Tag 8 + 9

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf des Prozesses in der vergangenen Woche informieren, vorab einige kurze Hinweise:

1. Die am vergangenen Mittwoch als Zeugin der Nebenklage aussagende Susan Pollack war die letzte Auschwitz-Überlebende, die in diesem Verfahren spricht. Am Mittwoch hat Herr Nestler, einer der Anwälte der Nebenklage, der mit RA Thomas Walther 50 der 67 Nebenkläger*innen vertritt, das Gericht darüber informiert, dass Frau Irene Weiss überlegt, ob es ihr doch möglich ist, erneut nach Lüneburg zu kommen und persönlich als Zeugin auszusagen. Dies war ihr am 07. Mai nicht möglich, da der Prozess aufgrund der Nicht–Anwesenheit des Angeklagten nicht stattfand. Stattdessen sollte ihre schriftlich eingereichte Aussage verlesen werden. Der Vorsitzende Richter Kompisch begrüßt es sehr, sollte dies möglich sein und Frau Weiss würde am Ende der Beweisaufnahme sprechen. Dies wäre nicht nur für sie, die wie die vielen anderen auch jahrelang darauf warten musste, vor einem deutschen Gericht gegen einen ehemaligen SS-Mann auszusagen, wichtig, sondern wir sehen darin auch einen hohen symbolischen Wert: Die Beweisaufnahme in diesem Prozess würde nicht mit den Aussagen eines Sachverständigen, mit Auseinandersetzungen über Dokumente, mit Nachfragen der verschiedenen Prozessbeteiligten schließen, sondern mit der Stimme einer Überlebenden, die Zeugnis über das Geschehene ablegt. Wir hoffen sehr, dass es Frau Weiss möglich sein wird, erneut nach Lüneburg zu kommen und werden Euch umgehend informieren, sollte sich dies konkretisieren.

2. Die Hauptverhandlung dieses Prozesses erfolgt in der Lüneburger Ritterakademie. Gleichermaßen spielen sich rund um die Prozesstage viele Erlebnisse, Geschehen und Situationen ab. Dazu zählt auch die örtliche Nähe des Prozesses zu einem Denkmal: Ein für uns nennenswerter Aspekt ist die Tatsache, das wir Wartenden jeden Morgen vor Prozessbeginn auf ein 50 Meter entferntes Denkmal schauen, mit dem die 110. Infanterie Division der Wehrmacht bzw. ihre Gefallenen geehrt werden. Ihnen wird als Opfer des Krieges gedacht, des Traumas, das ihnen widerfahren sei. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass eben diese Einheit zu Teilen verantwortlich für Kriegsverbrechen an zigtausenden Menschen der Zivilbevölkerung in Weißrussland war. Wäre es nur ein Denkmal wie so zahlreich in Deutschland anzutreffen, wäre es zu kritisieren. Vor dem Hintergrund jedoch, dass im letzten Jahr ein sog. „Friedenspfad“ in Lüneburg konzipiert wurde, der dieses Denkmal (und somit die, derer dadurch gedacht werden soll) unkommentiert in eine Reihe mit Opfern des Faschismus stellt und die Hinweise und Informationen auf die Beteiligung an Kriegsverbrechen ignoriert, ist es ein Skandal. Die Lüneburger VVN-BdA hat hierzu recherchiert und Informationen verteilt. Diese haben wir Euch als Anhang mit beigefügt, ebenso die Informationen zum Film „Ozarichi 1944“, der über die Kriegsverbrechen und die Beteiligung der 110. Infanteriedivision berichtet und vor einer Woche im Lüneburger Scala Kino im Rahmen der Veranstaltungen zum 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus gezeigt wurde. Mehr Hintergrundinformationen bietet auch dieser Bericht: www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article125647121/Wehrmacht-liess-in-Lager-nutzlose-Esser-verenden.html Die 110. ID aus Lüneburg wird in diesem Artikel nicht explizit genannt, aber die 9. Armee der Wehrmacht, zu der die 110. ID zählt.

Flugi v.d.Gericht 5.15

Flugi Matinee Ozarichi

3. Die am 27.04.2015 im Uelzener Rathaus erfolgte Veranstaltung mit Eva Pusztai-Fahidi und Hedy Bohm ist als Audio–Datei hier anzuhören bzw. runterladbar: www.freie-radios.net/70240

Dienstag, 12.05.2015 – Tag 8

Zu Beginn des 8. Prozesstages fanden sich viele Interessierte vor der Lüneburger Ritterakademie ein, 60 von ihnen konnten als Besucher*innen Einlass erhalten. Weitere 30 blieben mit der Hoffnung auf einen später frei werdenden Platz bis mittags vor der Tür stehen, leider ohne Aussicht auf Erfolg. Der Vorsitzende Richter Kompisch teilte allen Anwesenden anfangs mit, dass ein Gerichtsmediziner den kürzlich erkrankten Oskar Gröning ausführlich untersucht habe und ihm Verhandlungsfähigkeit bescheinigte, allerdings mit einer zeitlichen Begrenzung der Belastbarkeit von 3 Stunden täglich. Der Angeklagte selbst antwortete auf die Frage des Richters bzgl. seiner aktuellen Verfassung, dass er sich nicht gut fühle, er leide unter Kopfschmerzen und Schwindel, wolle jedoch am Fortfahren des Prozessgeschehens festhalten.

Als erste Zeugin der Nebenklage sagte Henriette Beck aus. Sie ist 56 Jahre, arbeitet als Heilpraktikerin und kommt aus Neumarkt-Sankt Veit (Bayern). Sie berichtete von ihrem Vater, der in Auschwitz Birkenau seine erste Frau und ihre Halbschwester – die 5jährige Eva – verloren hat. Frau Beck erzählte, dass jedes Jahr zum Geburtstag von Eva am 6. Oktober Kerzen angezündet wurden und ihrer gedacht wurde. „Diese Schattenfamilie hat mich immer begleitet“, sagte sie. Sie beschrieb ihren Vater als einen sehr engagierten Mann, der – trotzdem er als Häftling in Auschwitz und Dachau war – in Deutschland geblieben ist und dort eine neue Familie gegründet hat. Er hat mit zwei jüdischen Freunden ein Strickwarengeschäft aufgebaut. In der Region ist er zum Ehrenbürger ernannt worden, nicht weil er Überlebender des Holocaust ist, sondern für seine Verdienste u.a. durch sein Wirken als Vereinsvorsitzender, seine Tätigkeiten als Stadtrat, usw. Ihr Vater habe nie mit ihr über seine traumatische Vergangenheit sprechen können, erst in den letzten Jahren sei es ihm möglich gewesen durch Interviews seine eigene Geschichte zu thematisieren. Ihr Vater ist bereits verstorben, sie selbst wolle ebenso wie er damals in Deutschland leben bleiben. Sie betonte die Möglichkeit hier eine Religion auszuüben ohne unterdrückt zu werden, zeuge von der Toleranz, die sie auch in anderen Bereichen wieder fände. Frau Beck beschreibt ihre Generation als die Generation der Kinder von Opfern und der Kinder von Tätern. Auf die Frage von Richter Kompisch über die Größe ihrer Familie antwortete sie:“ Ich weiß nicht, wie viele meiner Verwandten in Auschwitz getötet wurden, aber es sind fast keine über geblieben.“

Als zweite Zeugin der Nebenklage sprach nun Kathleen Zahavi aus Toronto, Kanada. Wenn auch in den letzten Tagen und Wochen dieses Prozesses deutlich wurde, wie sehr sich die Erlebnisse ähneln, ist doch wie jede Person selbst auch jede Aussage eines Überlebenden und auch Angehörigen individuell, persönlich, anders. So waren die bisherigen Schilderungen schon sehr berührend. Die Aussage von Frau Zahavi zählt zu den Momenten, die in uns die Überzeugung stärken, dass jeder verändert aus diesem Prozess geht. Dies hat mit der Atmosphäre zu tun, die den ganzen Raum erfasst, wenn eine Aussage nicht nur aus Worten, Sätzen, Erklärungen besteht, sondern eine emotionale Spannung herrscht, die spürbar ist, die einen komplett erfasst. Frau Zahavi hat von Anfang an mit den Tränen gerungen und mit empörter Stimme begegnet sie der (formal zum Ablauf jeder Zeugenbefragung notwendigen) Frage des Vorsitzenden Richters Kompisch, ob sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert sei: „Absolutely not!“.

Die heute 86jährige beginnt sichtlich bewegt ihre Aussage mit der Schilderung ihrer Kindheit. „Es waren wunderbare Zeiten“, sie berichtet vom Haushaltswarengeschäft ihres Vaters, davon, wie ihr Onkel sie und ihre vielen Cousins und Cousinen mit dem Pferdewagen abholte, damit sie auf dem Bauernhof spielen konnte. Sie spricht über ihre Mutter Rosa, über ihre älteren Schwestern Ilona und Magda – nur sie und ihre Schwester haben den Holocaust überlebt. Frau Zahavi hat mehr als 100 Verwandte verloren.

Sie war 15 Jahre alt, als die Deportationen der jüdischen Bevölkerung von Ungarn begann. Ihr Schwager und ihr Vater waren da bereits verschleppt worden. Ausführlich berichtet sie, wie schon vorher der Hass auf die Jüdinnen und Juden grassierte, wie sie in der Schule angespuckt wurde, die damalige Zeit beschreibt sie als „Spießrutenlauf“, auf dem Abschlussfoto der Schule habe sie versucht, den gelben Stern zu verbergen, den sie tragen mussten. Sie schildert, wie sie ins Ghetto getrieben und von dort in die Viehwaggons gestoßen wurden. So viele Menschen wie möglich stopften die Nazis in die Waggons, die mehrtägige Fahrt, die nur unterbrochen wurde, um die Leichen ohne Respekt raus zuwerfen: „Wir fühlten uns wie Tiere, wir wurden schlimmer behandelt wie Tiere“. Weinend berichtet sie von der Ankunft in Auschwitz Birkenau, wie sie über Leichen aus dem Zug getrieben wurden, voller Angst, was nun mit ihnen geschehe. Dann wechselt die Sprache ihrer Aussage, die sie in englisch hält, ins deutsche: „Macht schnell!“. Es sind die Kommandos der SS-Männer, kalt, beißend, gellend, die sich in dieser Sprache über Jahrzehnte eingebrannt haben und sofort präsent sind, wie das Bellen und Kläffen der Hunde. Dies war schon bei den vorherigen Aussagen eines Zeugen der Fall, als er in seiner englischen Aussage einen Satz auf deutsch sagte, der ihm bis heute in Erinnerung geblieben ist und den er damals im Radio hörte: „Die Juden müssen ausgerottet werden!“. Es sind einzig Kommandos, Schikanen, Vernichtungspläne, die sie mit der deutschen Sprache verbinden. Es sind die Namen der Konzentrationslager, die sie in der Auflistung von deutschen Orten benennen. Das sind Momente, die kein Geschichtsbuch, keine Dokumentation über den Massenmord an den Juden je so vermitteln könnte. Frau Zahavi berichtet über ihre Konfrontation mit den vier oder fünf SS–Männern an der Rampe, die aggressiv und schreiend auftraten. Dann hebt sie ihre Stimme und spricht den Angeklagten direkt an: „Wie Sie“. Sie schildert die Selektion, sie konnte sich nicht von ihrer Mutter und Tante verabschieden, sie wurde mit ihrer Schwester nach rechts geschickt. Ihre Mutter und ihre Tante wurden direkt in die Gaskammern geführt.

Sie mussten Beschäftigungsappelle durchführen, sie hatte kaum noch Kraft und war sehr dünn. Josef Mengele schickte sie in Block 8 des Lagers, wo nur Kinder waren. Von dort aber rannte sie heimlich zur Baracke ihrer Schwester zurück. Block 8 war am nächsten Tag leer, alle Kinder tot. Mit ihrer Schwester kam sie in ein Nebenlager von Dachau, von dort nach Bergen–Belsen. Dort wurde sie 1945 von den britischen Streitkräften befreit, aber ihre Schwester Ilona starb kurz davor an Typhus.

Während ihrer gesamten Ausführungen ringt Frau Zahavi um Fassung, die Tränen hält sie schon seit Beginn nicht mehr zurück, ihre Stimme bricht mehrmals, wenn sie über die Schrecken berichtet. Am Ende ihrer Aussage erhebt sie ihre Stimme, richtet ihre Worte direkt an den Angeklagten: „Herr Gröning, Sie haben gesagt, dass Sie sich moralisch schuldig fühlen, aber das reicht nicht. Sie sind damals freiwillig Mitglied der SS geworden. Sie wussten, was in Auschwitz passiert. Ich hoffe, dass die Bilder Sie für den Rest Ihres Lebens verfolgen werden. Sie durften in Freiheit alt werden. Meine Eltern durften das nicht. Sie waren nicht bei meiner Hochzeit, meine Kinder haben ihre Großeltern nie kennengelernt. Sie tragen die Last, die Sie sich selbst aufgeladen haben, als Sie Teil des Horrors wurden, den meine Familie und so viele andere Menschen ertragen mussten. Ich werde niemals vergessen oder vergeben.“ Ihre Worte, die von all der Trauer, ihrem Schmerz und vor allem ihrer Wut getragen werden, beenden ihre Aussage und lassen uns alle sprachlos zurück, voller Respekt vor der Stärke dieser Frau und der Wucht dieses Momentes: „ Auch wenn ich überlebte: Ich war nie so frei wie Sie, Herr Gröning. Ich bin mit 86 Jahren von Kanada hierher gekommen, weil es das Letzte ist, was ich tun kann für meine getötete Familie und für alle, die in den Lagern gestorben sind.“

Richter Kompisch machte nach dieser für alle Beteiligten emotional sehr bewegenden Aussage den Vorschlag einer ca. 10 minütigen Pause. RA Holtermann beriet sich mit seinem Mandanten Gröning und sagte, dass Herr Gröning noch belastbar sei und daher eine weitergehende Zeugenaussage stattfinden könne (!).

Als nächster Zeuge der Nebenklage sprach Imre Lebovitz aus Budapest. Er ist 86 Jahre alt und hat als 15 Jähriger die Deportationen der jüdischen Bevölkerung Ungarns erlebt. Er berichtet von der antisemitischen Hetze und Anfeindungen schon vor dem Terror der Nazis, dieser gipfelte dann in dem systematischen Morden. Er erzählte von einer Ziegelei in der Nähe des Ghettos. Die Bevölkerung hat versucht, “reiche” Juden ausfindig zu machen und diese wurden dann dorthin verschleppt, wo sie von der Gestapo zum Zweck der Geldbeschaffung gefoltert wurden. Als ironisch merkte er an, dass sein Vater “zum Glück” das eigene Geld schnell verloren hatte und somit nichts davon in die Hände der Gestapo fiel. Er schilderte, wie er durch puren Zufall nicht nach Auschwitz kam. Einige Tage vor der Deportation seiner Familie sei er von einem SS-Hauptsturmführer zurückgestellt worden, um einen sogenannten Sanitätsdienst in einem Krankenlager zu verrichten. Die kranken Menschen sind jedoch nicht wirklich medizinisch versorgt worden, sondern meistens gestorben. „Ich war später auch in einem Lager, ich habe auch gelitten, aber Auschwitz-Birkenau war eine ganz andere Sache.“ Er hat mit den Überlebenden von dort gesprochen. Als seine Familie in den Zug steigen musste, hat ein Richter eine fürchterliche Rede gehalten, an die er sich bis heute erinnert: „Auf Wiedersehen als Dünger“ sagte dieser. Imre Lebovitz hatte zuvor 80 Verwandte. Nur 15 haben den Holocaust überlebt.

Nach der Aussage von Imre Lebovitz hielt sein Anwalt eine Stellungnahme. Durch diese teilte er mit, dass viele Nebenkläger aus Ungarn sich nicht trauen zum Prozess zu erscheinen. Sie fürchten sich vor den Reaktionen, wenn dies dort bekannt wird. „Viele in Ungarn lebende Jüdinnen und Juden fühlen sich in ihrem Land nicht wohl“, verlas der Anwalt. Eine Verantwortung für die Ermordung der ungarischen Juden wird negiert, der Antisemitismus herrscht in Ungarn weiterhin vor und wird in weiten Teilen der Gesellschaft nicht geächtet. Seine Mandanten sind froh, dass dieser Prozess in Lüneburg stattfindet. Sie wünschten sich, auch in Ungarn wäre so etwas möglich. Einige Informationen zur Situation des Antisemitismus in Ungarn sind in diesen Artikeln aufgezeigt (von 2009 bis aktuell):

www.welt.de/kultur/article5240553/In-Ungarn-muessen-sich-Juden-wieder-fuerchten.html

www.hagalil.com/archiv/2011/06/21/antisemitism-in-hungary/

www.faz.net/aktuell/politik/ausland/antisemitismus-in-ungarn-ernste-reden-und-voelkisches-spiel-11982161.html

www.hagalil.com/archiv/2014/04/03/ungarn-23/

http://hungarianfreepress.com/2015/04/01/half-of-budapest-residents-are-anti-semites-the-dramatic-spread-of-hungarian-antisemitism

Als vierter und letzter Zeuge der Nebenklage sprach am Dienstag der 83jährige Ivor Perl aus London. Er war zwölf Jahre alt, als er und seine Familie nach Auschwitz deportiert wurden. Er begann seine Aussage mit seiner Kindheit in Ungarn. Seine Familie war sehr religiös, er hatte acht Geschwister. Seine Erinnerungen bezeichnete er als die an „ein normales, glückliches Leben.“ Dann führt er aus, was ein „normales“ Leben in diesen Zeiten beinhaltete: der tägliche Schulweg war für sie als Kinder geprägt von Anfeindungen, sie wurden bespuckt und schikaniert, weitere Erlasse erfolgten, die die bürgerlichen Rechte, das gesamte gesellschaftliche Leben der jüdischen Bevölkerung Ungarns immer mehr einschränkten, schließlich wurden sie in ein Ghetto gepfercht. Als ihnen dort berichtet wurde, dass sie ans Grenzgebiet gefahren werden, um dort Farmland zu erhalten, sagte Herr Perl: “ wir dachten, alles besser als das Ghetto.“ Aber wie schon weitere Zeugen vor ihm berichtet auch er davon, wie ihnen falsche Visionen von einer Zukunft auf Farmland gemacht wurden: „Das wurde von ungarischen Faschisten verbreitet. Die ganze Täuschung war perfekt“.

Er beschreibt den Transport in den Viehwaggons, als sie völlig entkräftet in Auschwitz Birkenau ankamen, riefen ihm andere Juden zu, die Gleis arbeitet mussten: “Spart euch kein Essen auf! Alle Kinder müssen sagen, dass sie 16 sind!“ Er verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. An der Rampe sah er noch einmal seine Mutter, wollte bei ihr bleiben. Sie schickte ihn jedoch zu seinem Bruder. Herr Perl sagte: „Ich gehorchte. Sonst wäre ich heute nicht mehr am Leben.“ Er sah, wie die Alten und Schwachen auf die eine Seite geschickt wurden, die Kräftigeren auf die andere. Er gab sich als 16jähriger aus und überlebte. Er erinnert sich an die Ansprache, die ihnen gleich zu Beginn im Lager entgegen geschmettert wurde: „Ihr seid jetzt in Auschwitz. Ihr bekommt eine Nummer. Vergesst die nie, sonst existiert ihr nicht mehr.” Herr Perl berichtet davon, wie er mehrfach tätowiert werden sollte und es nicht dazu kam; die Tinte war leer, als er an der Reihe war; ein weiteres mal wurde die Aktion von Luftangriffen gestoppt, dann wurde er in ein anderes Lager verschleppt. Er führt dazu aus: „Ich hatte in den vergangenen Jahren das Gefühl, ich müsste mir die Nummer noch tätowieren lassen, weil ich doch mit so vielen das Leid teilte.” Abschließend spricht der Zeuge den Angeklagten direkt an: „Weißt du Oskar, ich möchte dich nicht Herr nennen. Als ich gefragt wurde, ob ich als Zeuge aussagen möchte, da sagte ich: Ich mache das nicht. Ich hatte Angst davor, hierher zu kommen, und dich anzusehen. Nun sitze ich hier und ich sehe jemanden, der mir leid tut. Es tut mir auch leid, dass ich Angst hatte, dass ich mir Sorgen gemacht habe, dass ich Energie verschwendet habe. Dass ich wegen dir schlaflose Nächte hatte. Ich bin aber auch und vor allem hier, wegen der Verleugnung des Holocausts. Wie können ganze Länder so etwas tun? Ich hoffe, dass dieser Prozess hier das Ganze etwas erträglicher macht.“

Von dem Angeklagten erfolgte keine für uns sichtbare Reaktion.

Hier ein Video von Ivor Perl vom 13.05.2015:

www.bbc.com/news/world-europe-32712172

Hier einige Artikel zum achten Prozesstag:

www.badische-zeitung.de/deutschland-1/auschwitz-ueberlebende-zahavi-klagt-frueheren-ss-mann-groening-an–104745263.html

www.sueddeutsche.de/politik/auschwitz-prozess-in-lueneburg-die-ss-maenner-entschieden-wer-lebte-oder-starb-1.2476682

www.dailymail.co.uk/news/article-3079413/Holocaust-survivor-tells-bookkeeper-Auschwitz-hopes-images-saw-stay-rest-days-tells-trial-watched-parents-sent-deaths.html?ITO=1490&ns_mchannel=rss&ns_campaign=1490

Mittwoch, 13.05.2015 – Tag 9

Am Mittwoch erhielten wiederholt 60 Besucher*innen Einlass zum Prozess, 20 weitere Wartenden erhielten keinen Zugang mehr. Die Presse war mit mehr Vertreter*innen (ca. 25) anwesend als an den vorherigen Tagen.

Der Tag begann mit dem Verlesen von Dokumenten durch Richter Kompisch. Es handelte sich um diverse Dokumente, die bereits in den vergangenen Verhandlungstagen Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen Richter, Staatsanwalt, den Verteidigern, den Anwälten der Nebenklage und Sachverständigen waren. Es handelte sich hierbei unter anderem um das Dienstzeugnis, dass Gröning „Fleiß und Sorgfalt“ bescheinigte sowie, dass er „weltanschaulich gefestigt“ sei. Richter Kompisch verlas daraufhin Teile der Personalliste der SS-Standhauptverwaltung Auschwitz, in der Oskar Gröning mit „abkömmlich“ vermerkt war. Zum Schluss las er dann Dokumente zu Grönings Hochzeitsgesuch an das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS vor. Der Sachverständige Herr Bajohr, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Holocaustgeschichte in München, hatte kürzlich u.a. diese Dokumente interpretiert in Bezug auf Grönings damalige Versetzungsoption. Es wurden noch weitere Dokumente verlesen, aber von keiner Seite diskutiert, vielmehr handelte es sich um einen formalen strafprozessualen Akt der Verlesung von Dokumenten im Rahmen der Beweisaufnahme. RA Nestler, Vertreter der Nebenklage, verweist u. a. auf das Dokument des Staatsanwaltes Galm von 2005, in dem er die Nicht–Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen Herrn Gröning begründet. Auch dieses Dokument wird in Kürze verlesen, wenn es den Dolmetschern vorliegt (es wird durchgehend eine Simultanübersetzung in deutsch, englisch, ungarisch und hebräisch gewährleistet). So werden also in den nächsten Sitzungen noch weitere Dokumente verlesen, die im Prozessverlauf eine Rolle spielten oder spielen werden.

Der Vorsitzende Richter Kompisch fragte zudem den Angeklagten, ob dieser sich nach den diversen Zeug*innenaussagen der letzten Zeit in irgendeiner Form äußern wolle. Dies verneinte RA Holtermann nach Rücksprache mit seinem Mandanten für den heutigen Tag, allerdings kündigte er an, dass der Angeklagte sich demnächst ergänzend äußern wolle.

Um 11:00 Uhr ging der Prozess weiter, als Zeugin war die 86jährige Susan Pollack geladen, sie kam direkt von ihrem Wohnort London nach Lüneburg. Sie begann ihre Aussage mit den Berichten über die Verschleppung ihres Vaters in ein Internierungslager, sie sah ihn nie wieder.

Sie erzählte von der Deportation ihrer Familie ins Ghetto. Sie mussten ganz schnell packen und das Haus verlassen, es lief alles sehr überstürzt ab. Sie nahm eine Singer-Nähmaschine mit, da sie damals glaubte, damit etwas Sinnvolles vollbringen zu können, bis sie irgendwann in Viehwaggons getrieben wurden. Frau Pollack sagte, dass sie bis dahin noch dem Glauben auferlegen war, es handele sich um eine Umsiedlung. Ab dem Moment in den Viehwaggons wusste sie, dass es etwas ganz anderes war. Nach Tagen kam der Zug in Auschwitz an, überall hörte sie deutsche Kommandos, die sie dann auch auf deutsch im Gericht vortrug: „Los! Hier hin! Komm her!“ Sie hatte große Angst, sie wurden gedrängt und auseinandergerissen, ihre Mutter auf die eine Seite, sie uns ihr Bruder auf die andere Seite.

Sie kam in eine Baracke, in der sie nicht arbeiten musste, aber tägliche stundenlange Appelle vollziehen musste, sie mussten vor Mengele auf und ab gehen. Auch seine Befehle trug sie auf deutsch vor:“ Du da lang – Du da lang!“ .

Sie verlor massiv an Gewicht, alle hungerten und sie machten in ihrer Baracke Fantasiespiele, in denen sie sich morgens aufzählten, was sie zum Frühstück essen werden – ein Ei, ein Brötchen,…

Mit dem weiter schreitenden Gewichtsverlust sanken auch ihre kognitiven Fähigkeiten, ebenso die emotionalen: als sie erfuhr, dass ihre Mutter direkt nach der Selektion an der Rampe ermordet wurde, konnte sie nicht weinen, spürte keine Gefühle mehr: „Wir wurden entmenschlicht“.

Sie wurde dann in ein Arbeitslager nach Guben verschleppt, dort hat sie ein wenig mehr zu Essen gehabt, denn „wir sollten ja arbeiten“. Ende 1944 wurde sie von dort auf den Todesmarsch nach Bergen Belsen geschickt. Sie kann nicht mehr genau beziffern, wie viele sie waren, sie durften nicht anhalten, sich nicht helfen, sie hatte keinen Überblick über die Zahl. Aber es ist nur ein Bruchteil derer angekommen, die zuvor auf den Todesmarsch geschickt wurden.

In Bergen Belsen ist sie schockiert von den Geschehnissen, von dem Leid und Tod, das sie sieht: überall lagen Leichen, es grassierten Krankheiten. Sie war vollkommen entkräftet und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie traf in Bergen Belsen eine Frau aus ihrem ehemaligen Ort in Ungarn. Sie war einmal eine stattliche Frau gewesen, nun erkannte sie sie kaum wieder. Aber diese Frau sprach ihr Mut zu, sie müsse durchhalten, es sei bald vorbei. Am nächsten Morgen lag die Frau tot in der Baracke.

Dann kam die Befreiung durch die britischen Streitkräfte, aber Frau Pollack schildert, wie sie nicht in der Lage war, dies zu realisieren, sie konnte keine Freude spüren, war vollkommen entkräftet und kroch mit letzter Kraft aus der Baracke, sie wollte draußen sterben. Dort lagen überall Leichen. Sie selbst versuchte nach draußen zu kriechen, gehen konnte sie nicht mehr. Zu ihrem Glück sahen die Briten ihre Versuche, sich zu bewegen und riefen: „Dort drüben, sie bewegt sich noch, sie lebt noch!“ Sie wurde medizinisch behandelt und erholte sich körperlich.

Frau Pollack verlor über 50 Familienangehörige durch den Holocaust, nur sie und ihr Bruder überlebten. Sie ging nach dem Krieg zunächst nach Schweden, dann nach Kanada und gemeinsam mit ihrem Mann, der die Befreiung vom Nazi–Terror als Häftling im KZ Mauthausen erlebte, nach London, wo sie Kinder bekommen hat. Frau Pollack berichtet, dass sie aufgrund der Erlebnisse während der Nazizeit keine Bildung in ihrer Jugend erleben konnte, keine Schule, keinen Beruf. Vor allem durch die Trauma in den KZ und die ihr widerfahrene Entmenschlichung hatte sie kein Selbstwertgefühl mehr. Dies baute sie sich nun wieder auf. Sie arbeitete, ging zur Abendschule und holte ihren Abschluss nach, sie studierte und arbeitete in der Seelsorge und in einem Hospiz. Diese Tätigkeiten bezeichnete sie als ihre Therapie: „Es war toll, für andere etwas zu tun. Das war meine Therapie. Es ist mir wichtig, Teil einer guten Gesellschaft zu sein in einer neuen Welt.“ Erst 20 Jahre nach dem Kriegsende erfuhr sie, dass ihr Bruder überlebt hatte. Sie suchte ihn auf und sie war erschüttert über seinen Zustand: Er erzählte ihr, dass er im Sonderkommando in Auschwitz die Leichen aus den Gaskammern in die Krematorien verbringen musste:„Er erzählte mir, dass er immer nur hoffte, dass niemand aus unserer Familie dabei ist. “ Er war psychisch vollkommen am Ende. Frau Pollack berichtet, dass sie versuchten, ihm eine psychologische Behandlung zukommen zu lassen, damit er wieder gesundet, aber er ist daran zerbrochen. Hier einige Informationen zu den Sonderkommandos in Auschwitz:

www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/user_upload/uploadsFBI/pdfDateien/dossier-01_renz.pdf

www.welt.de/kultur/article1593535/Leichen-verscharren-in-der-Hoelle-von-Auschwitz.html

Audio: http://auschwitzundich.ard.de/auschwitz_und_ich/geschichte/zitate-Hoess-Venezia-Auschwitz,auschwitzcollage100.html

Frau Pollack engagiert sich in England, sie berichtet seit über 25 Jahren in Schulen über ihre Erlebnisse in Auschwitz und Bergen – Belsen, sie sieht es als eine Arbeit für eine bessere Zukunft, eine Gesellschaft ohne Rassismus: „Um dieses Gift aus der Gesellschaft auszutreiben. Das Gift des Rassismus, es frisst unser Leben auf. Ich bin sehr dankbar, dass ich heute hier bin. Wir müssen die Erinnerung lebendig halten. Wir dürfen niemals vergessen!“

Hier einige Videos und Artikel zum neunten Prozesstag:

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Auschwitz-Prozess-Ich-wurde-entmenschlicht,auschwitz400.html

www.theguardian.com/world/2015/may/13/oskar-groning-trial-british-auschwitz-survivor-susan-pollack

www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/germany/11562318/British-Auschwitz-survivor-preparing-to-testify-at-trial-of-Oskar-Groening.html

http://www.landeszeitung.de/blog/aktuelles/234875-internationale-presse-im-gericht

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen