Liebe Freund*innen,
liebe Mitstreiter*innen,
wir möchten Euch auf diesem Wege über die Inhalte des 4. und 5. Prozesstages sowie die weitere Planung der Prozessbegleitung informieren. Vorab einige kurze, uns wichtige Hinweise:
1. Wir werden in Zukunft eine wöchentliche Zusammenfassung der Prozesstage in einer mail versenden. Hintergrund ist, dass wir Euch zum einen nicht mit unseren mails überschütten wollen, zum anderen finden ab dieser Woche wöchentlich zwei Termine statt und unsere bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass die Informationen aus dem einen Tag am zweiten noch vertieft, erneut aufgegriffen und somit besser verständlich / einordnenbar sind. Da wir weiterhin nicht mitschreiben dürfen, sondern im Anschluss unsere Erinnerungen rekonstruieren und zusammenführen, ergänzen, auswerten etc., halten wir eine wöchentliche Zusammenfassung (dennoch in Tage unterteilt) für angemessener. Unser nächstes gemeinsames Treffen, um außerhalb der Prozessbesuche uns zusammen auszutauschen ist am 04.06. um 19:;30 Uhr im Infocafe Anna & Arthur (Katzenstraße2).
2. Der Prozess wird in den Medien (wie auch von uns in den mails / Betreff) als „Auschwitz – Prozess“ bezeichnet. Dies gilt es zu konkretisieren: Der Angeklagte Oskar Gröning tat von 1942 bis 1944 im KZ Auschwitz Dienst, die Anklage bezieht sich allerdings auf die sogenannte „Ungarn–Aktion“, in der zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944, also in 57 Tagen ca. 430.000 Jüdinnen und Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert, direkt an der Rampe „selektiert“ und 300.000 Menschen umgehend in die Gaskammern geschickt, also ermordet wurden. Daher die Anklage auf „Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen“. Für alle, die mehr Hintergrundinformationen über die sog. „Ungarn – Aktion“ erhalten möchten, hat uns eine wache ak-Leserin auf Artikel zu diesem Thema aus der analyse und kritik aus dem Jahre 1994 (!) hingewiesen. Wir haben sie Euch im Anhang mit beigefügt.
ak 365_ Völkermord an Ungarns Juden
ak 366_ Vor 50 Jahren_ Völkermord an Ungarns Juden
3. Die Platzhalter–Aktion pausiert zunächst, dennoch möchten wir Euch einladen, auffordern, diesen Prozess zu besuchen, da die Zeug*innen der Nebenklage eben jene Menschen sind, die den dreitägigen Transport in Viehwaggons aus Ungarn durchlebt und das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben und nach über 70 Jahren vor einem deutschen Gericht über ihre Erinnerungen aussagen.
Auf der Veranstaltung in Uelzen am 27.04.2015, in der Eva Pusztai–Fahidi und Hedy Bohm als Überlebende über ihre Erinnerungen in Auschwitz berichteten, wies Thomas Walther, ein Anwalt, der 31 Nebenkläger*innen im Prozess vertritt, anhand eines Fotos von einer Situation der Selektion in zwei Richtungen an der Rampe in Auschwitz Birkenau darauf hin, dass dieses Foto in schwarz – weiß Optik nur grob die Situation skizziert und wiedergibt. Sobald es jedoch in Farbe dargestellt wird, gibt es dem Bild, dem Geschehen Tiefe und es sind die einzelnen Menschen zu erkennen. Eben jene Farbe verleihen die Berichte der Zeug*innen der Nebenklage dem Geschehenen und es werden einzelne Biographien, Schicksale, der einzelne Mensch hinter der Zahl sichtbar. Diese Beiträge sind sehr wertvoll und wir weisen hiermit auf die Termine mit der Nennung der Nebenkläger*innen hin, jeder Prozesstag ist ein Tag mit Zeitzeug*innen, die berichten:
PS: Die Veranstaltung in Uelzen war mit mehreren hundert Teilnehmenden sehr gut besucht und das minutenlange „standing ovations“ zum Abschluss war sicherlich nicht nur für die anwesenden Überlebenden wichtig, sondern auch für die Besucher*innen eine Möglichkeit, fernab des Gerichtssaals, der durch Regulierungen bestimmt ist, ihren Respekt und ihre Wertschätzung für die Menschen zu zeigen. Besucht diesen Prozess, es ist eine wertvolle Erfahrung! Aufgrund der letzten Tage empfehlen wir, sich um 7:30 Uhr einzufinden, da das öffentliche Interesse gegeben ist und jeden Tag viele Wartende nicht mehr hinein kamen.
4. Auf der Veranstaltung am 27.04.2015 im Uelzener Rathaus hat der Uelzener Bürgermeister Jürgen Markwardt in seiner Einleitung sich nicht nur für die Anwesenheit der Überlebenden und die Möglichkeit, an ihren Ausführungen teilzuhaben bedankt, sondern sein Schlusswort endete mit dem wohlwollenden Bekräftigen und der Freude über die Geste der Vergebung. Peinlich nur, dass Herr Markwardt nach „Günther Jauch“ am Sonntag scheinbar keine Nachrichten mehr verfolgte, denn sonst wäre er darüber informiert gewesen, dass die anwesenden Überlebenden eine andere Haltung dazu vertreten:
www.landeszeitung.de/blog/lokales/230660-der-fall-groening-geste-stoesst-auf-unverstaendnis
www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/auschwitzprozess112.pdf
5. Dieser Prozess ist neben den wichtigen Informationen, die dort zu Tage kommen, auch maßgeblich bestimmt durch Atmosphäre. Diese zeigt sich durch Gesten, Äußerungen, verschiedene Situationen, die berühren oder empören, die aber nicht immer sofort in rationale Worte übermittelbar sind. Zu dieser Atmosphäre gehört auch der Ort des Prozesses. Da es in den Medien immer heißt, dieser Prozess finde am Lüneburger Landgericht statt und auch der Ortswechsel in die Lüneburger Ritterakademie aufgrund mangelnder Raumgröße benannt wird, möchten wir hiermit einen Eindruck übermitteln, wie dieser Raum hergestellt wird:
www.lzplay.de/videos/3134-vom-tanzraum-zum-gerichtssaal-ns-prozess-wird-vorbereitet
Was im Bericht der LZ nicht genannt wird, ist der Fakt, dass der Tanzraum nicht nur zum Gerichtssaal wird, sondern der Gerichtssaal auch immer wieder zum Tanzraum, Eventschuppen, Hochzeitslocation oder was auch immer… Der Vorsitzende Richter Herr Kompisch schloss die Sitzung in der ersten Woche am Mittwoch, den 22.04.2015 bereits am Mittag mit der Begründung, wir enden heute früher, es müsse nun im Anschluss auch gleich umgeräumt werden, da die Räumlichkeit für eine andere Veranstaltung vorbereitet werde. Es handelte sich um eine Abendveranstaltung mit dem Thema: „Guter Sex ist teuer“. Dies wird im Mai, Juni, Juli so weiter gehen, die Örtlichkeit wechselt inhaltlich zwischen Auschwitz Prozess, Tanzparkett, Auschwitz Prozess, Dancefloor, Auschwitz Prozess etc. Dies nur kurz zur Info, damit Ihr eine Vorstellung von den Räumlichkeiten bekommt, die in ihrer Wahl der wechselnden Veranstaltungen für uns doch ein Maß an Pietätlosigkeit und Unwürdigkeit erreicht haben, die wir den wen auch immer zu Verantwortenden nicht zugetraut hätten. Seht selbst: www.die-ritterakademie.de
6. Dieser Prozess stellt nicht nur in seiner juristischen und historischen Dimension eine Besonderheit dar, sondern ist für uns, die wir ihn begleiten, dies im wahrsten Wortsinne: ein Prozess; ein sich täglich, wöchentlich durch viele Eindrücke, Aussagen, Mosaiksteine, Teile zusammensetzendes Bild, das ständig ergänzt, verändert wird und somit nicht fertig ist. Daher werden wir auch erst im Mai eine erste Einschätzung zu Teilbereichen formulieren. Ebenso ist es ein Prozess jeder einzelnen Person, die ihn besucht, denn die Teilnahme an den Ausführungen lässt einen nicht unberührt, jede*r geht bislang verändert aus diesem Prozess heraus.
Nun genug der kurzen Hinweise, die doch nicht so kurz waren, aber uns wichtig, um nicht nur die Fakten des Prozesses zu übermitteln, sondern auch einen kurzen Einblick in die Begleitszenerie, die sich hier abspielt und für uns genauso wichtig ist, um ein Verständnis darüber zu erhalten, was bei uns gerade passiert.
——————————–
Dienstag, 28.04.2015 – Tag 4
Am Vormittag haben die beiden Überlebenden Eva Pusztai–Fahidi und Hedy Bohm als Zeug*innen der Nebenklage ausgesagt.
Eva Pusztai-Fahidi hat durch den Holocaust 49 Familienmitglieder verloren. Sie schildert ausführlich ihre Kindheit, ist sehr behütet ausgewachsen. Niemals hätte sie sich eine solche Hölle vorstellen können. Und sie berichtet, wie schon auf der Veranstaltung in Uelzen am Abend zuvor, dass die Auschwitz-Überlebenden, die im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ deportiert wurden, vor der Selektion an der Rampe, den traumatischen Erlebnissen, das Auseinanderreissen von Familien innerhalb von Sekunden, dem sich nicht verabschieden können, vor all dem steht das einschneidende Trauma des dreitägigen Transports, den alle erlebten. An der Rampe wurde sie vom KZ-Arzt Mengele mit einer Handbewegung auf die eine Seite und ihre Familie auf die andere gewinkt: „Die winzig kleine Gebärde, die Traumata für das Leben bedeutete.“ Damit verlor sie ihre gesamte Familie, die in den Gaskammern umkam. Sie berichtet über die Demütigungen und Schrecken, die sie erfahren hat und mit ansehen musste, so auch die Zerstörung des sogenannten „Zigeunerlagers“ und die Ermordung der Menschen: „Ganz abgemagerte Menschen. Kinder mit riesengroßen Augen, in denen das Entsetzen stand. In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurde das Zigeunerlager ausgerottet. Auf einmal ist es ganz hell geworden. Die SS ist mit Flammenwerfern gekommen. Das kann man ein Leben lang nicht vergessen, wie die Menschen gebrüllt haben.“ Sie überlebte, da sie zur Zwangsarbeit für die Sprengstoffwerke Allendorf und Herrenwald in das KZ-Außenlager Münchmühle des KZ Buchenwald musste. 1945 konnte sie bei einem Todesmarsch entkommen.
Hedy Bohm schilderte ebenfalls sehr ergreifend ihre Lebensgeschichte, in ihrer Kindheit und Jugend behütet und beschützt aufgewachsen, sie kannte keinen Antisemitismus, ihre Eltern hielten schlimme Nachrichten von ihr fern. Bis zu dem Tag, als sie mit ihrer Familie von zu Hause verschleppt, in ein Sammellager eingepfercht und anschließend in den Viehwaggons nach Auschwitz deportiert wurde. Sie schildert die Tortur des Transports, die Ankunft und Selektion an der Rampe, wie sie von ihrer Familie getrennt wurde. Im Gegensatz zu den bisherigen Aussagen der Zeug*innen, hat sie bis zum Schluss daran geglaubt und sich an diesem Glauben festgehalten, dass ihre Familie lebt, hat die vielen Schikanen, Demütigungen und Erniedrigungen ertragen, da sie davon ausging, ihre Mutter sei in der selben Situation und steht dasselbe durch, sodass sie am Ende wieder zusammenfinden. Diese Hoffnung hat sie das Lager durchstehen lassen. In Auschwitz hat sie ihre Tante und ihre Cousine wiedergefunden, gemeinsam wurden sie zur Zwangsarbeit nach Fallersleben (bei Wolfsburg) in die Kriegsproduktion verschleppt, ihre Befreiung erlebte sie 1945 in einem Lager bei Salzwedel. Erst danach erfuhr sie, dass ihre Eltern direkt nach der Ankunft in Auschwitz vergast wurden.
Die Situation an der Rampe, das Ankommen, die Selektion wird von den bisher gehörten Zeug*innen mehrfach als Chaos berichtet, der Angeklagte bezeichnete es in der ersten Prozesswoche als geordnet, alles sei Routine gewesen, es war ja auch ihr Ziel, „Ordnung“ herzustellen, bevor der nächste Transport einfährt, damit die Menschen nicht den kleinsten Hinweis darauf erhalten, was sie erwartet und in Panik verfallen. Wir gehen davon aus, dass beides gleichzeitig vorherrschte, Ordnung und Chaos. Die „Ordnung des Terrors“, wie von Sofsky beschrieben, ein perfekt ausgeklügeltes, durchstrukturiertes und penibel funktionierendes Terrorsystem und auf der anderen Seite das Chaos für die von diesem Terror Betroffenen, auf deren Vernichtung diese Ordnung ausgerichtet war. Dieses Chaos wird in den Erinnerungen der Überlebenden sehr nachvollziehbar geschildert.
Am Vormittag erfolgte ebenso ein Antrag eines Anwalts der Nebenklage, der nicht nur von „Beihilfe zum Mord“ des Angeklagten, sondern von Mittäterschaft ausgeht. Ein zentrales Mordmerkmal ist die Heimtücke. Heimtücke ist die bewusste Ausnutzung der auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit des Opfers durch den Täter, sodass es die Tat weder vorhersehen noch erwarten kann. Der Angeklagte hat in seinen bisherigen Aussagen sehr ausführlich die Wichtigkeit betont, dass an der Rampe nicht der kleinste Hinweis darauf zurückbleibt, was dort zuvor geschehen war. Sein Dienst an der Rampe beinhaltete nicht nur, die geraubte Habe der Deportierten zu bewachen, in die Sammelstelle zu verbringen, sondern auch die Rampe nach zurückgebliebenen Dingen abzusuchen und diese verschwinden zu lassen. Die „Ordnung“ also dadurch wieder herzustellen, indem jedes Indiz auf das vorausgegangene Chaos vertuscht wird. Auch bezeichnete er selbst den Zustand der gerade Angekommenen als unbedarft, vollkommen ahnungslos, unwissend darüber, was nun mit ihnen passiert. Diese Arglosigkeit herzustellen und aufrecht zuhalten, dadurch hat der Angeklagte durch sein Tun aktiv und wissentlich beigetragen. Er wusste seit seinem ersten Tag in Auschwitz, dass die Jüdinnen und Juden dort planmäßig ermordet werden, er wusste, worauf sein Handeln an der Rampe zielte und er wusste, wie wichtig dieses Handeln war, um die Ruhe herzustellen und aufrecht zu halten, die es braucht, um die Opfer vorsätzlich zu täuschen, damit sie nicht in Panik verfallen, sondern „geordnet“ in die Gaskammern geführt werden.
Ebenso wurde von Seiten der Nebenklage darauf verwiesen, dass in Bezug auf die beantragte Anhörung der anderen Zeug*innen vor Ort „abwarten“ nicht der richtige Weg sei, da diese Menschen 70 Jahre darauf gewartet haben, aussagen zu können, Zeugnis ablegen zu können und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht absehbar ist, wie lange sie dies noch können.
Hier einige Artikel zum 4. Tag:
www.welt.de/politik/deutschland/article140238393/Ein-SS-Mann-hatte-mehr-Macht-als-der-Herrgott.html
www.welt.de/politik/deutschland/article140200838/Ich-habe-mir-die-Seele-nicht-nehmen-lassen.html
www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/22160
www.weser-kurier.de/deutschland-welt_artikel,-Ich-kann-nicht-vergeben-niemals-_arid,1112341.html
Nachmittags wurde zum ersten mal der Sachverständige, der Historiker Herr Bajohr aus München vom Institut für Zeitgeschichte / Zentrum für Holocaust – Studien als Gutachter gehört
www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/zentrum-fuer-holocaust-studien
Herr Bajohr hat ausführlich über die „Aktion Reinhardt“ und die „Ungarn Aktion“ referiert. Er stellte hervor, dass es sich bei dem Massenmord eigentlich auch um einen Massenraubmord gehandelt habe und zeigte die Dimensionen des geraubten Geldes, Schmucks und weiterer Wertgegenstände auf, ebenso, wie der Transfers des Raubgutes erfolgte, die Strukturen, Abläufe und Systematiken. Gleichzeitig stellte er den von ihm genannten Begriff des Massenraubmordes als nicht exakt treffend dar, da das Hauptmotiv eines Raubmordes der Raub ist. Das Hauptmotiv der Nazis war jedoch das Morden, die totale Vernichtung der Jüdinnen und Juden. Während der Sachverständige zum einen eine Gesamtübersicht über die Vernichtungsmaschinerie und Finanztransfers anhand der Lagersysteme gab, zeigte er zum anderen auch spezifische Dokumente auf, die direkt Bezug auf den Angeklagten und seine bisherigen Aussagen nahmen. So legte er eine Liste vor (Personalliste der SS Standortverwaltung Auschwitz vom 11.12.1943), auf der in Auschwitz tätige SS Männer bzgl. ihrer „Abkömmlichkeit“ für den „Frontdienst“ bewertet werden. Der Angeklagte wurde als „abkömmlich“ genannt. Daraus zog der Sachverständige den Schluss, dass er versetzt worden wäre, wenn er dies gewollt hätte.
——–
Mittwoch, 29.04.2015 – Tag 5
Der Verhandlungstag begann mit einer Befragung des Historikers Herrn Bajohr zu seinen Ausführungen am Vortage als Sachverständiger. Die Verteidigerin Frau Frangenberg verweist auf ein Dokument, dass den Versetzungswunsch aus Auschwitz des Angeklagten bekräftigen soll. Herr Bajohr hingegen bringt Dokumente in das Verfahren ein, dass allen Beteiligten neu war: Ein Gesuch des Angeklagten vom 12.11.1943 an das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS, in dem er um die Genehmigung zur Hochzeit mit seiner Verlobten bittet, die zuvor mit seinem Bruder verlobt war, der bei Stalingrad gefallen war. Gröning bestätigte bereits in der ersten Verhandlungswoche, dass er gesagt habe, die „Sippe“ müsse fortbestehen. In seinem Gesuch an das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ bezeichnet er sich selbst als „KV“, also kriegsverwendungsfähig. Auf Nachfrage wurde von Seiten der Sachverständigen unmissverständlich deutlich: Wenn der Angeklagte sich selbst (mit der Intention, dass seinem Hochzeitsgesuch zugesprochen wird) als kriegsverwendungsfähig bezeichnet und in einer weiteren Personalliste als „abkömmlich“ bezeichnet wird, gibt es keinen Grund, warum er nicht versetzt wurde. Sie gehen also davon aus, dass kein Versetzungsgesuch (an die Kriegsfront) vorlag, sonst wäre dem stattgegeben worden:
Als erster Zeuge der Nebenklage des fünften Prozesstages spricht Eugene Lebovitz aus Aventura / USA. Er war 15, als er mit seiner Familie 1944 in Ungarn ins Ghetto, eine alte Ziegelei, getrieben wurde. Er berichtet, wie auch schon mehrfach die Zeug*innen vor ihm, wie perfide die Täuschung der Jüdinnen und Juden vorbereitet und durchgeführt wurde, damit sie sich in Arglos- und Ahnungslosigkeit wähnen, die der Angeklagte an der Rampe in Birkenau durch sein Handeln weiterführte: Herr Lebovitz schildert, ihnen wurde von einem Bauernhof berichtet, auf den sie gebracht werden und auf dem sie arbeiten würden. Ein anderer Zeuge gab an, sie haben sogar fingierte Postkarten im Vorfeld erhalten, die ihnen den Aufenthalt anderer jüdischer Familien auf Bauernhöfen vortäuschten, es gehe an die Grenzregion, es gehe zum arbeiten, es seien gute Bedingungen. Auch Eugene Lebovitz spricht von den einschneidenden Erlebnissen des dreitägigen Transports in Viehwaggons, „wo sonst neun Pferde stehen“. „Was für ein Wunder, dass 90 Menschen darin drei Tage und drei Nächte verbringen konnten“. Er wird an der Rampe von seinen Eltern getrennt, Leute zeigten ihm den Rauch: „Da gehen Deine Eltern hin“. Er wurde im KZ beim Telefondienst eingesetzt, da er deutsch sprach, im Januar 1945 wurde er auf den Todesmarsch geschickt, 40 Menschen wurden vor seinen Augen erschossen; er wurde beschossen, als er mit anderen in einen Wald flüchtete und nur gerettet, da er hingefallen war und die Erschossenen auf ihn fielen: „Körper lagen auf mir drauf, ich habe mich ausgegraben“. Von seiner Familie haben er, seine Schwester und zwei Brüder überlebt, 47 Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins sowie seine Eltern wurden ermordet.
Im Anschluss sagt Judith Kalmann aus Toronto / Kanada als Zeugin der Nebenklage aus. Mit ihr spricht zum ersten mal eine Nachgeborene von Auschwitz–Überlebenden vor dem Gericht. Judith Kalmann wurde nach dem Krieg geboren, ihr Vater hat seine Frau und sein Kind, seine ganze Familie in Auschwitz verloren, 84 von 120 Familienangehörigen wurden ermordet.Er wurde zur Zwangsarbeit geschickt und erlebte 1945 die Befreiung. Er heiratete nach dem Krieg erneut und Judith war seine erste Tochter. Sie berichtet sehr einprägsam, wie sehr der Holocaust sich in das Familiengedächtnis eingebrannt hat, auf die Familiengeschichte auswirkt, auf die, die überlebten und auf die, die nach ihnen folgten. Frau Kalmann beschreibt die Auswirkungen der „geerbten Schuld, überlebt zu haben“ und wie sich dieses Trauma in der Folgegeneration niederschlug. Die Zeugin berichtet, dass sie von Geburt an mit dem Wissen aufwuchs, dass ihr Leben, ihre Existenz untrennbar mit dem Tod ihrer Halbschwester verknüpft ist. Diese steht im Zentrum ihres Berichtes: Eva Edith Weinberger, die mit sechs Jahren in Auschwitz an der Rampe selektiert und umgehend vergast wurde. Sie beschreibt ihre Halbschwester, die sie nie persönlich kennen gelernt hat und nur aus den vielen Erzählungen ihres Vaters kennt, ihre Fähigkeiten, ihre Interessen, ihren Charakter; aber auch ihre Ziele, die sie gehabt und erreicht haben könnte und während ihrer gesamten Ausführungen über ihre Halbschwester Eva, genannt Evike, ist ein Foto von der Sechsjährigen auf der Leinwand des Gerichtes zu sehen.
Schon zuvor haben Überlebende (z. B. der erste, der als Zeuge aussagte, Max Tibor Eisen) Familienbilder mitgebracht und sie vorne am Richtertisch gezeigt, jedes einzelne Familienmitglied, jeden verlorenen Menschen, dem Gericht gegenüber benannt. Dies ist jedoch das erste mal im Prozess, dass ein Bild dieser Menschen groß und für alle Beteiligten sichtbar war. Dadurch und durch die parallelen Ausführungen ihrer Halbschwester war die sechsjährige Evike Weinberger in dem Moment im Prozess präsent, sie war für uns anwesend. Dies steht für uns symbolisch auch dafür, dass die Nebenkläger*innen Klage erheben, aber vor allem auch im Namen derer, für die sie Zeugnis ablegen, die nicht mehr zu uns sprechen können.
Der Anwalt der Nebenklage Corneliuas Nestler sprach von 300.000 Biographien, die brutal abgeschnitten wurden. Allein die Nebenkläger*innen haben zusammen 1000 Familienangehörige verloren; es geht darum, sie Teil des Prozesses werden zu lassen, sie sichtbar zu machen, ihnen Gesicht und Stimme zu verleihen und somit den einzelnen geliebten und verlorenen Menschen, der tausendfach hinter Zahlen und Statistiken verschwindet, bewusst zu machen.
Am Nachmittag wurde der zweite Sachverständige, der Historiker Stefan Hördler als Gutachter gehört (www.stefanhoerdler.de). Er berichtete ausführlich über die Struktur und den Aufbau des KZ Auschwitz, ebenso die Verwaltungssektoren und Vorgesetzten- und Befehlsstrukturen. Für ihn betonenswert war auch die Tatsache, dass es diese offiziellen Strukturen zweifelsfrei gab und sich dies auch in den vielen Originaldokumenten nachweisen lässt, allerdings gab es auch immer einen großen informellen Sektor im Lagersystem, dieser ist entsprechend nicht erfasst. Dies schließt auch ein, dass nicht jeder Dienst, der z. B. an der Rampe getätigt wurde auch entsprechend nachweisbar erfasst wurde („informelle Kommandierungen“). Der Angeklagte hatte in der ersten Verhandlungswoche angegeben, durch seine Beförderung vom Rottenführer zum Unterscharführer sowieso nicht mehr an der Rampe tätig gewesen zu sein, Unterscharführer seien nicht für den Rampendienst vorgesehen gewesen. Herr Hördler wurde gefragt, wie er in Anbetracht seines umfangreichen Wissens über die Abläufe im Lagersystem diese Aussage des Angeklagten bewerten würde? Als vollkommen unglaubwürdig, antwortete der Historiker. Er sah das Aufgabenfeld des Angeklagten zwar maßgeblich in der Geldverwaltung, aber er „würde vollkommen ausschließen, dass nur durch Beförderung zum Unterscharführer kein Rampendienst mehr vorgesehen war«.
Des weiteren zeigte er die Struktur der Häftlingsgeldverwaltung auf und las die Namen der dort tätigen Mitarbeiter vor. Während der Angeklagte den vorherigen Aussagen der Überlebenden und Angehörigen vollkommen reglos begegnete, kam plötzlich Bewegung in seine Erinnerungen, nach jedem Namen nickte er, als würde er eine innere Liste seiner „Kameraden“ durchgehen. Er nimmt also sehr wohl alles im Prozess Gesagte wahr und auf, aber die Perspektive der Opfer prallt vollkommen an ihm ab, während er bei der Nennung seiner „Kameraden“ sofort Regungen zeigt.
Wichtig ist von der Darlegung der Sachverständigen noch zu nennen das „Dienstleistungszeugnis“ vom 17.10.1944, das dem Angeklagten bescheinigt: „Alle ihm übertragenen Aufgaben hat er mit Fleiß und Sorgfalt erledigt. Gröning hat einen einwandfreien Charakter. Sein soldatisches Auftreten war jederzeit stramm und korrekt. Weltanschaulich ist er gefestigt.“
Desweiteren wurde Herr Hördler von einem Anwalt der Nebenklage auf das Verhältnis von SS Männern und Kapos hinsichtlich der Hierarchien in Auschwitz gefragt. Dieser stellte eindeutig klar, dass sich zu jedem Zeitpunkt sämtliche Machtkonzentrationen bei der SS (der Angehörige hat sich freiwillig zur Waffen SS gemeldet) befanden. Hintergrund ist, dass der Angeklagte in der ersten Prozesswoche viele schlimme Erlebnisse mit den Kapos in Verbindung brachte, die sich aus seiner Sicht ja sowieso alle aus „Berufsverbrechern“ zusammen gesetzt hätten und schrieb ihnen eine unglaubliche Macht und Machtmissbrauch zu, der soweit ging, sie hätten sich dort wie die wahren Herren(menschen?) aufgeführt und man konnte dagegen ja kaum etwas machen, da sie ihre eigenen Machtstrukturen hatten. Er schrieb ihnen also eine Übermacht und Machtmissbrauch zu, um seine eigene Verantwortung im Nachhinein weg zu delegieren.
Es wurden auch Dokumente aufgezeigt, die eine Disziplinarstrafe wegen Diebstahl beinhaltete und die Frage stand im Raum, ob sich nun nicht ein Widerspruch auftut, wenn wir jeden Tag von der alltäglichen Korruptionspraxis einschließlich Aneignen von Diebesgut einerseits und einer dokumentierten Bestrafung dessen hören? Nein, es ist beides gleichzeitig erfolgt, führte der Sachverständige aus, es ist in Fällen disziplinarisch bestraft worden, wo die persönliche Bereicherung ein zu großes Ausmaß angenommen habe, im alltäglichen kleinen Ablauf jedoch nicht.
Für uns wichtig zu nennen ist auf jeden Fall noch der Antrag des Anwalts der Nebenklage Cornelius Nestler: Er beantragt die Ladung des Staatsanwaltes Galm aus Frankfurt / Main. STA Galm hat 1985 das einzige Verfahren gegen Gröning eingestellt, er schrieb dazu, dass sich „kein zur Erhebung der öffentlichen Klage hinreichender Tatverdacht“ ergeben habe. „Wegen Geschäftsandrangs“ sollten die Einstellungsgründe später ausführlicher formuliert werden, dies ist nie erfolgt. Nach Grönings Interview beim Spiegel 2005 entschied sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt dagegen, erneut Ermittlungen aufzunehmen. RA Nestler möchte durch die Ladung des Staatsanwaltes Galm, dass er darüber aussagt, woher die bisher gesichteten Dokumente sind und das sie echt sind (es wird immer nur darauf verwiesen „die Dokumente aus Frankfurt“), maßgeblich möge Herr Galm jedoch ausführen, wie er seine Auffassung bzgl. der Rampentätigkeit in Auschwitz begründet. Seine Auffassung hierzu sind in Teilen in einem Artikel des Neuen Deutschland zu entnehmen, in dem es heißt:
„Aufgefordert von der Zentralstelle zur Verfolgung von Naziverbrechen in Ludwigsburg, sich des Falles anzunehmen, schrieb ein Staatsanwalt Galm am 11. Juli 2005 auf vier Seiten, weshalb man Gröning nicht anklagen werde. Es gebe keine Kausalität zwischen Grönings Tun und der Vernichtung der Menschen. Soll heißen, die wären so oder so umgebracht worden. Zitat: »Soweit der Beschuldigte als Angehöriger der G.E.V zum Rampendienst eingesetzt wurde, kann ihm ein strafrechtlich verwertbares Verhalten unter dem Gesichtspunkt der Beihilfe zum Mord nicht gemacht werden.«
Nein, man kann dem Staatsanwalt nicht vorwerfen, dass er sich nur oberflächlich mit dem Fall Gröning und Auschwitz befasst hätte. Detailliert schildert der Jurist die Abläufe auf der Rampe und betont, Gröning habe ja nicht da gestanden, um etwaige Fluchtversuche zu verhindern.
Und selbst wenn, es gab ja keine, denn: »Hinzu kommt ja auch, dass die Deportierten vielfach familienweise ankamen und auch hofften, bei ihren Familien bleiben zu können, so dass, abgesehen von den Alten und Gebrechlichen, auch Fluchtfähige nicht von vornherein zur Flucht bereit waren.« Der Staatsanwalt sagt es nicht, doch seinen Worten ist zu entnehmen, dass die Juden aus seiner Sicht selbst mithalfen bei ihrer Vernichtung. »Es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die zur Flucht fähig und bereit gewesen wären, zunächst als arbeitstauglich ins Lager aufgenommen wurden.« Und wie viele dieser Personen im Lager »an Entkräftung, Seuche oder durch Selektionen ums Leben kamen, lässt sich nicht feststellen«. Noch im Januar 2013 hatte sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt nicht eines Besseren besonnen.“ Quelle: ND / 21.04.2015:
www.neues-deutschland.de/artikel/968538.beihilfe-zu-mord-in-300-000-faellen.html
Dies ist ein sehr wichtiger Antrag, denn hier geht es darum, sich mit den deutschen Ermittlungsbehörden und ihrem skandalösen Umgang mit NS Tätern auseinander zu setzen. Die eben genannte Aussage über die „Unerheblichkeit“ des Rampendienstes wurde eben nicht in den 50er oder 60er Jahren von einem deutschen Staatsanwalt gegeben, sondern 2005.
[…]
Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen