesen der Erklärung durch eine andere Person wurde für uns als Zuhörende die Distanz von dem Gesagten zu dem Angeklagten selbst jedoch noch verstärkt. Es fehlte das Ungesagte und Ungezeigte. Wäre die Erklärung durch seine Worte erfolgt, vielleicht wäre das sichtbar geworden, was den gesamten Prozessverlauf fehlte und ausblieb: eine Gefühlsregung, eine menschliche Geste, ein authentisches Zeichen an die anwesenden Nebenkläger*innen, das die wiederholt formulierte und von der Verteidigerin vorgetragene „Reue und Demut“ erkennbar hätte werden lassen.

Welchen Eindruck die Einlassung des Angeklagten bei den Nebenkläger*innen hinterließ, ist diesen Artikeln bzw. Videoclips zu entnehmen. Die gesamte Erklärung haben wir Euch als Anhang mit beigefügt.

www.welt.de/politik/deutschland/article143409306/Er-will-dass-man-ihm-sagt-was-er-fuehlen-soll.html

www.faz.net/aktuell/gesellschaft/auschwitz-prozess-groening-aussage-enttaeuscht-kz-ueberlebende-13681314.html

Der Erklärung des Angeklagten schloss sich eine Befragung an. RA Nestler, Vertreter der Nebenklage, wies den Angeklagten auf den Widerspruch hin, der sich auftut, wenn erklärt wird, der Angeklagte sei froh, so wenig wie möglich an der Rampe eingesetzt worden zu sein, dann jedoch für seine Kameraden auf Bitte einzuspringen. Die Antwort blieb aus, da der Verteidiger Herr Holtermann auf die vom Gutachter festgestellte psychische Belastung des Angeklagten durch die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Auschwitz verwies und darauf hinwirkte, dass die zu stellenden Fragen an den Angeklagten ihnen zugesandt werden, so dass sie sie mit dem Angeklagten gemeinsam durchgehen. Ein solches Vorgehen irritierte uns doch stark, schließlich handelt es sich um die Befragung des Angeklagten, aber da sich auf dieses Vorgehen von allen Prozessbeteiligten verständigt wurde, ist es zulässig. Auf uns wirkte es grotesk.

Nun trat Frau Irene Weiß in den Zeugenstand, als Nebenklägerin, als letzte Überlebende, die als Zeugin im Rahmen der Beweisaufnahme angehört wird.

Sie beginnt ihre Aussage mit der Beschreibung über die Zeit vor ihrer Deportation. Ihr Vater hatte

ein Holzgeschäft, sie waren sechs Geschwister im Alter von 7 bis 17 Jahren, sie war zu der Zeit, als sie in Auschwitz ankamen, 13 Jahre alt. Nur sie und ihre Schwester überlebten Auschwitz, sie verlor ihre Eltern, ihre kleine Schwester und ihre drei Brüder, ebenso zahlreiche Cousinen und Cousins, Onkel und Tanten.

Bereits 1940, als Ungarn dem Dreimächtepakt beitrat, spürten sie als Jüdinnen und Juden die schrittweisen Veränderungen, Einschnitte im gesellschaftlichen Leben und Diskriminierungen. Das Geschäft ihres Vaters wurde enteignet und an Nicht-Juden vergeben, sie mussten den gelben Stern tragen und die Kinder wurden von der Schule verwiesen.

1944 mussten wurde ihnen bekannt gegeben, sich am nächsten Tag in der Stadthalle zu versammeln, ihre Mutter bereitete Speisen zu und nähte Schmuck in die Kleider in der Voraussicht, dass sie ihn später brauchen könnten, um ihn gegen etwas Nützliches, z.B. Essen für die Kinder, tauschen zu können.

Sie wurden von zu Hause abgeholt und ihr Vater schloss das Tor hinter ihnen, damit ihr Hund ihnen nicht folgte. Sie wurden mit ca. 100 weiteren Juden aus ihrer Stadt auf das Gelände einer alten Ziegelei außerhalb der Ortschaft gebracht, dort befanden sich bereits Hunderte andere jüdische Familien aus den umliegenden Städten. Während ihres einmonatigen Verharrens in diesem Ghetto wurden allen Mädchen unter 16 Jahren die Haare geschoren, so auch ihr. Dies war sehr demütigend und ihre Mutter gab ihr ein Tuch, um ihren Kopf zu bedecken. Ihre mitgebrachte Verpflegung war nach kurzer Zeit verbraucht und sie waren abhängig von den täglichen Essensrationen Suppe. Nach einem Monat hielt ein Güterzug neben der Ziegelei und sie wurden in die Waggons gejagt, zwischen 80 und 100 Personen pro Waggon. Als die Rolltüren der überfüllten Transporter geschlossen wurden, herrschte vollkommene Dunkelheit. Nach Stunden setzte der Zug sich in Bewegung und fuhr Tag um Tag, Nacht um Nacht, es war ein Martyrium für die eingepferchten Menschen. Durch einen kleinen Schlitz an der Seite des Waggons sah ihr Vater, dass der Zug die Grenze zu Polen überquerte und bestätigte damit ihre schlimmsten Befürchtungen: Sie haben zuvor gehört, dass in Polen Massenerschießungen von Juden in Wäldern stattgefunden haben sollten. Als der Zug dann einfuhr und ihr Vater erkennen konnte, dass dort Häftlinge arbeiteten, waren sie erleichtert, da sie die bedrohlichen Gerüchte als nicht zutreffend ansahen und glaubten, nun in einem Arbeitslager zu sein. Den Namen Auschwitz haben sie nie zuvor gehört.

Ihre Mutter hatte ihren Kindern geraten, so viele Kleidungsstücke wie möglich übereinander zu ziehen, daher trägt Frau Weiß einen Wintermantel, der ihr viel zu groß war.

Dann ging alles sehr schnell, die Türen wurden aufgerissen, unter dem Schreien der SS-Wachen wurden die Menschen aus den Waggons getrieben, Häftlinge in gestreifter Kleidung sprangen in die leeren Waggons und begannen, die darin befindlichen Koffer und Taschen auf die Ebene vor dem Zug zu schleudern und diese auf die bereitstehenden Lastwagen zu hiefen.

Auf der Plattform herrschte für sie das Chaos, ihre Familie stand fest umklammert. Sie versuchten, in dem Gedränge, dem Lärm, der Verwirrung zusammen zu bleiben, sich nicht zu verlieren. Flankiert von SS–Männern mit Gewehren zog die Menschenmenge immer weiter nach vorne, bis sie an einen SS–Mann gelangten, der schrie: „Männer auf die eine Seite, Frauen und Kinder auf die andere Seite“. In einem Augenblick verschwand ihr Vater und ihr 16jähriger Bruder aus ihrem Blickfeld, sie hat sie nie mehr wieder gesehen. Ihre Mutter Leah, ihre 17jährige Schwester Serena, ihre 12jährige Schwester Edith und ihre beiden jüngeren Brüder Reuven und Gershon standen mit ihr in einer Schlange, an deren Ende sie von 10 oder mehr SS Wachen gestoppt wurden. Inmitten von ihnen ein SS–Mann mit einem Stab, der die Menschen in verschiedene Richtungen einteilte, in die sie zu gehen hatten. Während ihre ältere Schwester in die eine Richtung geschickt wurde, sollten bis auf sie und ihre kleine Schwester alle anderen die gegensätzliche Richtung einschlagen. Dann entschied der SS–Mann mit dem Stab auch zwischen ihr und ihrer Schwester Serena und schickte sie in zwei verschiedene Reihen. Da sie den übergroßen Mantel und das Kopftuch trug, wirkte sie älter als 13 Jahre. Frau Weiß ging jedoch nicht sofort weg, sondern sorgte sich um ihre kleine Schwester Edith, ob sie in dem Gewirre ihre bereits vorausgegangene Mutter und Brüder wiederfinden würde. Sie war 12 und jetzt ganz allein in diesem Chaos. Niemand hat ihre Namen vermerkt, keiner danach gefragt, wie sollten sie als Familie wieder zusammenfinden?

Eben jene Situation ist auf dem nun im Gerichtssaal projizierten Foto zu sehen: Die Menschen in den Reihen, die Transportzüge, die aufgehäuften Gepäckstücke, die auf die hinten wartenden Lastwagen verbracht werden, die bewaffneten SS–Männer und die Menschen voller Angst in all diesem Chaos, was mit ihnen und ihren Familienmitgliedern geschieht. Frau Weiß ist vorne links im Bild zu sehen, sie hält Ausschau nach ihrer kleinen Schwester Edith, die den Weg rechts zwischen dem Transport geschickt wurde.

https://nebenklageauschwitz.files.wordpress.com/2015/07/111crowd_col1.jpg

Wenngleich dieses Foto schon im Prozessverlauf zu sehen war (bei den Ausführungen des Sachverständigen Herrn Hördler), so ist diese Situation für alle Anwesenden im Gerichtssaal eine Besondere, weil Frau Weiß als Zeugin vor einem deutschen Gericht gegen einen ehemaligen SS-Mann aus Auschwitz aussagt, während sie bei der Ankunft in Auschwitz zu sehen ist und ihre Erinnerungen an diesen Moment schildert. Das historische Foto, das darauf abgelichtete Geschehen, wirkt plötzlich ganz nah, das empfundene Chaos ist spürbar, die Angst um die Schwester und die restliche Familie, das Schreien der SS–Männer. Ob und wie das Geschehene und Erlebte der Zeugin den Angeklagten erreicht, vermögen wir nach der Einlassung nicht zu bewerten. Von ihm ist wie bisher keine Regung zu erkennen.

Frau Weiß führt die Situation weiter aus, sie bewegte sich trotz Aufforderung des SS–Mannes nicht weiter, nicht weg von der Möglichkeit, ihre Schwester zu sehen, dies war in der weggeschobenen Menschenmenge nicht mehr möglich. Ihre Familie hatte so lange und fest versucht, zusammen zu bleiben und nun waren sie völlig auseinandergerissen. Das Trauma dieser Trennung besteht bei ihr bis zum heutigen Tag.

Sie wurde in die andere Richtung gestoßen und traf auf ihre ältere Schwester Serena, die sie fragte, warum sie nicht bei der Mutter und den kleinen Geschwistern geblieben sei. Nachdem sie in ein Gebäude verfrachtet wurden, in dem auch ihre Schwester und den anderen Frauen der Kopf geschoren wurde und sie Häftlingskleidung anziehen mussten, kamen sie in eine Baracke mit ca. 200 anderen Frauen. Sie erkundigte sich bei den anderen Gefangenen, wann sie ihre Familie wiedersehen würden, diese zeigten jedoch auf den Schornstein und sagten zu ihr: „Siehst du den Rauch? Das ist deine Familie“.

Frau Weiß berichtet über ihre Erinnerungen als Häftling in Auschwitz, über die täglichen Zählappelle, bei denen sie sich auf einen Stein stellte, um nicht so klein zu wirken, wie sie war als 13jährige. Ebenso, dass sie sich in die Wangen kniff, auf dass sich diese rot färben und sie gesünder aussah, um nicht selektiert zu werden. Durch Glück trafen sie auf ihre Tanten Roszi und Piri, die in benachbarten Baracken waren und deren liebevolle Hingabe ihnen halfen, diesen schrecklichen Ort zu überstehen. Ihnen wurde eine Nummer auf den Arm tätowiert und sie musste im Effektenlager „Kanada“ arbeiten. Es waren Berge von Kleidung, Schuhen, Bettwäsche, Brillen, Haushaltsgeräte, Töpfe und Pfannen, auch Kinderwagen. Sie mussten die Wertsachen, die den Deportierten, den Häftlingen und den Ermordeten geraubt wurde, nach Wertgegenständen sortieren.

Eines Tages fand sie während der Arbeit beim Sortierung der Kleidung das weiße Kleid und den beigen Schal ihrer Mutter. Sie mussten neben den Gaskammern und Krematorien arbeiten. Sie hatte ihr Wissen aus erster Hand, was mit den Menschen geschah, die Tag und Nacht, Männer, Frauen, Alte und Kinder in Reihen ihre Baracke passierten und verschwanden hinter dem Tor, das in die Gaskammern führte.

Nun wechselt das Bild im Gerichtssaal und es ist eine Situation von Menschen, Frauen und Kinder in einem Birkenwäldchen zu sehen. Dieses Foto hat Frau Weiß ebenso wie das vom Geschehen an der Rampe, auf dem sie zu erkennen ist, zum ersten mal vor mehr als 20 Jahren gesehen, als ihre Tochter auf das Buch gestoßen ist und sie sich und ihre Familienmitglieder auf den Fotos wieder entdeckte. Sie sieht ihre beiden Brüder Reuven und Gershon vorne links im Bild, dahinter kniend ihre Mutter Leah. Diese Aufnahmen sind kurz vor dem Weg in die Gaskammern entstanden, die Menschen saßen ahnungslos im Birkenwäldchen und wussten nicht, dass ihre Mörder schon auf sie warten. Der einzige Trost, der sich für Frau Weiß daraus ableitet, war zu wissen, dass ihre Brüder bis zum Schluss bei ihrer Mutter waren:

https://nebenklageauschwitz.files.wordpress.com/2015/07/112grove_col1.jpg

Im Januar 1945 wurden sie und ihre Schwester Serena mit vielen anderen Häftlingen auf einen Todesmarsch geschickt. Den Weg nach Ravensbrück und von dort aus weiter nach Neustadt–Glewe überlebten zahlreiche Häftlinge nicht. Sie starben an Erschöpfung oder wurden erschossen. Vollkommen entkräftet und abgemagert erreichte sie mit ihrer Schwester Neustadt-Glewe. Auch ihre Tante Piri war bei ihnen, aber sie war an Typhus erkrankt und auf einen LKW verbracht und abtransportiert worden. Auch für ihre Schwester Serena wurde der Tod entschieden, sie wurde selektiert und sollte von ihr getrennt werden. Dies konnte Frau Weiß nicht hinnehmen, sie wollte sich von ihrer Schwester nicht mehr trennen und ging mit ihr. Sie wurden in eine Kammer gesperrt, aber dann waren keine Wachen, keine SS Männer mehr da. Vermutlich aufgrund der näher rückenden Roten Armee ergriffen die Nazis die Flucht. Frau Weiß erlebte die Befreiung von den Nazis also in Neustadt-Glewe.

Frau Weiß berichtet über ihren Vater, der in Auschwitz erschossen wurde. Sie erfuhr, wie ihr 47jähriger Vater in Auschwitz gezwungen wurde, im Sonderkommando zu arbeiten, er musste die Leichen aus den Gaskammern ziehen. Kurz nachdem er gezwungen war, diese Arbeit zu verrichten, wurde er erschossen. Erfahren hat sie das durch einen jungen Mann aus ihrem Ort, der ebenfalls dort war und ihr ein Zettelchen mit der Nachricht durch den Zaun reichte, der sie vom Krematorium trennte.

Frau Weiß beschreibt ihren Vater, seine liebevolle Art, dessen ganzes Leben seine Familie und sein Glauben war. Seine sanfte und freundliche Person. Welche Möglichkeiten er sich einfallen ließ, um den Kindern das hebräische Alphabet beizubringen, sodass sie die Gebete lesen können.

In ihrem Zuhause hatten die Decken Balken, in deren Ritzen er Münzen schob. Immer, wenn sie er sie für gutes Lernen belohnt hatte, schlug er mit einem Besenstiel gegen die Balken, sodass es für die Kinder schien, als regnete es Münzen, mit denen sie sich sogleich im Laden Süßigkeiten holten.

Bei vielen Zuhörern ging der Blick automatisch zur Decke, als Frau Weiß ihre Erinnerungen an ihren Vater schilderte. Als könne man den Vater sehen, wie er den Besenstiel an die Decke balancierte, die lachenden Kinder, die nach den Münzen springen. Frau Weiß berichtet, dass sie nach dem Krieg Kinder lange anstarrte, da sie über ein Jahr keine Kinder mehr gesehen hatte. In Auschwitz war Kind sein gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

Zum Schluss kommt sie auf den Angeklagten zu sprechen und die Rolle in der er sich selbst sieht. Für sie war jeder Mann in einer SS Uniform ein Täter und würde er heute hier in dieser Uniform sitzen, würde sie zittern wie damals als 13jähriges Mädchen. Für dieses 13jährige Mädchen war jeder, der diese Uniform an diesem Ort trug, ein Vertreter von Terror und einem Zeichen dafür, wie tief die Menschheit sinken kann. Unabhängig davon, welche einzelne Funktion die Person in dieser Uniform ausgeübt hat. Und heute, im Alter von 84 Jahren, fühlt sie noch genauso.

Die gesamte Aussage von Frau Weiß ist im Original hier nachzulesen: http://nebenklage-auschwitz.de/category/irene-weiss

Abschließend wurden durch Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Vertreter der Nebenklage noch Anträge und Anregungen formuliert.

Der Staatsanwalt Lehmann verwies auf diverse Dokumente und Schriften, die Hinweise zur Erkenntnisgewinnung liefern könnten. Er verlas eine Vielzahl von Dokumentennummern, die sich keiner außerhalb der Prozessbeteiligten merken konnte und deren Inhalte sich nicht erschloss. Der Rechtsanwalt von Münchhausen stellte den Antrag zur Sichtung des Buches „I escaped from Auschwitz“ zur Auseinandersetzung mit den Abläufen, der Struktur und den Geschehnissen in Auschwitz Birkenau. Hierzu fügte der Vorsitzende Richter Kompisch an, dass – dies betraf auch den Antrag von RA Rückel zu Beginn der Verhandlung – durch die umfassenden Ausführungen des Sachverständigen Hördler sowie die Aneignung des Wissens durch die detaillierten Ausführungen im Urteil gegen Herrn Weise im Selbstleseverfahren von einer Kenntnis der Prozessbeteiligten ausgegangen wird.

Der Verteidiger Herr Holtermann ging auf die in den vorigen Verhandlungstagen geführte Auseinandersetzung um die Rolle des Angeklagten bei anderen Verfahren, Prozessen etc. ein. Während die Verteidigung versucht, entlastende Aspekte für den Angeklagten hinzuzuziehen und dies auch mit dem Verweis auf seine Mitwirkung und Aussagetätigkeit in vorherigen Prozessen gegen und im Gegensatz zu ehemaligen Kameraden (dieser Hinweis erfolgte im Rahmen eines Antrages der Verteidigung, dies im Falle eines Schuldspruches als strafmildernd zu berücksichtigen), stellten Vertreter der Nebenklage dar, dass eine strafmildernde Berücksichtigung nur für Personen gelte, die zu dem jeweiligen Aussagezeitpunkt als Beschuldigter gelten.

Der Verteidiger hob die Relevanz der Tatsache hervor, dass die geplante Dauer des Verfahrens und die zeitliche Einordnung einer Urteilsverkündung und somit dem Ende eines Verfahrens für den Angeklagte deutlich sein muss.

Herr Holtermann verwies darauf, dass die Ermittlungen bereits Ende der 1970er Jahre gegen den Angeklagten begonnen haben und ihm die Einstellung Mitte der 1980er nicht mitgeteilt wurde. Immer wieder wurde er über Jahrzehnte mit dieser Thematik von deutschen Gerichten befasst. Nun wurde sich auf Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berufen, die darauf eingehen, was eine zulässige Verfahrensdauer ist, die Kriterien für die Ermittlung einer Prozessdauer und die Aussicht des Beschuldigten auf ein Ende des Verfahrens.

Diese Vorlage nahm der Vorsitzende Richter Kompisch gerne auf und befragte den Angeklagten umgehend zu den Ermittlungen gegen ihn Ende der 1970er Jahre. Ob ihm denn zu einem Zeitpunkt bekannt war, dass er als Beschuldigter vernommen wurde? „Nein, zu keinem Zeitpunkt“ antwortete der Angeklagte. Damit war auch die Grundlage der argumentativen Ausführungen des Verteidigers dahin. Es kann einen nicht über Jahrzehnte belasten, dass Ermittlungsverfahren gegen einen laufen, wenn man nie Kenntnis darüber hatte, als Beschuldigter zu gelten. Einen kurzen Eindruck über den Verhandlungstag bieten diese Beiträge:

www.youtube.com/watch?v=VBqtAh2k7BA

www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-07/oskar-groening-auschwitz-prozess-lueneburg-entschuldigung

Am nächsten Verhandlungstag soll über die noch eingegangenen Anträge entschieden werden und der Angeklagte zu den eingereichten Fragen nach deiner Einlassung Stellung nehmen. Danach könnte die Beweisaufnahme geschlossen und mit den Plädoyers begonnen werden. Diese erfolgen in der Reihenfolge Staatsanwaltschaft, Vertreter der Nebenklage, Verteidigung. Wie viel Zeit und entsprechend wie viele Verhandlungstage dies insgesamt in Anspruch nehmen wird, bleibt abzuwarten.

Donnerstag, 02.07.2015

Der Verhandlungstag wurde aufgehoben, da der Angeklagte aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes nicht zu Gericht erscheinen konnte. Der Zustand des Angeklagten sei „schwächer denn je“, seine Anwältin Frau Frangenberg regte an, fortan nur noch einen Tag pro Woche zu verhandeln. Dies wies der Vorsitzende Richter Kompisch jedoch zurück und machte deutlich, dass die festgelegten Termine beibehalten werden und dann den konkreten Ablauf an der jeweiligen Konstitution des Angeklagten anpassen.

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Holocaust-Prozess-Angeklagter-schwaecher-denn-je,auschwitz444.html

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13828&article_id=135055&_psmand=56

Der nächste Verhandlungstag ist auf Dienstag, 07.07.2015 datiert, Beginn 9:30 Uhr, Einlass 8:30 Uhr. Bitte werft zuvor einen Blick auf die Seite des Lüneburger Landgerichts (aktuelle Pressemitteilungen auf der linken Seite), um abzuklären, ob es kurzfristige Änderungen gibt:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13820&_psmand=56

Letztlich gibt es für alle Eventualitäten keine endgültige Sicherheit. Auch am Donnerstag haben wir erst im Gericht erfahren, dass der Verhandlungstag aufgehoben wird.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen