Tag 11

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf der letzten Verhandlungswoche informieren.

Vorab einige Hinweise:

1. Wie die meisten von Euch mitbekommen haben werden, ist nicht nur der Verhandlungstag am 03.06.2015 ausgefallen, sondern sind auch die für nächste Woche geplanten Termine (09.06. und 10.06.2015) ausgesetzt. Grund hierfür ist, dass abgeklärt werden muss, ob die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten gegeben ist:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13828&article_id=134246&_psmand=56

Letztlich haben wir dieselbe Situation, wie schon bei den vorherigen Unterbrechungen. Aus strafprozessualer Ablaufsicht ergeben sich daraus drei Möglichkeiten: Bei einer Dauer von bis zu drei Wochen kann das Gericht den Prozess ohne größere Folgen vorübergehend unterbrechen. Dauert die Unterbrechung länger, so müsse alles von vorn beginnen. Sollte eine dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten festgestellt werden, würde eine Einstellung des Verfahrens erfolgen. Wir gehen aktuell davon aus, dass der Prozess wie in der Pressemitteilung des Landgerichts geschildert, am 17.06.2015 mit der Anhörung des Historikers Herrn Hördler als Sachverständigen fortgesetzt wird. Da es jedoch nie vollkommen sicherzustellen ist, wie sich die einzelnen Tage entwickeln, hier unsere Bitte, vorher einen Blick auf die aktuellen Pressemitteilungen des Landgerichts zu werfen, solltet ihr vorhaben, einen Verhandlungstermin zu besuchen:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13820&_psmand=56

Auf der linken Seite stehen dann die jeweils aktuellen Pressemitteilungen.

Die aktuelle Auseinandersetzung bzw. ständigen Unterbrechungen aufgrund der Abklärung der Verhandlungsfähigkeit wirft erneut den Fokus auf die Ursache, warum die Angeklagten potentiell als nicht mehr verhandlungsfähig eingestuft werden und leitet über zu unserem zweiten Hinweis:

2. Die Tatsache, warum dieser Prozess erst jetzt und nicht schon vor 10, 20, 30, 50 etc. Jahren erfolgt, findet ihre Begründung in der Tätigkeit bzw. eher Untätigkeit der deutschen Justiz; eine konsequente Strafverfolgung von NS–Tätern fand nicht statt. Zurückzuführen ist dies u. a. darauf, dass der justizielle Sektor in Nachkriegsdeutschland als befangen zu bezeichnen ist, da dort selbst NS-belastete Personen an entscheidender Stelle wirkten, saßen, richteten. Die personellen Kontinuitäten von NS-Justiz zu BRD-Justiz wurden nun in Bezug auf das Landgericht Lüneburg von der VVN / BdA Lüneburg anhand der Prozesse gegen Kommunistinnen und Kommunisten in Lüneburg aufgearbeitet und in Form einer Broschüre unter folgendem Titel veröffentlicht:

Das Landgericht Lüneburg als „Spitze der justizförmigen Kommunistenverfolgung“ der 1950er / 60er Jahre – Teil I: Das Personal“. Untertitel: „Nichts verlernt – Die zweite Karriere ehemaliger NS – Richter und Staatsanwälte bei der 4. Strafkammer“. Für 3€ ist die Broschüre im „Avenir“ in der Lüneburger Katzenstraße 2 (Heinrich–Böll–Haus) erhältlich, ebenso kann sie für 5€ direkt bei der Lüneburger VVN / BdA bestellt werden: vvn-bda-lg@web.de. Die Homepage: www.vvn-bda-lg.de.

3. Das Thema der Untätigkeit der deutschen Justiz in Bezug auf die Strafverfolgung von NS – Tätern verweist auf eine aktuelle Meldung aus Hamburg: da der in Hamburg-Volksdorf lebende Gerhard Sommer aufgrund einer Demenzerkrankung als nicht verhandlungsfähig eingestuft wird, sieht es aktuell so aus, dass es zu keinem Prozess in Deutschland gegen ihn kommen wird (www.taz.de/!5201482/). Andere waren da tätiger: Er wurde in Italien bereits vor 10 Jahren vom italienischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt, da er als Kompaniechef an dem Massaker von Sant’Anna di Stazzema beteiligt war, bei dem am 12. August 1944 in dem italienischen Dorf 560 Menschen von einer SS-Einheit ermordet wurden: www.akweb.de/ak_s/ak500/09.htm

www.tagblatt.de/Home/nachrichten/ueberregional/baden-wuerttemberg_artikel,-Kultusminister-kritisiert-an-Gedenkstaette-fuer-NS-Massaker-in-Italien-das-Versagen-der-Justiz-_arid,304793.html

Das Simon Wiesenthal Center hat in ihrer Kampagne „Operation Last Chance“ zum Aufspüren und Vor Gericht stellen von ehemaligen NS–Tätern Gerhard Sommer sowie Vladimir Katriuk (in Kanada lebend) als zwei der 10 meist gesuchten NS Täter genannt, dies bereits seit über einem Jahrzehnt. Vladimir Katriuk ist diese Woche verstorben, Gerhard Sommer für verhandlungsunfähig erklärt worden. Die vom Simon Wiesenthal Center erwünschte „Operation Last Chance“, die letzte Chance also, NS Täter vor Gericht zu stellen, wird durch die Verschleppungs- und Verweigerungshaltung der deutschen Justiz verwehrt. Im Fall von Gerhard Sommer heißt dies in Bezug auf die vergangenen Jahre bzw. Jahrzehnte: Keine Auslieferung an Italien, keine Umwandlung der Strafe in Deutschland, kein Prozess in Deutschland. Eine Auflistung der aktuellen Situation der noch lebenden NS Täter bietet dieser Artikel:

www.thedailybeast.com/articles/2015/05/30/demented-dying-but-on-trial-the-last-nazis-reveal-their-true-evil.html

Doch dürfen wir den Fokus nicht allein auf die Untätigkeit der deutschen Justiz belassen, sondern auch die jeweiligen Bundesregierungen und entsprechend des deutschen Staates stellen über Jahrzehnte eine schier beschämende Haltung in Bezug auf Entschädigungen von NS Opfern dar. Mit dem Verweis auf eine aktuelle Sendung bzgl. der Haltung zu Entschädigungen durch die BRD und den bis heute zynischen Äußerungen des deutschen Staates gegenüber NS Opfern enden wir hier mit unseren Vorab–Infos: www.youtube.com/watch?v=DqQphIkhbz0 (ab ca. Minute 40:00).

02.06.2015 – Tag 11

Am heutigen Verhandlungstag sagte Angela Orosz Richt als Zeugin der Nebenklage aus. Sie ist 70 Jahre alt und wurde in Auschwitz geboren, einen Monat vor der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Gleich zu Beginn ihrer Aussage erläuterte Frau Orosz Richt ihre Beweggründe, warum sie heute hier ist. Ihr Anwalt, Herr Rothmann habe ihr im Januar, als sie in Auschwitz an dem Gedenken und der Feier anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung teilnahm, von dem anstehenden Prozess berichtet. Sie habe zunächst gar nicht kommen, nicht aussagen wollen. Als sie jedoch die Berichterstattung in den Medien verfolgte, hat sie sich entschlossen, doch zu kommen. Ihre Motivation und ihren Standpunkt macht sie gleich zu Beginn ihrer Aussage deutlich und spricht den Angeklagten persönlich an: „Ich überlebte nur aus einem Grund: Ich habe eine Mission. Ich muss sprechen für die, die nicht mehr sprechen können. Ich muss die Geschichte meiner Mutter und der ermordeten Juden erzählen. Ich stehe hier und will meinen anklagenden Finger gegen die erheben, die verantwortlich sind für die Unmenschlichkeit, in die ich hinein geboren wurde. Gegen solche, die bei diesem Terror geholfen, zugesehen und profitiert haben. Menschen wie Sie, Herr Gröning.“

Sie zieht Parallelen zu heute, indem sie feststellt, dass Europa wieder zu einem gefährlichen Ort für Juden geworden ist. Als all dies schreckliche vor 70 Jahren geschah, hat die Welt geschwiegen. Sie hat Sorge um ihre Kinder, Enkelkinder und Urenkel. Der Antisemitismus verbreitet sich wieder über die ganze Welt und tritt offen zu Tage. Und die Welt schweigt wieder.

Sie hat heute ihren Enkel in den Prozess nach Lüneburg mitgebracht, damit er später einmal seiner Familie über den Horror des Holocaust berichten kann. Den Bezug von der Vergangenheit zur Gegenwart zieht sie mehrfach und macht deutlich, wie wichtig es heute ist, die Schrecken des Geschehenen zu kennen und wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt. Dies haben wir durch die Aussagen der vorherigen Nebenkläger*innen bereits auf unterschiedlichen Ebenen erlebt und Frau Orosz Richt nennt Beispiele, wie sich nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Narben, die Traumata im Alltag ihrer Mutter auswirkten: Ihre Mutter hat nach Auschwitz nie wieder eine Dusche benutzen können, da sie Panik davor hatte, dass daraus kein Wasser kommt. Sie verband mit einem Duschkopf immer die Täuschung der Nazis mit dem Ziel, alle Juden umzubringen, zu vernichten. So hat ihre Mutter immer gebadet und sich gewaschen, niemals mehr hat sie sich unter eine Dusche getraut. Ebenso konnte sie keinen Tunnel mehr betreten, da zu Kriegsende, als die Rote Armee immer näher rückte und die Nazis die Spuren ihrer Gräuel vertuschen wollten, ihre Mutter mit vielen anderen in einen Tunnel gejagt wurde und ihnen gesagt wurde, dieser werde nun gesprengt. Dazu kam es nicht mehr, aber einen Tunnel konnte ihre Mutter seitdem nicht mehr betreten, so fest haben die schrecklichen Erlebnisse sich bei ihr eingebrannt und mit traten durch die Verknüpfung zu Gegenständen im Alltag immer wieder hervor.

Frau Orosz Richt berichtet zu Beginn über ihre Eltern und deren Familien. Ihre Mutter kommt aus Budapest und ist in einer gebildeten Familie groß geworden. Sie hat perfekt vier Sprachen beherrscht: Ungarisch, Französisch, Slowakisch und Deutsch. Ihre Eltern heirateten 1943 und hatten ein glückliches Leben, bis 1944 die Wehrmacht in Ungarn einmarschierte. Es war der Morgen nach dem Pessach Fest im April, als die ungarische Miliz an die Tür polterte und sie aus dem Haus getrieben und in ein Ghetto verschleppt hat. Dort blieben sie bis zum 22. Mai, dies waren die letzten Tage, die sie zusammen als Familie verbrachten. Dann wurden sie erneut in Viehwaggons getrieben und nach einer dreitägigen Reise erreichten sie die lebende Hölle von Auschwitz.

Und erneut spricht sie den Angeklagten persönlich an: „Ich habe gehört, dass Sie Auschwitz als einen Ort beschrieben haben, wo Ordnung herrschte, Herr Gröning. Für die Juden dort war es das nicht. Es war traumatisierend.“

Die Zeugin spricht in Wir-Form, wenn sie von der Ankunft in Auschwitz, von der Rampe, der Selektion, den Schreien und den Schlägen berichtet: ihre Mutter war im dritten Monat mit ihr schwanger, als sie in Auschwitz ankam. Was man den zigtausenden jüdischen Menschen, was man ihren Eltern, ihrer Mutter angetan hat, das hat man in dem Moment auch ihr angetan und die Folgen der Misshandlungen und Traumatisierungen werden im Laufe ihrer Ausführungen deutlich.

Erneut spricht sie den Angeklagten an: „Es waren SS Männer, ihre Kollegen, Herr Gröning, die von den Wachtürmen aus Maschinengewehren und Scheinwerfer auf uns richteten, die das Chaos beobachteten. Von dort oben, mag der Wahnsinn geordnet ausgesehen haben, aber von unten war es das nicht. Bis zu ihrem Tod hatte meine Mutter Angst vor bellenden Hunden, wegen diesem Tag, diesen Erlebnissen“.

Ihre Eltern wurden beide nach rechts geschickt, also nicht in die Gaskammern. Da ihre Mutter wie auch alle anderen jedoch nicht wusste, was diese Aufteilung zu bedeuten hat, sagte sie Mengele, dass sie schwanger sei, in der Hoffnung, ihr würde Mitgefühl zuteil und sie würde von schweren Situationen verschont. Zu ihrem Glück glaubte ihr Mengele nicht, sondern blaffte sie nur an: „du dumme Gans“ und schickte sie zurück in die rechte Reihe. Auch ihr Vater blieb in der rechten Reihe, aber er überlebte Auschwitz nicht: „Er wurde durch Erschöpfung ermordet. Sie habe ihn gezwungen, bis zum letzten Atemzug zu arbeiten.“

Die Zeugin berichtet von ihrer Mutter, sie beschreibt sie, ihr Aussehen und schaut dabei den Angeklagten an, spricht ihn direkt und persönlich an: „Vielleicht erinnern Sie sich an sie, Herr Gröning. Sie war eine wunderschöne Frau mit hellbraunen Haaren und grün–grauen Augen. Vielleicht haben Sie sie gesehen, wie sie in der Schlange stand, um das Urteil des Todesengels, Dr. Mengele zu erhalten. Ich weiß, dass sie andere in der Schlange dort haben stehen sehen“.

Der Angeklagte zeigt keine Reaktion, keine äußerliche Regung. Aber es sind Momente wie diese, die Einzigartig sind, da sie keine Beweisaufnahme in Form von Sichtung von Dokumenten, Ausführungen von Sachverständigen etc. beinhalten, sondern der Angeklagte konkret mit den Menschen konfrontiert wird, von deren Überleben er während seines Dienstes in Auschwitz nicht ausging. Er wird mit seiner persönlichen Tätigkeit, mit seinen Handlungen und den direkten Auswirkungen auf jene konfrontiert, die nicht mehr da sind: es sind keine Mengenangaben in Zahlen, derer man innerhalb von 24 Stunden 5000 versorgen, also ermorden konnte, wie der Angeklagte sich ausdrückte. Sondern es sind Individuen, jeder einzelne Mensch mit seiner eigenen Geschichte, eigenem Charakter, Gefühlen, Vorlieben, Stärken, Schwächen. Dies zu negieren, sie zu entmenschlichen war der Wille und das Werk der Nazis in Auschwitz und weiteren Vernichtungsstätten. Diesen Menschen statt einer Nummer wieder ihren Namen, ihr Gesicht zu geben und den Angeklagten persönlich mit diesen Menschen zu konfrontieren, auf dessen Vernichtung sein Handeln wissentlich zielte, haben die Zeug*innen der Nebenklage durch ihre Ausführungen geschafft.

Die Klarheit und Deutlichkeit, mit der die Zeugin dem Angeklagten gegenübersteht und ihn anspricht, macht es einem schwer zu glauben, dass ihre Worte nicht zu ihm durchgedrungen seien. Äußerlich regungslos schien es für uns so, als habe er eine Mauer um sich herum geschaffen und die Vehemenz, mit der sie ihn ansprach, mit der Häufigkeit der persönlichen Fragen schien jede persönliche Anrede wie ein Hammerschlag, der nach und nach mit jedem mal ein Stück ab meißelte. Ob er wollte oder nicht, er hatte sich dieser Konfrontation zu stellen und Frau Orosz Richt hat ihm seine Rolle, seine Taten und seine Verantwortung für das Leiden und die Toten vor Augen geführt. Während sie berichtet und vor allem durch die Art, wie sie berichtet, ist es für uns als Zuhörende so, als ob sich ein Bild von der Mutter aufbaut, die Situation, wie sie aus dem Viehtransporter getrieben, angeschrien und getreten wird. Aber es bleibt nicht bei diesem Bild des Chaos an der Rampe, dass sich im Gerichtssaal aufbaut, sondern durch ihre persönliche Ansprache schafft sie es, den Angeklagten in dieses Geschehen zu setzen. Ihn daran zu erinnern, dass er da war, dass er an der Rampe stand: „ Erinnern Sie sich, haben Sie sie gesehen,…?“ Das Geschehene zu beschreiben, die Menschen in diesem Chaos sichtbar zu machen, darauf haben wir bereits verwiesen, gelingt den Zeug*innen durch ihre Aussagen, die wie Farbe wirken, durch die ein zunächst unscharfes Bild Klarheit, an Schärfe und Tiefe erhält. Sie schaffen es aber nicht nur, die Opfer dieses Terrors aufzuzeigen und ihnen ihre Namen und Gesichter, ihre Identitäten zurück zu geben, sie sind keine anonyme Masse. Durch sie werden auch die Täter sichtbar, auch sie sind keine anonyme Masse. Das Bild, was sich uns durch die Ausführungen aufzeigt und im Gerichtssaal greifbar nah ist, das Chaos, die bellenden Hunde, verzweifelte getretene Menschen, Mengele, und schreiende SS Männer, Täter, wie Gröning.

Durch ihre persönliche Anrede setzt sie den Angeklagten in Beziehung zu dem Geschehen, er ist für uns sichtbar mitten in diesem Bild, weil er dort war, weil er Teil dessen war, weil er Täter war. Ob er zu dem Zeitpunkt an der Rampe stand, als ihre Eltern ankamen, kann von den Anwesenden niemand mehr auflösen, aber es waren tausende, die in genau dieser Situation voller Angst dort ankamen, während er an der Rampe stand und dabei half, dass die Vernichtungsmaschinerie geordnet abläuft. Es scheint wie ein Ringen, während der Angeklagte wie so oft bei den bisherigen Ausführungen der Zeug*innen den Anschein machte, als drifte er weg, als sei er nicht anwesend, als ob er sich zurück zieht hinter einen Vorhang, wo ihn das Gesagte nicht erreichen kann, riefen ihre persönlichen Anreden den Angeklagten zurück in das Geschehen. Auch wenn es ihm nicht direkt anzusehen war, aber Sie holte ihn zurück und konfrontierte ihn mit dem Geschehen.

Frau Orosz Richt berichtet weiter darüber, wie es ihrer schwangeren Mutter in Auschwitz erging. Ihr wurde eine Nummer ein tätowiert, seitdem war ihr Name nicht mehr Vera, fortan galt sie nur noch als Nummer „A 60 75“. Sie arbeitete zunächst in dem Effektenlager „Kanada“, wohin die geraubten Gegenstände der Deportierten verbracht wurden. Den Beinamen Kanada erhielt dieses Lager, da mit diesem Land ein Ort voller Reichtum verbunden wurde. Die Aufgabe ihrer Mutter war es, von den Gegenständen, die die Juden aus ihrem Zuhause haben mitnehmen können, nach Wertvollem zu durchsuchen. Erneut die direkte Ansprache: „Das waren die Wertgegenstände, die sie im Anschluss gezählt haben, Herr Gröning. All diese Dinge, die sie gezwungen waren, zurück zu lassen, als sie aus den Zügen getrieben wurden“.

Als ihre Mutter im fünften Monat schwanger war, kam sie zum Dienst im Außenkommando, es war schwere körperliche Arbeit, sie musste Straßenbau und Feldarbeit verrichten. Ihre Mutter berichtete ihr, wie sie Pflanzen gegessen haben und sich gefreut haben, wenn sie Tierfutter gefunden haben. Sie freuten sich darüber, als sei es eine Sachertorte gewesen, dabei war es Tierfutter. Danach wurde sie zum Küchendienst versetzt, dort konnte sie Kartoffelschalen essen und dies hat dazu beigetragen, dass sie und ihr ungeborenes Kind nicht verhungerten. Ihre Mutter hatte täglich jedoch nicht mehr als 400 Kalorien zur Verfügung und war entsprechend abgemagert. Darum war ihre Schwangerschaft nicht sichtbar, aber sie war massiv unterernährt.

Als sie zu einer schweren körperlichen Arbeit eingeteilt werden sollte, offenbarte sie sich der Blockältesten und berichtete ihr, dass sie schwanger ist. Eigentlich hätte diese Information das sofortige Todesurteil bedeutet. Statt dessen kam sie in eine Baracke in Block C, dort sollte sie sich um die Kinder kümmern, vor allem die Zwillingskinder, die von Mengele zu Experimenten missbraucht wurden. Unter ihnen war auch Eva Kor mit ihrer Schwester, Frau Kor hat als erste Nebenklägerin im Lüneburger Prozess eine Erklärung abgegeben.

Ihre Mutter wurde nun auch durch Experimente misshandelt. Sie war bereits im siebten Monat schwanger und wurde ausgewählt für Sterilisierungsexperimente durch Professor Carl Clauberg’s Team. Ihr wurde eine brennende Flüssigkeit in den Gebärmutterhals injiziert und sie beobachteten die Reaktionen. Die Zeugin führt aus: „Direkt hinter dem Gebärmutterhals war der Fötus, das war ich“. Sie beobachteten, wenn sie die Injektion nach links spritzten, bewegte der Fötus sich nach rechts. Wenn sie es nach rechts spritzten, bewegte der Fötus sich nach links. Diese Experimente führten sie mehrfach an ihrer Mutter durch und sind der Grund, warum Frau Orosz Richt keine Geschwister hat, ihre Mutter konnte nie wieder Kinder bekommen.

Als ihre Mutter im achten Monat schwanger war, hat ihr eine Ärztin eine Abtreibung nahe gelegt, da sie vielleicht überleben könne, wenn Mengele einen guten Tag habe und somit nur das Baby stirbt. Sollte er einen schlechten Tag haben, würden beide sterben. Ihre Mutter entschied sich dagegen. Ihre Mutter hat ihr von weiteren Experimenten berichtet, die an Schwangeren bzw. jungen Müttern und ihren Neugeborenen durchgeführt wurden. Einer jungen Mutter haben sie die Brüste abgebunden, um zu beobachten, wie lange das Baby überleben kann, ohne gestillt zu werden. Kurze Zeit später waren beide tot.

Frau Orosz Richt kann den Tag ihrer Geburt nicht genau datieren, ihre Mutter weiß nur, dass es drei Tage, bevor die deutschen Weihnachten feierten, war. Haben sie am 24.12. gefeiert, so ist ihr Geburtsdatum der 21.12. Feierten sie am 25.12., so ist sie am 22.12.1944 geboren. Ihre Mutter hat ihr die Geburt beschrieben. Als sie merkte, dass die Wehen einsetzten, hat sie sich an die Blockälteste gewandt, eine Gefangene aus Tschechoslowakien, deren Vater Arzt war und die ein wenig Erfahrung hatte. Sie besorgte ein Laken, heißes Wasser und eine Schere, ihre Mutter musste auf die dritte Ebene der Stockbetten und hat dort mit Hilfe der Blockältesten ihre Tochter zur Welt gebracht. Diese Tochter, die aussagende Zeugin Frau Orosz Richt, hat nur ein Kilo gewogen und war stark unterernährt und unterentwickelt. Die Tatsache, dass sie so geschwächt war, hat ihr im Nachhinein das Leben gerettet, denn sie war zu schwach zum Schreien. Somit wurde sie nicht entdeckt und konnte versteckt werden. Drei Stunden nach der Geburt musste ihre Mutter raus zum Zählappell, wäre sie nicht anwesend gewesen, hätten sie nach ihr gesucht und das wäre das Ende für sie und ihr Baby gewesen. Es war Ende Dezember, es fror und ihre Mutter hatte nur Fetzen am Leib, sie zitterte vor Kälte, aber in ihr loderte die eine Sache, der eine Gedanke, der sie all das hat durchstehen lassen: „ich habe ein Kind, ich muss es beschützen“.

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit, an diesem Tag ist ein weiteres Kind dort geboren: Gyorgy Faludi. Frau Orosz Richt ist nur Herr Faludi und sie bekannt, die in Auschwitz geboren wurden und überlebten. Sie berichtet von einer engen Bindung von Gyorgy Faludis Mutter und ihrer Mutter. Seine Mutter war auch unterernährt und komplett geschwächt, sie hatte nicht genug Milch, um ihn zu stillen. Die Mutter von Frau Orosz Richt hat beide Babys gestillt und es entwickelte sich eine lange und intensive Freundschaft zwischen den Müttern.

Dann berichtet sie weiter, wie das Leben ihrer Mutter nach der Befreiung verlief und das Überleben von ihr noch nicht gesichert war. Da Frau Orosz Richt sehr unterernährt und klein war, hielten die Menschen ihre Mutter für eine verrückte Frau, die ihren Verstand in Auschwitz verloren habe und die eine Puppe spazieren fährt und vorgibt, dies sei ihr Kind. Frau Orosz Richt war ein sehr krankes Kind und ihre Mutter hat in Budapest – dorthin ist sie nach der Befreiung zurück gekehrt – viele Ärzte aufgesucht, damit sie ihr helfen. Das Baby wog mit einem Jahr nur drei Kilo, niemand hatte die Hoffnung, dass dieses Baby überleben würde. Dann kam sie zu einem Arzt, der sie an den Füßen Kopfüber wie ein Hühnchen hielt und ihrer Mutter sagte, wenn sie den Kopf hebt und diese Reaktion zeigt, dann wird er ihr helfen. Dies ist geschehen und der Arzt hat ihre Mutter und sie über lange Jahre unterstützt, bis ihre Knochen so kräftig waren, dass sie alleine darauf laufen konnte.

Der 02.06., dem Tag, als Frau Orosz Richt im Lüneburger Prozess als Zeugin der Nebenklage ausgesagt hat, ist der Geburtstag ihres Vaters Tibor Bein, der im Alter von 32 in Auschwitz durch Erschöpfung ermordet wurde. Frau Orosz Richt beendete ihre Aussage mit einer erneuten direkten Ansprache des Angeklagten: „Herr Gröning, ich bin sicher, sie suchen das Grab ihrer Frau und ihrer Eltern auf, um ihr Herz aus zuschütten, wenn sie eins haben. Ich kann das nicht tun, ich kann nicht zum Grab meines Vaters gehen und ein Gebet sprechen, denn er hat kein Grab. Sein Leichnam wurde verbrannt und seine Asche um Auschwitz verstreut, vielleicht auf dem Boden des Lagers, vielleicht in den Wald gestreut, vielleicht als Dünger auf die umliegenden Felder verteilt. Auschwitz ist das Grab meines Vaters. Als ich im Januar dieses Jahres in Auschwitz war, lief ich herum wie in Trance, ich hatte Angst bei jedem Schritt, den ich tat, auf ein Grab zu treten. Siebzig Jahre Hitze, Regen und Schnee kann das nicht auslöschen. Nichts kann die Unmenschlichkeit und Alpträume wegwischen, die hier stattfanden.“

Sollte der Angeklagte erneut versuchen, sich dem Gesagten zu entziehen, weg zu dimmen hinter einen Vorhang, einen Schleier des Vergessens, so holt sie ihn zurück und spricht ihn ein letztes mal an. Hierbei schließt sich auch der Kreis zu ihrem Eingangsstatement, dass die Berichterstattung in den Medien sie dazu veranlasst habe, vor dem Gericht auszusagen und sie bezieht Stellung, ihre Haltung zu den vor einigen Wochen in der Presse dominierenden Schlagzeilen um Vergebung.

Frau Orosz Richt ist eine Frau von kleiner Statur, sie ist weniger als 1,50m groß. Während ihrer gesamten Aussage, steht sie im Gericht. Aufrecht, mit einer unglaublichen Kraft, schaut sie den Angeklagten an und spricht ihn ein letztes mal persönlich an:

Wir Juden zelebrieren den Shavout. An diesem Fest sagen wir den Kaddish, das jüdische Totengebet. In meiner Synagoge, siebzig Jahre nach dem Krieg, hört man noch immer das laute bittere Weinen während dieses Gebets. Viele Mitglieder meiner Gemeinde sind ungarische Juden, die den Holocaust überlebt haben. Wir weinen um jene, die Sie uns genommen haben, Herr Gröning. Wir vergessen nicht und wir können auch niemals vergeben. Herr Gröning, wie kann ich jemals vergeben? Wie kann ich jemals vergessen? Auch wenn es so schien, als führe meine Mutter nach dem Krieg ein glückliches Leben und als hätte sie den Horror von Auschwitz in ihren Gedanken verdrängt, kamen die Alpträume zurück, als sie mit 71 Jahren im Sterben lag. Sie sah Mengele im Türrahmen ihres Krankenzimmers stehen. Sie hatte Krebs und bekam Morphium, aber kein Morphium konnte es schaffen, dass er verschwindet. Sie starb am 28. Januar, sie wollte nicht am 27. Januar sterben, da an diesem Tag Auschwitz befreit wurde. Im Gedenken an meinen Vater, den ich niemals kennen gelernt habe und in Gedenken an meine Mutter, die mich geboren hat unter diesen unbeschreibbaren Zuständen, geschlagen von SS Männern, ernährt von weniger als 400 Kalorien am Tag, dafür und für jeden, dessen Mord sie geholfen haben, kann ich Ihnen nicht vergeben, Herr Gröning“. Sie schließt mit den Worten:“ The past ist present“ und dies trifft in vollem Ausmaß zu: Die Vergangenheit ist Gegenwart, das Vergangene ist gegenwärtig.

www.pastispresentauschwitz.com

Die komplette Aussage von Angela Orosz Richt im Wortlaut ist hier nachzulesen:

www.worldjewishcongress.org/en/news/angela-orosz-richt-i-cannot-forgive-you-herr-groening-6-5-2015-6-5-2015

[…]

Im Anschluss an die Aussage von Frau Orosz Richt erfolgten Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft sowie den Anwälten der Nebenklage bezüglich der Anträge der Verteidigung vom vorherigen Verhandlungstag. Zur Erinnerung: Es erfolgte ein Antrag, die an vorherigen Verfahren sowie Prozessen als Ermittelnde (z. B. Oberstaatsanwalt Klein in Frankfurt) oder auch Prozessbeteiligte als Zeugen zu laden, um zu erfahren, welchen Aufklärungsbeitrag der Angeschuldigte durch sein vorheriges Aussageverhalten beitrug, was er aussagte und eventuell den Verbleib und Inhalt der verschwundenen Personalakte (aus Auschwitz) des Angeklagten zu klären. Mehrere der Personen, die als Zeugen zu laden beantragt wurde, sind mittlerweile verstorben.

Der zweite Antrag bezog sich darauf, die bisher erfolgte Aussagewillikgeit des Angeklagten (auch in den Prozessen gegen ehemalige „Kameraden“ Jahrzehnte zuvor) im Falle eines Schuldspruchs als strafmildernd zu berücksichtigen.

In Bezug auf den zweiten Antrag stellte ein Anwalt der Nebenklage hervor, dass als strafmildernd gem. § 46b StGB nur die Aussagen des Angeklagten zu berücksichtigen sind, die er als Beschuldigter tat, also im Frankfurter Ermittlungsverfahren von Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre. Die in den Prozessen gegen ehemalige „Kameraden“ getätigten Aussagen in den Wuppertaler wie auch Duisburger Gerichtsverhandlungen erfolgten Aussagen wurden als Zeuge getätigt und somit findet der §46b StGB keine Anwendung.

Daran schloss sich die Feststellung des Anwalts der Nebenklage Herrn Nestler an, dass der jetzt Angeklagte im Verlauf der verschiedenen Ermittlungen (als Beschuldigter) und Prozesse (als Zeuge) zwar Aussagen über die Struktur, die Arbeitsabläufe, die Tötungsmaschinerie in Auschwitz tätigte, aber in Bezug auf seine persönliche Tätigkeit immer nur soviel preisgab, wie er es zum damaligen Stand als nicht strafbar vermutete. Somit ändern sich auch im Laufe der Jahre seine Angaben in Bezug auf seine Verantwortungs- und Tätigkeitsbereiche. Dies haben wir an verschiedenen Stellen im Verfahren bereits kennen gelernt: wenn ihm eigene Aussagen von früheren Vernehmungen als Beschuldigter und später als Zeuge vorgelegt wurde, die seinen aktuellen widersprechen, rudert er zurück, redet es klein, relativiert, die Erinnerung schwindet,…

Passend dazu hob ein Anwalt der Nebenklage hervor, wie der nun Angeklagte sich in den 1980er Jahren im Gerichtsverfahren gegen Weise (Landgericht Wuppertal) äußerte und sich seine Tätigkeit in der Urteilsbegründung niederschlägt. Der Anwalt zitiert aus der Urteilsbegründung von 1988: „Dies bestätigend und auch im übrigen gleichermaßen offen, wenngleich – was die konkret handelnden SS-Angehörigen anbelangt – zurückhaltend, umschrieb der von September 1942 bis September/Oktober 1944 ständig in der HGV des KL Auschwitz eingesetzte Zeuge H, daß er selbst Selektionen auf der Rampe miterlebt habe, allerdings nur anläßlich der Beaufsichtigung der sogenannten Rampenkommandos, zu deren Bewachung auf der Rampe jeder SS-Angehörige der Gefangeneneigentumsverwaltung herangezogen worden sei.“

Die Zeugen haben in der Urteilsbegründung andere Buchstaben erhalten, daher nicht irritieren lassen. Während Oskar Gröning in Lüneburg angibt, das Gepäck der Deportierten beaufsichtigt zu haben, damit es nicht gestohlen wird, wird aus dem Urteil von Wuppertal deutlich, dass er das gesamte Rampenkommando bewacht hat.

Die gesamte Urteilsbegründung ist öffentlich einsehbar unter:

www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/wuppertal/lg_wuppertal/j1988/25_Ks_130_Js_7_83_Z_29_85_V_Urteil_19880128.html

Die Ausführungen des jetzigen Angeklagten sind unter 4. Beweismittel/Beweiswürdigung c) Frühere SS-Angehörige als Zeugen (Rn. 179ff) nachzulesen.

Ein Artikel zur Verurteilung Weises und der Rolle der Justiz: www.zeit.de/1989/32/endlich-hinter-gittern

Wir hoffen, dass die Verhandlung wie geplant am 17.06.2015 weitergeht, hierzu ist erneut der Historiker Hördler aus Weimar als Sachverständiger geladen. 9:30 Uhr Beginn; 8:30 Uhr Einlass; Empfohlene Uhrzeit, um gesichert Einlass zu erhalten: 7:30 Uhr!

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen