Tag 1

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Wege über den Verlauf des heutigen ersten Prozesstages informieren und für die Teilnahme an den kommenden beiden Tagen werben. Als Platzhalter*innen, aber auch zur direkten Beteiligung am Prozess aufrufen, da der heutige Tag bewiesen hat, wie wichtig es ist, die Plätze auch im Gericht so weit wie möglich zu nutzen.

Alles im Vorfeld besprochene hat gut geklappt, wir waren früh vor Ort, über 60 Menschen, die Plätze konnten an die Angehörigen übergeben werden.

Es kamen dann doch wie angekündigt Nazis, unter anderem Thomas Wulff aus Hamburg, Holger Niemann aus Neuhaus (Abgeordneter für die „UWL-Bündnis Rechte“ im Lüneburger Kreistag und Landesvorsitzender der Kleinstpartei „Die Rechte“ in Niedersachsen) und Ursula Haverbeck, insgesamt waren sie ca. 12 Personen. Sie standen hinter uns in der Reihe und hätten Einlass zum Prozess erhalten, wären die Menschen gegangen, die keine Platzhalterfunktion mehr hatten. Stattdessen wurde sich spontan von allen Anwesenden entschieden, in den Prozess zu gehen, wenn auch nicht die gesamte Dauer. Dies hat dazu geführt, dass die Nazis nicht in das Gericht kamen und war sehr erfreulich. Statt dessen haben sie vor der Tür versucht, ihre Propaganda zu verteilen, als Ergebnis steht nun ein Strafverfahren wegen Volksverhetzung gegen den Verantwortlichen der Texte an. Fotos und Infos zu den Nazis unter:

http://www.recherche-nord.com/gallery/2015.04.21.html

Der Prozess begann verspätet gegen 10:00 Uhr, die Anklage wurde verlesen und der Angeklagte Herr Gröning gefragt, ob er aussagen möchte. Dies hat er bejaht und über eine Stunde gesprochen. Die Inhalte sind allen Medien zu entnehmen. Um 11:30 Uhr erfolgte bis 13:00 Uhr eine Mittagspause, danach ging es mit der Befragung des Angeklagten durch den Richter weiter. Diese wurde nach ca. einer Stunde abgebrochen, da die Konzentration des Angeklagten nicht mehr voll gegeben schien. Es folgten Anträge der Vertreter der Nebenklage, also der Auschwitz – Überlebenden.

Ein Antrag beinhaltet, dass die Zeugen der Nebenklage, die die Reise nach Lüneburg nicht mehr auf sich nehmen können, aber gehört werden wollen und ihre Erinnerungen und Erfahrungen in den Prozess mit einfließen lassen wollen, vor Ort bei sich zu Hause befragt werden. Dass also das Gericht zu ihnen kommt, um sie zu befragen. Dies ist in Anbetracht der Situation, dass diese Menschen die Reise nicht mehr auf sich nehmen können, weil sie 70 Jahre warten mussten, bis die deutsche Justiz sie als Zeugen hört, eine mehr als angemessene und unterstützenswerte Forderung bzw. Antrag. Der morgige Prozesstag wird mit der Befragung des Angeklagten weitergehen.

Wir danken allen, die heute den Tag mitgestaltet haben und bitten Euch hiermit, zu überlegen, ob Ihr auch an den weiteren Tagen, also Morgen und Übermorgen, vielleicht mit in das Gericht kommt, da die Nazis bereits angekündigt haben, dass sie wiederkommen.

Bilder und Filme zum Prozess und unserer Aktion finden sich auf der Seite der Landeszeitung:

http://www.landeszeitung.de/blog/aktuelles/228782-ns-prozess-in-lueneburg-tag-nr-1-live-ticker-videos-fotos

Film von LZ-Play vom Prozessauftakt

Bei Fragen stehen wir zur Verfügung.

Mit antifaschistischen Grüßen

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 2

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten gerne für alle Beteiligten und Interessierten einen kurzfristigen Termin zum Auswerten der ersten Prozesswoche anbieten. Hintergrund ist, dass wir auf die einzelnen vergangenen Tage zurückblicken wollen und darauf aufbauend eine Begleitung für die gesamte Prozessdauer (27 Verhandlungstage) besprechen wollen. Es geht hierbei nicht um eine Fortführung der Platzhalter–Aktion, diese bezog sich nur auf die erste Woche, da dann die Angehörigen in Lüneburg anwesend sind. Uns geht es nach einer ersten Bewertung des bisher Geschehenen um einen Ausblick, da wir gerne weiter den Prozess verfolgen, begleiten, besuchen wollen und uns dies – wie vielen anderen – nicht an jedem Prozesstag möglich ist. Der Termin ist auf den morgigen Donnerstag, 23.04.2015 um 19:30 Uhr im Infocafe Anna & Arthur (Katzenstraße 2) gesetzt. Er ist recht kurzfristig, da an anderen Tagen die Räume belegt sind bzw. wir selbst keine Zeit haben.

In diesem Zusammenhang möchten wir Euch nochmal auf eine Veranstaltung am kommenden Montag, 27.04.2015 in Uelzen hinweisen. Die Überlebenden von Auschwitz, Hedy Bohm und Eva Pusztai-Fahidi, die auch im Prozess in Lüneburg als Zeuginnen der Nebenklage aussagen werden, berichten auf einer Veranstaltung im Uelzener Rathaus um 19:00 Uhr über ihre Erfahrungen: http://www.uelzen-gegen-rechts.net

Dies ist sicherlich eine Möglichkeit, sich in einer anderen Atmosphäre als zuvor im Gericht mit dem Leben, der Geschichte und dem Anliegen der Überlebenden des Holocaust auseinander zu setzen.

Zum heutigen Prozesstag ist kurz gesagt, dass es keinen Stress mit Nazis gab, wir waren ca. 35 Wartende zu Beginn, der Wechsel an die Angehörigen hat gut geklappt und alle konnten am Prozessgeschehen teilhaben. Die Inhalte des heutigen Tages sind wesentlich schwieriger in knappen Worten zu vermitteln, da die Befragung des Angeklagten durch den Vorsitzenden Richter sowie die zwei weiteren Richter und den Staatsanwalt erfolgte. Die Art und Weise, wie sich der Angeklagte äußerte, welche herabwürdigenden Begriffe er ganz lapidar benutzte, in welcher emotionslosen und empathiefreien, regelrecht normalisierten und routinierten Art er über Grausamkeiten berichtete, machte es sehr schwer, die Aussagen des Angeklagten zu ertragen. Es hat die in den Medien verbreitete Meldung bzw. die von ihm selbst so geäußerte Aussage von Reue und Demut gegenüber den Opfern in keinster Weise entsprochen. Selbst als die Überlebende Eva Mozez Kor ihre Erklärung verlas, in der sie über ihr Schicksal in Auschwitz und das ihrer Familie sprach und den Angeklagten im Anschluss persönlich angesprochen hat, blieb er vollkommen reglos und emotionslos. Morgen geht es mit Erklärungen der Überlebenden weiter.

Wir freuen uns, wenn wir uns morgen früh oder auch morgen Abend sehen, treffen, sprechen. Solltet Ihr keine Zeit haben, aber den Prozess an einzelnen Tagen besuchen wollen, teilt uns doch gerne mit, wann ihr Zeit habt. Wir fänden es gut, wenn sich zumindest zwei Menschen finden, um gemeinsam dem Prozessgeschehen zu folgen, dies stärkt die Erinnerung an das Gesagte und ist vermutlich auch einfacher zu ertragen / verarbeiten.

Wer unsere ersten vier Infomails weitergeleitet hat, möge dies bitte mit dieser Mail dann auch tun. Vielen Dank.

Mit antifaschistischen Grüßen

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 3

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Wege über den dritten Verhandlungstag (Donnerstag, 23.04.2015) sowie die Planungen für die weitere Prozessbegleitung informieren.

[…]

Der dritte Prozesstag begann um 9:30 Uhr, ab 8:30 Uhr erfolgte der Einlass, auch dieses mal hat die Übergabe der Plätze an die Angehörigen gut geklappt.

Die bekannte verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel hat am Donnerstag den Prozess besucht, sie kam allein und ging allein. Da die wartende Schlange nicht ausreichend lang war, konnte sie wie alle anderen Wartenden auch Einlass erhalten. Sie ist nach ca. 1 – 1,5 Stunden wieder gegangen (scheinbar konnte sie die Aussagen des Angeklagten nicht mehr hören, da er mehrfach bestätigte, dass und wie die Menschen umgebracht wurden, sprach vom Holocaust und über 1 Millionen ermordeter Juden in Auschwitz, dies ließ sie mehrfach zusammen zucken) und hat vor dem Gericht noch länger mit einem Reporter, den sie im Gerichtssaal ansprach, gesprochen. Es handelte sich hierbei um einen Reporter von Panorama, am Abend wurde die Sendung ausgestrahlt.

Der Prozesstag begann mit der Befragung des Angeklagten durch die Vertreter der Nebenklage. Alle Fragen / Antworten können wir hier nicht wiedergeben, aber einige wichtige dennoch.

Der Angeklagte wurde von Anwälten der Nebenklage darauf hingewiesen, dass die hinter ihnen in der Reihe sitzenden Personen Auschwitz überlebt haben und fragten ihn, ob er sich das damals hätte vorstellen können. Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Er ging also vom Tod aller nach Auschwitz Deportierten aus.

Ein Anwalt befragte den Angeklagten, ob er schon einmal selbst in die Kasse gegriffen habe, um sich persönliche Vorteile (durch Korruption innerhalb des Lagersystems) zu verschaffen. Dies verneinte er zunächst. Mehrfach hat der Angeklagte seit Prozessbeginn darauf hingewiesen, dass er dreimal seine Versetzung beantragt habe, da er aufgrund der Gräueltaten, die er in Auschwitz sah, nicht mehr dort arbeiten wolle. Diese Versetzungsanträge sind nicht nachweisbar, seine Personalakte sei verschwunden. Er hätte also versuchen können, seinen von ihm genannten Versetzungsanträgen durch Geld nachhelfen zu können. Dies hat er nicht getan. Als er dann von einem weiteren Anwalt darauf hingewiesen wurde, dass er sehr wohl zu seinem eigenen Vorteil in die Kasse gegriffen habe, da er dies bereits in einem BBC Interview angegeben hat, korrigierte der Angeklagte seine Aussage. Ja, er habe Geld genommen, um sich dafür eine zweite Pistole zu kaufen. Ergo: Er stiehlt Geld, um sich eine zweite Pistole zu kaufen, aber er stiehlt kein Geld, um seinem angeblich starken Wunsch, von Auschwitz weg versetzt zu werden, Nachdruck zu verleihen. Der Angeklagte hat sich auch in weiteren Punkten in Widersprüche verwickelt, so in der wichtigen Frage seiner Tätigkeit an der Rampe, zu der er angibt, nur dreimal dort gewesen zu sein. Dies hat er in einer Befragung als Beschuldigter 1978 anders angegeben, während der sog. „Ungarn–Aktion“ seien sie ständig an der Rampe gewesen. Als er mit seinen unterschiedlichen widersprüchlichen Angaben konfrontiert wurde, gab er an, er hätte sich damals vorsichtiger ausgedrückt, wäre ihm bekannt gewesen, dass ihm das heute vorgehalten würde (!). (Aussage vom 2. Verhandlungstag). Derlei dreiste Aussagen kommen häufig und bringen nicht nur den Angeklagten in ein anderes Licht als das von ihm „in Reue und Demut“ erwünschte, sondern richten den Fokus auf das Thema, das den Prozess wie ein roter Faden durchzieht: die Geschichte der deutschen Justiz im Umgang mit NS-Verbrechern. Die Ermittlungen gegen den Angeklagten Ende der 1970er führten wie so viele Verfahren zu einer Einstellung, aber er berichtete im Prozess, dass er ja auch schon so von einem Kriminalbeamten in Nienburg zur Befragung begrüßt wurde: „Herr Gröning, machen sie sich keine Sorgen, das wird schon alles…“

Es folgten die Aussagen der ersten Zeugen der Nebenklage, die Überlebenden Max Tibor Eisen und William Glied. Beide haben in Auschwitz ihre gesamte Familie verloren, sie sind an der Rampe von ihrer Familie getrennt worden und mit ihrem Vater bzw. Vater und Onkel zur Zwangsarbeit geschickt worden. Sie haben das Vernichtungslager als einzige überlebt. Ihr Vater bzw. Vater und Onkel starben durch Krankheit und Vergasung, als sie als „nicht mehr arbeitsfähig“ „selektiert“, also ermordet wurden.

Es waren sehr berührende Ausführungen, da sie beide die selben Ereignisse und Abläufe der Tötungsmaschinerie beschrieben wie am Tag zuvor der Angeklagte, aber dieser es in einer brutal nüchternen bürokratischen Sprache darlegte (der NDR bezeichnete es treffend alsSS Jargon vor Gericht“) und die beiden Überlebenden aus ihrer persönlichen Sicht schilderten. Dies wird nun auch in den Medien (die noch anwesend sind) mehr gewürdigt und die Perspektive der Überlebenden dargestellt, ihre Sicht, ihr Schicksal, ihre Erinnerungen und Empfindungen, ihr Anliegen nach Anerkennung des Unrechts, das ihnen angetan wurde, ihre Forderung nach Gerechtigkeit. William Glied bezeichnete es als Omen, dass er sich am 21.04.1945 von seinem sterbenden Vater verabschieden musste und genau 70 Jahre später beginnt dieser Prozess. Eine gute Zusammenfassung über den Prozesstag bietet dieser Artikel:

www.welt.de/politik/deutschland/article140003625/SS-Mann-Groening-stahl-Geld-der-Ermordeten.html

Wir möchten Euch darauf hinweisen, dass wir uns bemühen, die Inhalte zu dokumentieren (mehr als in den kurzen Mails), aber es ist uns nicht erlaubt, Schreibmaterial in den Gerichtssaal zu nehmen. Kein Kuli, kein Bleistift, nichts. Daher speisen wir unsere Infomails aus der Erinnerung und versuchen, diese für die kommenden Prozesstage durch standardisierte Gedächtnisprotokolle in den Pausen zu verbessern. Besser wäre natürlich, wir könnten mitschreiben…

Kommen wir nun zum Ausblick, in der nächsten Woche sind zwei Verhandlungstage angesetzt:

Dienstag, 28.04. 2015 und Mittwoch, 29.04.2015, Beginn jeweils um 9:30 Uhr, Einlass jeweils um 8:30 Uhr. Am Dienstag werden Hedy Bohm und Eva Pusztai–Fahidi als Zeuginnen der Nebenklage aussagen. Es ist kein so frühes Erscheinen wie in der vergangenen Woche nötig, wir empfehlen jedoch, spätestens um 8:00 Uhr dort zu sein.

Wer sich vorstellen kann, den Prozess an einem oder mehreren Terminen zu begleiten und mit zu dokumentieren, melde sich bitte bei uns, damit wir eine kontinuierliche Prozessbegleitung gewähren können. Für die kommende Woche haben sich schon Menschen gefunden, aber ihr seid eingeladen, zu jedem Termin zu kommen, da in den kommenden Terminen die Überlebenden sprechen werden und dies sehr wertvolle Aussagen sind. Sie freuen sich auch, wenn Interessierte an der Verhandlung teilnehmen.

Hier die gesamten Termine des Prozesses bis Ende Juli, gebt uns gerne eine Rückmeldung, wenn ihr einen / mehrere übernehmen wollt.

[…]

Wir möchten uns bei Euch allen sehr herzlich für die Unterstützung und das aktive Mitmachen bedanken. Ohne Eure Beteiligung wäre die bisher geleistete Arbeit während dieses historischen Prozesses in Lüneburg nicht möglich gewesen. Vielen Dank!

Mit antifaschistischen Grüßen

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 4 + 5

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Wege über die Inhalte des 4. und 5. Prozesstages sowie die weitere Planung der Prozessbegleitung informieren. Vorab einige kurze, uns wichtige Hinweise:

1. Wir werden in Zukunft eine wöchentliche Zusammenfassung der Prozesstage in einer mail versenden. Hintergrund ist, dass wir Euch zum einen nicht mit unseren mails überschütten wollen, zum anderen finden ab dieser Woche wöchentlich zwei Termine statt und unsere bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass die Informationen aus dem einen Tag am zweiten noch vertieft, erneut aufgegriffen und somit besser verständlich / einordnenbar sind. Da wir weiterhin nicht mitschreiben dürfen, sondern im Anschluss unsere Erinnerungen rekonstruieren und zusammenführen, ergänzen, auswerten etc., halten wir eine wöchentliche Zusammenfassung (dennoch in Tage unterteilt) für angemessener. Unser nächstes gemeinsames Treffen, um außerhalb der Prozessbesuche uns zusammen auszutauschen ist am 04.06. um 19:;30 Uhr im Infocafe Anna & Arthur (Katzenstraße2).

2. Der Prozess wird in den Medien (wie auch von uns in den mails / Betreff) als „Auschwitz – Prozess“ bezeichnet. Dies gilt es zu konkretisieren: Der Angeklagte Oskar Gröning tat von 1942 bis 1944 im KZ Auschwitz Dienst, die Anklage bezieht sich allerdings auf die sogenannte „Ungarn–Aktion“, in der zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944, also in 57 Tagen ca. 430.000 Jüdinnen und Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert, direkt an der Rampe „selektiert“ und 300.000 Menschen umgehend in die Gaskammern geschickt, also ermordet wurden. Daher die Anklage auf „Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen“. Für alle, die mehr Hintergrundinformationen über die sog. „Ungarn – Aktion“ erhalten möchten, hat uns eine wache ak-Leserin auf Artikel zu diesem Thema aus der analyse und kritik aus dem Jahre 1994 (!) hingewiesen. Wir haben sie Euch im Anhang mit beigefügt.

ak 365_ Völkermord an Ungarns Juden

ak 366_ Vor 50 Jahren_ Völkermord an Ungarns Juden

3. Die Platzhalter–Aktion pausiert zunächst, dennoch möchten wir Euch einladen, auffordern, diesen Prozess zu besuchen, da die Zeug*innen der Nebenklage eben jene Menschen sind, die den dreitägigen Transport in Viehwaggons aus Ungarn durchlebt und das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben und nach über 70 Jahren vor einem deutschen Gericht über ihre Erinnerungen aussagen.

Auf der Veranstaltung in Uelzen am 27.04.2015, in der Eva Pusztai–Fahidi und Hedy Bohm als Überlebende über ihre Erinnerungen in Auschwitz berichteten, wies Thomas Walther, ein Anwalt, der 31 Nebenkläger*innen im Prozess vertritt, anhand eines Fotos von einer Situation der Selektion in zwei Richtungen an der Rampe in Auschwitz Birkenau darauf hin, dass dieses Foto in schwarz – weiß Optik nur grob die Situation skizziert und wiedergibt. Sobald es jedoch in Farbe dargestellt wird, gibt es dem Bild, dem Geschehen Tiefe und es sind die einzelnen Menschen zu erkennen. Eben jene Farbe verleihen die Berichte der Zeug*innen der Nebenklage dem Geschehenen und es werden einzelne Biographien, Schicksale, der einzelne Mensch hinter der Zahl sichtbar. Diese Beiträge sind sehr wertvoll und wir weisen hiermit auf die Termine mit der Nennung der Nebenkläger*innen hin, jeder Prozesstag ist ein Tag mit Zeitzeug*innen, die berichten:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13828&article_id=133268&_psmand=56

PS: Die Veranstaltung in Uelzen war mit mehreren hundert Teilnehmenden sehr gut besucht und das minutenlange „standing ovations“ zum Abschluss war sicherlich nicht nur für die anwesenden Überlebenden wichtig, sondern auch für die Besucher*innen eine Möglichkeit, fernab des Gerichtssaals, der durch Regulierungen bestimmt ist, ihren Respekt und ihre Wertschätzung für die Menschen zu zeigen. Besucht diesen Prozess, es ist eine wertvolle Erfahrung! Aufgrund der letzten Tage empfehlen wir, sich um 7:30 Uhr einzufinden, da das öffentliche Interesse gegeben ist und jeden Tag viele Wartende nicht mehr hinein kamen.

4. Auf der Veranstaltung am 27.04.2015 im Uelzener Rathaus hat der Uelzener Bürgermeister Jürgen Markwardt in seiner Einleitung sich nicht nur für die Anwesenheit der Überlebenden und die Möglichkeit, an ihren Ausführungen teilzuhaben bedankt, sondern sein Schlusswort endete mit dem wohlwollenden Bekräftigen und der Freude über die Geste der Vergebung. Peinlich nur, dass Herr Markwardt nach „Günther Jauch“ am Sonntag scheinbar keine Nachrichten mehr verfolgte, denn sonst wäre er darüber informiert gewesen, dass die anwesenden Überlebenden eine andere Haltung dazu vertreten:

www.landeszeitung.de/blog/lokales/230660-der-fall-groening-geste-stoesst-auf-unverstaendnis

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/auschwitzprozess112.pdf

5. Dieser Prozess ist neben den wichtigen Informationen, die dort zu Tage kommen, auch maßgeblich bestimmt durch Atmosphäre. Diese zeigt sich durch Gesten, Äußerungen, verschiedene Situationen, die berühren oder empören, die aber nicht immer sofort in rationale Worte übermittelbar sind. Zu dieser Atmosphäre gehört auch der Ort des Prozesses. Da es in den Medien immer heißt, dieser Prozess finde am Lüneburger Landgericht statt und auch der Ortswechsel in die Lüneburger Ritterakademie aufgrund mangelnder Raumgröße benannt wird, möchten wir hiermit einen Eindruck übermitteln, wie dieser Raum hergestellt wird:

www.lzplay.de/videos/3134-vom-tanzraum-zum-gerichtssaal-ns-prozess-wird-vorbereitet

Was im Bericht der LZ nicht genannt wird, ist der Fakt, dass der Tanzraum nicht nur zum Gerichtssaal wird, sondern der Gerichtssaal auch immer wieder zum Tanzraum, Eventschuppen, Hochzeitslocation oder was auch immer… Der Vorsitzende Richter Herr Kompisch schloss die Sitzung in der ersten Woche am Mittwoch, den 22.04.2015 bereits am Mittag mit der Begründung, wir enden heute früher, es müsse nun im Anschluss auch gleich umgeräumt werden, da die Räumlichkeit für eine andere Veranstaltung vorbereitet werde. Es handelte sich um eine Abendveranstaltung mit dem Thema: „Guter Sex ist teuer“. Dies wird im Mai, Juni, Juli so weiter gehen, die Örtlichkeit wechselt inhaltlich zwischen Auschwitz Prozess, Tanzparkett, Auschwitz Prozess, Dancefloor, Auschwitz Prozess etc. Dies nur kurz zur Info, damit Ihr eine Vorstellung von den Räumlichkeiten bekommt, die in ihrer Wahl der wechselnden Veranstaltungen für uns doch ein Maß an Pietätlosigkeit und Unwürdigkeit erreicht haben, die wir den wen auch immer zu Verantwortenden nicht zugetraut hätten. Seht selbst: www.die-ritterakademie.de

6. Dieser Prozess stellt nicht nur in seiner juristischen und historischen Dimension eine Besonderheit dar, sondern ist für uns, die wir ihn begleiten, dies im wahrsten Wortsinne: ein Prozess; ein sich täglich, wöchentlich durch viele Eindrücke, Aussagen, Mosaiksteine, Teile zusammensetzendes Bild, das ständig ergänzt, verändert wird und somit nicht fertig ist. Daher werden wir auch erst im Mai eine erste Einschätzung zu Teilbereichen formulieren. Ebenso ist es ein Prozess jeder einzelnen Person, die ihn besucht, denn die Teilnahme an den Ausführungen lässt einen nicht unberührt, jede*r geht bislang verändert aus diesem Prozess heraus.

Nun genug der kurzen Hinweise, die doch nicht so kurz waren, aber uns wichtig, um nicht nur die Fakten des Prozesses zu übermitteln, sondern auch einen kurzen Einblick in die Begleitszenerie, die sich hier abspielt und für uns genauso wichtig ist, um ein Verständnis darüber zu erhalten, was bei uns gerade passiert.

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Dienstag, 28.04.2015 – Tag 4

Am Vormittag haben die beiden Überlebenden Eva Pusztai–Fahidi und Hedy Bohm als Zeug*innen der Nebenklage ausgesagt.

Eva Pusztai-Fahidi hat durch den Holocaust 49 Familienmitglieder verloren. Sie schildert ausführlich ihre Kindheit, ist sehr behütet ausgewachsen. Niemals hätte sie sich eine solche Hölle vorstellen können. Und sie berichtet, wie schon auf der Veranstaltung in Uelzen am Abend zuvor, dass die Auschwitz-Überlebenden, die im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ deportiert wurden, vor der Selektion an der Rampe, den traumatischen Erlebnissen, das Auseinanderreissen von Familien innerhalb von Sekunden, dem sich nicht verabschieden können, vor all dem steht das einschneidende Trauma des dreitägigen Transports, den alle erlebten. An der Rampe wurde sie vom KZ-Arzt Mengele mit einer Handbewegung auf die eine Seite und ihre Familie auf die andere gewinkt: „Die winzig kleine Gebärde, die Traumata für das Leben bedeutete.“ Damit verlor sie ihre gesamte Familie, die in den Gaskammern umkam. Sie berichtet über die Demütigungen und Schrecken, die sie erfahren hat und mit ansehen musste, so auch die Zerstörung des sogenannten „Zigeunerlagers“ und die Ermordung der Menschen: „Ganz abgemagerte Menschen. Kinder mit riesengroßen Augen, in denen das Entsetzen stand. In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurde das Zigeunerlager ausgerottet. Auf einmal ist es ganz hell geworden. Die SS ist mit Flammenwerfern gekommen. Das kann man ein Leben lang nicht vergessen, wie die Menschen gebrüllt haben.“ Sie überlebte, da sie zur Zwangsarbeit für die Sprengstoffwerke Allendorf und Herrenwald in das KZ-Außenlager Münchmühle des KZ Buchenwald musste. 1945 konnte sie bei einem Todesmarsch entkommen.

Hedy Bohm schilderte ebenfalls sehr ergreifend ihre Lebensgeschichte, in ihrer Kindheit und Jugend behütet und beschützt aufgewachsen, sie kannte keinen Antisemitismus, ihre Eltern hielten schlimme Nachrichten von ihr fern. Bis zu dem Tag, als sie mit ihrer Familie von zu Hause verschleppt, in ein Sammellager eingepfercht und anschließend in den Viehwaggons nach Auschwitz deportiert wurde. Sie schildert die Tortur des Transports, die Ankunft und Selektion an der Rampe, wie sie von ihrer Familie getrennt wurde. Im Gegensatz zu den bisherigen Aussagen der Zeug*innen, hat sie bis zum Schluss daran geglaubt und sich an diesem Glauben festgehalten, dass ihre Familie lebt, hat die vielen Schikanen, Demütigungen und Erniedrigungen ertragen, da sie davon ausging, ihre Mutter sei in der selben Situation und steht dasselbe durch, sodass sie am Ende wieder zusammenfinden. Diese Hoffnung hat sie das Lager durchstehen lassen. In Auschwitz hat sie ihre Tante und ihre Cousine wiedergefunden, gemeinsam wurden sie zur Zwangsarbeit nach Fallersleben (bei Wolfsburg) in die Kriegsproduktion verschleppt, ihre Befreiung erlebte sie 1945 in einem Lager bei Salzwedel. Erst danach erfuhr sie, dass ihre Eltern direkt nach der Ankunft in Auschwitz vergast wurden.

Die Situation an der Rampe, das Ankommen, die Selektion wird von den bisher gehörten Zeug*innen mehrfach als Chaos berichtet, der Angeklagte bezeichnete es in der ersten Prozesswoche als geordnet, alles sei Routine gewesen, es war ja auch ihr Ziel, „Ordnung“ herzustellen, bevor der nächste Transport einfährt, damit die Menschen nicht den kleinsten Hinweis darauf erhalten, was sie erwartet und in Panik verfallen. Wir gehen davon aus, dass beides gleichzeitig vorherrschte, Ordnung und Chaos. Die „Ordnung des Terrors“, wie von Sofsky beschrieben, ein perfekt ausgeklügeltes, durchstrukturiertes und penibel funktionierendes Terrorsystem und auf der anderen Seite das Chaos für die von diesem Terror Betroffenen, auf deren Vernichtung diese Ordnung ausgerichtet war. Dieses Chaos wird in den Erinnerungen der Überlebenden sehr nachvollziehbar geschildert.

Am Vormittag erfolgte ebenso ein Antrag eines Anwalts der Nebenklage, der nicht nur von „Beihilfe zum Mord“ des Angeklagten, sondern von Mittäterschaft ausgeht. Ein zentrales Mordmerkmal ist die Heimtücke. Heimtücke ist die bewusste Ausnutzung der auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit des Opfers durch den Täter, sodass es die Tat weder vorhersehen noch erwarten kann. Der Angeklagte hat in seinen bisherigen Aussagen sehr ausführlich die Wichtigkeit betont, dass an der Rampe nicht der kleinste Hinweis darauf zurückbleibt, was dort zuvor geschehen war. Sein Dienst an der Rampe beinhaltete nicht nur, die geraubte Habe der Deportierten zu bewachen, in die Sammelstelle zu verbringen, sondern auch die Rampe nach zurückgebliebenen Dingen abzusuchen und diese verschwinden zu lassen. Die „Ordnung“ also dadurch wieder herzustellen, indem jedes Indiz auf das vorausgegangene Chaos vertuscht wird. Auch bezeichnete er selbst den Zustand der gerade Angekommenen als unbedarft, vollkommen ahnungslos, unwissend darüber, was nun mit ihnen passiert. Diese Arglosigkeit herzustellen und aufrecht zuhalten, dadurch hat der Angeklagte durch sein Tun aktiv und wissentlich beigetragen. Er wusste seit seinem ersten Tag in Auschwitz, dass die Jüdinnen und Juden dort planmäßig ermordet werden, er wusste, worauf sein Handeln an der Rampe zielte und er wusste, wie wichtig dieses Handeln war, um die Ruhe herzustellen und aufrecht zu halten, die es braucht, um die Opfer vorsätzlich zu täuschen, damit sie nicht in Panik verfallen, sondern „geordnet“ in die Gaskammern geführt werden.

Ebenso wurde von Seiten der Nebenklage darauf verwiesen, dass in Bezug auf die beantragte Anhörung der anderen Zeug*innen vor Ort „abwarten“ nicht der richtige Weg sei, da diese Menschen 70 Jahre darauf gewartet haben, aussagen zu können, Zeugnis ablegen zu können und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht absehbar ist, wie lange sie dies noch können.

Hier einige Artikel zum 4. Tag:

www.welt.de/politik/deutschland/article140238393/Ein-SS-Mann-hatte-mehr-Macht-als-der-Herrgott.html

www.welt.de/politik/deutschland/article140200838/Ich-habe-mir-die-Seele-nicht-nehmen-lassen.html

www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/22160

www.weser-kurier.de/deutschland-welt_artikel,-Ich-kann-nicht-vergeben-niemals-_arid,1112341.html

Nachmittags wurde zum ersten mal der Sachverständige, der Historiker Herr Bajohr aus München vom Institut für Zeitgeschichte / Zentrum für Holocaust – Studien als Gutachter gehört

www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/zentrum-fuer-holocaust-studien

Herr Bajohr hat ausführlich über die „Aktion Reinhardt“ und die „Ungarn Aktion“ referiert. Er stellte hervor, dass es sich bei dem Massenmord eigentlich auch um einen Massenraubmord gehandelt habe und zeigte die Dimensionen des geraubten Geldes, Schmucks und weiterer Wertgegenstände auf, ebenso, wie der Transfers des Raubgutes erfolgte, die Strukturen, Abläufe und Systematiken. Gleichzeitig stellte er den von ihm genannten Begriff des Massenraubmordes als nicht exakt treffend dar, da das Hauptmotiv eines Raubmordes der Raub ist. Das Hauptmotiv der Nazis war jedoch das Morden, die totale Vernichtung der Jüdinnen und Juden. Während der Sachverständige zum einen eine Gesamtübersicht über die Vernichtungsmaschinerie und Finanztransfers anhand der Lagersysteme gab, zeigte er zum anderen auch spezifische Dokumente auf, die direkt Bezug auf den Angeklagten und seine bisherigen Aussagen nahmen. So legte er eine Liste vor (Personalliste der SS Standortverwaltung Auschwitz vom 11.12.1943), auf der in Auschwitz tätige SS Männer bzgl. ihrer „Abkömmlichkeit“ für den „Frontdienst“ bewertet werden. Der Angeklagte wurde als „abkömmlich“ genannt. Daraus zog der Sachverständige den Schluss, dass er versetzt worden wäre, wenn er dies gewollt hätte.

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Mittwoch, 29.04.2015 – Tag 5

Der Verhandlungstag begann mit einer Befragung des Historikers Herrn Bajohr zu seinen Ausführungen am Vortage als Sachverständiger. Die Verteidigerin Frau Frangenberg verweist auf ein Dokument, dass den Versetzungswunsch aus Auschwitz des Angeklagten bekräftigen soll. Herr Bajohr hingegen bringt Dokumente in das Verfahren ein, dass allen Beteiligten neu war: Ein Gesuch des Angeklagten vom 12.11.1943 an das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS, in dem er um die Genehmigung zur Hochzeit mit seiner Verlobten bittet, die zuvor mit seinem Bruder verlobt war, der bei Stalingrad gefallen war. Gröning bestätigte bereits in der ersten Verhandlungswoche, dass er gesagt habe, die „Sippe“ müsse fortbestehen. In seinem Gesuch an das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ bezeichnet er sich selbst als „KV“, also kriegsverwendungsfähig. Auf Nachfrage wurde von Seiten der Sachverständigen unmissverständlich deutlich: Wenn der Angeklagte sich selbst (mit der Intention, dass seinem Hochzeitsgesuch zugesprochen wird) als kriegsverwendungsfähig bezeichnet und in einer weiteren Personalliste als „abkömmlich“ bezeichnet wird, gibt es keinen Grund, warum er nicht versetzt wurde. Sie gehen also davon aus, dass kein Versetzungsgesuch (an die Kriegsfront) vorlag, sonst wäre dem stattgegeben worden:

www.welt.de/politik/deutschland/article140283074/SS-Mann-Groening-wollte-nicht-aus-Auschwitz-weg.html

Als erster Zeuge der Nebenklage des fünften Prozesstages spricht Eugene Lebovitz aus Aventura / USA. Er war 15, als er mit seiner Familie 1944 in Ungarn ins Ghetto, eine alte Ziegelei, getrieben wurde. Er berichtet, wie auch schon mehrfach die Zeug*innen vor ihm, wie perfide die Täuschung der Jüdinnen und Juden vorbereitet und durchgeführt wurde, damit sie sich in Arglos- und Ahnungslosigkeit wähnen, die der Angeklagte an der Rampe in Birkenau durch sein Handeln weiterführte: Herr Lebovitz schildert, ihnen wurde von einem Bauernhof berichtet, auf den sie gebracht werden und auf dem sie arbeiten würden. Ein anderer Zeuge gab an, sie haben sogar fingierte Postkarten im Vorfeld erhalten, die ihnen den Aufenthalt anderer jüdischer Familien auf Bauernhöfen vortäuschten, es gehe an die Grenzregion, es gehe zum arbeiten, es seien gute Bedingungen. Auch Eugene Lebovitz spricht von den einschneidenden Erlebnissen des dreitägigen Transports in Viehwaggons, „wo sonst neun Pferde stehen“. „Was für ein Wunder, dass 90 Menschen darin drei Tage und drei Nächte verbringen konnten“. Er wird an der Rampe von seinen Eltern getrennt, Leute zeigten ihm den Rauch: „Da gehen Deine Eltern hin“. Er wurde im KZ beim Telefondienst eingesetzt, da er deutsch sprach, im Januar 1945 wurde er auf den Todesmarsch geschickt, 40 Menschen wurden vor seinen Augen erschossen; er wurde beschossen, als er mit anderen in einen Wald flüchtete und nur gerettet, da er hingefallen war und die Erschossenen auf ihn fielen: „Körper lagen auf mir drauf, ich habe mich ausgegraben“. Von seiner Familie haben er, seine Schwester und zwei Brüder überlebt, 47 Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins sowie seine Eltern wurden ermordet.

Im Anschluss sagt Judith Kalmann aus Toronto / Kanada als Zeugin der Nebenklage aus. Mit ihr spricht zum ersten mal eine Nachgeborene von Auschwitz–Überlebenden vor dem Gericht. Judith Kalmann wurde nach dem Krieg geboren, ihr Vater hat seine Frau und sein Kind, seine ganze Familie in Auschwitz verloren, 84 von 120 Familienangehörigen wurden ermordet.Er wurde zur Zwangsarbeit geschickt und erlebte 1945 die Befreiung. Er heiratete nach dem Krieg erneut und Judith war seine erste Tochter. Sie berichtet sehr einprägsam, wie sehr der Holocaust sich in das Familiengedächtnis eingebrannt hat, auf die Familiengeschichte auswirkt, auf die, die überlebten und auf die, die nach ihnen folgten. Frau Kalmann beschreibt die Auswirkungen der „geerbten Schuld, überlebt zu haben“ und wie sich dieses Trauma in der Folgegeneration niederschlug. Die Zeugin berichtet, dass sie von Geburt an mit dem Wissen aufwuchs, dass ihr Leben, ihre Existenz untrennbar mit dem Tod ihrer Halbschwester verknüpft ist. Diese steht im Zentrum ihres Berichtes: Eva Edith Weinberger, die mit sechs Jahren in Auschwitz an der Rampe selektiert und umgehend vergast wurde. Sie beschreibt ihre Halbschwester, die sie nie persönlich kennen gelernt hat und nur aus den vielen Erzählungen ihres Vaters kennt, ihre Fähigkeiten, ihre Interessen, ihren Charakter; aber auch ihre Ziele, die sie gehabt und erreicht haben könnte und während ihrer gesamten Ausführungen über ihre Halbschwester Eva, genannt Evike, ist ein Foto von der Sechsjährigen auf der Leinwand des Gerichtes zu sehen.

Schon zuvor haben Überlebende (z. B. der erste, der als Zeuge aussagte, Max Tibor Eisen) Familienbilder mitgebracht und sie vorne am Richtertisch gezeigt, jedes einzelne Familienmitglied, jeden verlorenen Menschen, dem Gericht gegenüber benannt. Dies ist jedoch das erste mal im Prozess, dass ein Bild dieser Menschen groß und für alle Beteiligten sichtbar war. Dadurch und durch die parallelen Ausführungen ihrer Halbschwester war die sechsjährige Evike Weinberger in dem Moment im Prozess präsent, sie war für uns anwesend. Dies steht für uns symbolisch auch dafür, dass die Nebenkläger*innen Klage erheben, aber vor allem auch im Namen derer, für die sie Zeugnis ablegen, die nicht mehr zu uns sprechen können.

Der Anwalt der Nebenklage Corneliuas Nestler sprach von 300.000 Biographien, die brutal abgeschnitten wurden. Allein die Nebenkläger*innen haben zusammen 1000 Familienangehörige verloren; es geht darum, sie Teil des Prozesses werden zu lassen, sie sichtbar zu machen, ihnen Gesicht und Stimme zu verleihen und somit den einzelnen geliebten und verlorenen Menschen, der tausendfach hinter Zahlen und Statistiken verschwindet, bewusst zu machen.

Am Nachmittag wurde der zweite Sachverständige, der Historiker Stefan Hördler als Gutachter gehört (www.stefanhoerdler.de). Er berichtete ausführlich über die Struktur und den Aufbau des KZ Auschwitz, ebenso die Verwaltungssektoren und Vorgesetzten- und Befehlsstrukturen. Für ihn betonenswert war auch die Tatsache, dass es diese offiziellen Strukturen zweifelsfrei gab und sich dies auch in den vielen Originaldokumenten nachweisen lässt, allerdings gab es auch immer einen großen informellen Sektor im Lagersystem, dieser ist entsprechend nicht erfasst. Dies schließt auch ein, dass nicht jeder Dienst, der z. B. an der Rampe getätigt wurde auch entsprechend nachweisbar erfasst wurde („informelle Kommandierungen“). Der Angeklagte hatte in der ersten Verhandlungswoche angegeben, durch seine Beförderung vom Rottenführer zum Unterscharführer sowieso nicht mehr an der Rampe tätig gewesen zu sein, Unterscharführer seien nicht für den Rampendienst vorgesehen gewesen. Herr Hördler wurde gefragt, wie er in Anbetracht seines umfangreichen Wissens über die Abläufe im Lagersystem diese Aussage des Angeklagten bewerten würde? Als vollkommen unglaubwürdig, antwortete der Historiker. Er sah das Aufgabenfeld des Angeklagten zwar maßgeblich in der Geldverwaltung, aber er „würde vollkommen ausschließen, dass nur durch Beförderung zum Unterscharführer kein Rampendienst mehr vorgesehen war«.

Des weiteren zeigte er die Struktur der Häftlingsgeldverwaltung auf und las die Namen der dort tätigen Mitarbeiter vor. Während der Angeklagte den vorherigen Aussagen der Überlebenden und Angehörigen vollkommen reglos begegnete, kam plötzlich Bewegung in seine Erinnerungen, nach jedem Namen nickte er, als würde er eine innere Liste seiner „Kameraden“ durchgehen. Er nimmt also sehr wohl alles im Prozess Gesagte wahr und auf, aber die Perspektive der Opfer prallt vollkommen an ihm ab, während er bei der Nennung seiner „Kameraden“ sofort Regungen zeigt.

Wichtig ist von der Darlegung der Sachverständigen noch zu nennen das „Dienstleistungszeugnis“ vom 17.10.1944, das dem Angeklagten bescheinigt: „Alle ihm übertragenen Aufgaben hat er mit Fleiß und Sorgfalt erledigt. Gröning hat einen einwandfreien Charakter. Sein soldatisches Auftreten war jederzeit stramm und korrekt. Weltanschaulich ist er gefestigt.“

Desweiteren wurde Herr Hördler von einem Anwalt der Nebenklage auf das Verhältnis von SS Männern und Kapos hinsichtlich der Hierarchien in Auschwitz gefragt. Dieser stellte eindeutig klar, dass sich zu jedem Zeitpunkt sämtliche Machtkonzentrationen bei der SS (der Angehörige hat sich freiwillig zur Waffen SS gemeldet) befanden. Hintergrund ist, dass der Angeklagte in der ersten Prozesswoche viele schlimme Erlebnisse mit den Kapos in Verbindung brachte, die sich aus seiner Sicht ja sowieso alle aus „Berufsverbrechern“ zusammen gesetzt hätten und schrieb ihnen eine unglaubliche Macht und Machtmissbrauch zu, der soweit ging, sie hätten sich dort wie die wahren Herren(menschen?) aufgeführt und man konnte dagegen ja kaum etwas machen, da sie ihre eigenen Machtstrukturen hatten. Er schrieb ihnen also eine Übermacht und Machtmissbrauch zu, um seine eigene Verantwortung im Nachhinein weg zu delegieren.

Es wurden auch Dokumente aufgezeigt, die eine Disziplinarstrafe wegen Diebstahl beinhaltete und die Frage stand im Raum, ob sich nun nicht ein Widerspruch auftut, wenn wir jeden Tag von der alltäglichen Korruptionspraxis einschließlich Aneignen von Diebesgut einerseits und einer dokumentierten Bestrafung dessen hören? Nein, es ist beides gleichzeitig erfolgt, führte der Sachverständige aus, es ist in Fällen disziplinarisch bestraft worden, wo die persönliche Bereicherung ein zu großes Ausmaß angenommen habe, im alltäglichen kleinen Ablauf jedoch nicht.

Für uns wichtig zu nennen ist auf jeden Fall noch der Antrag des Anwalts der Nebenklage Cornelius Nestler: Er beantragt die Ladung des Staatsanwaltes Galm aus Frankfurt / Main. STA Galm hat 1985 das einzige Verfahren gegen Gröning eingestellt, er schrieb dazu, dass sich „kein zur Erhebung der öffentlichen Klage hinreichender Tatverdacht“ ergeben habe. „Wegen Geschäftsandrangs“ sollten die Einstellungsgründe später ausführlicher formuliert werden, dies ist nie erfolgt. Nach Grönings Interview beim Spiegel 2005 entschied sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt dagegen, erneut Ermittlungen aufzunehmen. RA Nestler möchte durch die Ladung des Staatsanwaltes Galm, dass er darüber aussagt, woher die bisher gesichteten Dokumente sind und das sie echt sind (es wird immer nur darauf verwiesen „die Dokumente aus Frankfurt“), maßgeblich möge Herr Galm jedoch ausführen, wie er seine Auffassung bzgl. der Rampentätigkeit in Auschwitz begründet. Seine Auffassung hierzu sind in Teilen in einem Artikel des Neuen Deutschland zu entnehmen, in dem es heißt:

Aufgefordert von der Zentralstelle zur Verfolgung von Naziverbrechen in Ludwigsburg, sich des Falles anzunehmen, schrieb ein Staatsanwalt Galm am 11. Juli 2005 auf vier Seiten, weshalb man Gröning nicht anklagen werde. Es gebe keine Kausalität zwischen Grönings Tun und der Vernichtung der Menschen. Soll heißen, die wären so oder so umgebracht worden. Zitat: »Soweit der Beschuldigte als Angehöriger der G.E.V zum Rampendienst eingesetzt wurde, kann ihm ein strafrechtlich verwertbares Verhalten unter dem Gesichtspunkt der Beihilfe zum Mord nicht gemacht werden.«

Nein, man kann dem Staatsanwalt nicht vorwerfen, dass er sich nur oberflächlich mit dem Fall Gröning und Auschwitz befasst hätte. Detailliert schildert der Jurist die Abläufe auf der Rampe und betont, Gröning habe ja nicht da gestanden, um etwaige Fluchtversuche zu verhindern.

Und selbst wenn, es gab ja keine, denn: »Hinzu kommt ja auch, dass die Deportierten vielfach familienweise ankamen und auch hofften, bei ihren Familien bleiben zu können, so dass, abgesehen von den Alten und Gebrechlichen, auch Fluchtfähige nicht von vornherein zur Flucht bereit waren.« Der Staatsanwalt sagt es nicht, doch seinen Worten ist zu entnehmen, dass die Juden aus seiner Sicht selbst mithalfen bei ihrer Vernichtung. »Es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die zur Flucht fähig und bereit gewesen wären, zunächst als arbeitstauglich ins Lager aufgenommen wurden.« Und wie viele dieser Personen im Lager »an Entkräftung, Seuche oder durch Selektionen ums Leben kamen, lässt sich nicht feststellen«. Noch im Januar 2013 hatte sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt nicht eines Besseren besonnen.“ Quelle: ND / 21.04.2015:

www.neues-deutschland.de/artikel/968538.beihilfe-zu-mord-in-300-000-faellen.html

Dies ist ein sehr wichtiger Antrag, denn hier geht es darum, sich mit den deutschen Ermittlungsbehörden und ihrem skandalösen Umgang mit NS Tätern auseinander zu setzen. Die eben genannte Aussage über die „Unerheblichkeit“ des Rampendienstes wurde eben nicht in den 50er oder 60er Jahren von einem deutschen Staatsanwalt gegeben, sondern 2005.

[…]

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 6 + 7

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Prozessverlauf der vergangenen Woche informieren. Vorab einige Infos:

1. Wir gehen im Moment davon aus, dass der Prozess wie geplant am morgigen Dienstag fortgesetzt wird. In der aktuellen Woche, am 12.05. und 13.05. werden die letzten Zeug*innen der Nebenklage aussagen. Dies nur als Hinweis, falls manche sich überlegen, den Prozess zu besuchen. Dies ist die letzte Woche, in der Auschwitz – Überlebende aussagen, sie kommen u.a. aus England, Kanada und Ungarn angereist. Ein Erscheinen um 7:30 Uhr ist weiterhin empfehlenswert (ab 8:30 Uhr beginnt der Einlass), auch letzte Woche kamen nicht alle Wartenden hinein.

2. Es haben sich Prozesstermine bzw. deren Inhalte konkretisiert: Am Donnerstag, den 21.05.2015 werden zwei Sachverständige als Gutachter (Dr. Sven Anders und Dr. Hilke Andresen-Streichert vom UKE / Istitut für Rechtsmedizin) bzgl. Zyklon B, Wirkungsweise etc. vor dem Gericht sprechen. Am Dienstag, den 26.05.2015 wird der ehemalige Richter sprechen, der in den 1990ern die Verhandlung gegen einen ehemaligen „Kameraden“ des Angeklagten führte, in der der Angeklagte damals als Zeuge geladen war und auch aussagte.

3. Es sind vereinzelt auch immer wieder Rechte im Gerichtssaal anwesend, die dem Verlauf als Besucher folgen. Während am letzten Mittwoch der lokale NPDler Jürgen Henke dem Prozess beiwohnte und ohne weiteres Aufsehen das Gericht nach ca. 2 Stunden wieder verließ, ist am Donnerstag ein Mann im Publikum dadurch aufgefallen, dass er immer wieder versucht hat, die Umsitzenden in Gespräche zu verwickeln und nach einem anfänglichen small talk gezielt gegen den Prozess gehetzt und Unwahrheiten verbreitet hat (es habe nie eine Rampe gegeben,… es galt nur der Desinfektion…etc.). Dies in einer sehr offensiven und beharrlichen Weise, da er immer wieder neue Menschen ansprach. Wenn ihr also den Prozess besucht, haltet auch im Publikum Augen und Ohren offen und widersprecht.

Mittwoch, 06.05.2015 Tag 6

Der sechste Verhandlungstag begann mit der Begründung des Vorsitzenden Richters Kompisch, warum die (mittlerweile sehr spärlich besetzten) Plätze der Presse nicht zum Teil in Plätze für Besucher umgewandelt werden. Zum Verständnis: An bisher jedem Prozesstag konnten Wartende nicht mehr eingelassen werden, alle Plätze waren belegt, die Plätze der Presse waren jedoch nur zu 25% besetzt. Richter Kompisch begründete seine Ablehnung in Form von zwei Ausführungen:

a) die Presse habe 60 akkreditierte Plätze. Sollten nun von den nicht besetzten Plätzen welche an die Besucher vergeben werden, so würde im Bedarfsfall das Mischungsverhältnis (der Presse) nicht mehr stimmen.

b) Sollten bis 9:30 Uhr keine weiteren Vertreter der Presse anwesend sein (außer den derzeitigen), so könnte Einlass gewährt werden. Dies würde dann jedoch eine nicht hinnehmbare zeitliche Verzögerung des jeweiligen Prozessgeschehens beinhalten, da die interessierten Besucher im Vorfeld die bestehenden Sicherheitsvorkehrungen passieren müssten. Ergo: sich rechtzeitig vor der Ritterakademie einfinden, dann ist der Einlass auch möglich.

Ebenso nahm der Vorsitzende Richter Stellung zu dem Antrag des Anwalts der Nebenklage, Prof. Dr. Nestler. Dieser hat in der Vorwoche die Ladung des Staatsanwalts Galm aus Frankfurt beantragt, u. a., damit er seine Auffassung darlegt, mit der er seine Weigerung der erneuten Ermittlungsaufnahme gegen Herrn Gröning im Jahre 2005 begründete. So sei die Auffassung vertreten worden, „dass SS-Wachmannschaften an der Rampe für die Ermordung Hunderttausender Juden überflüssig waren“ (wir haben in der vorherigen mail fälschlicherweise das Wort „unerheblich“ statt „überflüssig“ geschrieben, im Ergebnis aber genauso skandalös):

www.kreisbote.de/politik/auschwitz-ueberlebende-kritisieren-deutsche-justiz-zr-4926834.html

Der Antrag des Anwalts wurde abgelehnt, der Vorsitzende Richter begründete seine Ablehnung damit, dass die Echtheit der Dokumente nicht angezweifelt werden (auch dies sollte bei der Zeugenvernehmung aufgezeigt werden) und zudem eine erneute Stellungnahme nicht zielführend sei. Dies wurde vom Verteidiger, RA Holtermann, bekräftigt. Hier der Spiegel Artikel von 2005:

www.spiegel.de/spiegel/print/d-40325395.html

Im Anschluss sprach der 90jährige Tibor Bolgar aus Montreal, der als Zeuge geladen war. Er begann seine Aussage mit der Schilderung der Besetzung Ungarns durch die Deutschen. Anschließend schilderte er seine Deportation und den Transport mit 80 – 90 Menschen in einem Viehwaggon nach Auschwitz-Birkenau. Im Waggon befanden sich zwei Eimer. Einer war mit Wasser gefüllt, der andere war als Toilette bestimmt. Als sie in Auschwitz ankamen, wurde am Ende der Rampe die Selektion durchgeführt. Seine 13jährige Schwester sowie seine Mutter wurden nach links verwiesen und er nach rechts. Er hat sie dort zum letzten Mal gesehen. Er hat von anderen Menschen erfahren, dass ältere Häftlinge jungen Frauen mit Kindern an der Rampe auf dem Weg zur Selektion gesagt haben „Gib dein Kind einer alten Frau“. Er erinnerte sich, dass alle Menschen ihr Gepäck im Waggon liegen lassen sollten. Ihnen wurde mitgeteilt, dass „das Gepäck nachgetragen“ werde.

In Auschwitz-Birkenau war Tibor Bolgar 3 Tage in einem gesonderten Areal, in dem er nichts erfahren hat, was außerhalb des Areals stattfand. Er schilderte die „Essenvergabe“. Manchmal haben 6 Häftlinge aus einer Schüssel sogenannte Suppe getrunken, die fast nur aus dreckigem Wasser bestand. Die Grundausstattung bestand eigentlich für jeden Häftling aus einem Löffel und einer Blechkelle. Morgens gab es einen halben Liter sogenanntes Kaffeewasser und mittags die sogenannte Suppe. Sonntags gab es Brot, zuerst einen 2/3 Laib dann nur noch 200g.

Er konnte nicht verstehen, was die Männer der Wachmannschaften auf deutsch über sie sagten aber er erinnerte sich an das Wort „Hunde“. Er sagte, dass die Häftlinge die Worte so verstanden haben, dass sie wie Hunde seien und wie Hunde behandelt werden könnten. Er betonte daraufhin, dass sie sich gewünscht hätten, wie Hunde behandelt zu werden, da die Deutschen gut zu ihren Hunden waren.

Er hat damals angegeben, Elektriker zu sein, da stets ein Bedarf an handwerklich fähigen Arbeitskräften bestand. Nach drei Tagen wurde er deshalb mit anderen Häftlingen ins ehemalige Warschauer Ghetto gebracht. Dort sollte der nunmehr nur noch verbliebene Schutt geräumt werden.

Er erzählte auch über die Arbeitsbedingungen: An sechs Tagen in der Woche mussten alle Häftlinge 12 Stunden Schutt räumen. Wenn jemand beim Tragen der 50 Kg schweren Zementsäcke zusammenbrach, durfte niemand ihm aufhelfen.

Herr Bolgar war auf dem ersten Todesmarsch der Geschichte nach Dachau und schilderte unter anderem ein Ereignis, dass für ihn bis heute sehr schrecklich ist. Unter den Häftlingen auf dem Todesmarsch war ein taubstummer Mann. Er wurde stets von anderen Häftlingen begleitet und gelotst. Nach 5 Tagen ohne Essen und ohne Wasser wurde an einem See eine Pause eingelegt. Die Männer sind ins Wasser gegangen. Als von den Wachmannschaften der Rückruf kam, hat der taubstumme Mann nichts gehört. Er war unter Wasser als die anderen um ihn herum den See verließen. Dann stellten die Häftlinge fest, dass er noch im See stand. Sie mussten dann mit ansehen, wie die Wachmannschaften ihre Hunde auf ihn hetzten, die ihn sofort angriffen. SS-Männer haben ihn dann unter Wasser gedrückt bis er tot war.

Von Dachau kam er in das Außenkommando Mühldorf in die Rüstungsproduktion für die Luftwaffe. Das Lager wurde „Lager 60“ genannt. Die 60 stand für die Zahl der Tage, nach denen die Häftlinge meistens starben. Er berichtete von wöchentlichen Rasieraktionen am Sonntag, „wir waren verlauste Skelette“. Sie mussten stets ihre verlauste Bekleidung behalten. Er sollte dann an einen anderen Ort gebracht werden, an dem die Menschen sofort getötet wurden. Auf dem Weg dorthin wurde der Zug von den Alliierten angegriffen und er konnte endlich den Deutschen entkommen.

Die US-Armee brachte die verbliebenen ehemaligen Häftlinge in eine Einrichtung, die der Hitler-Jugend gehörte. Dort hat er dann zum ersten mal seit einem Jahr auf einem Stuhl gesessen und an einem Tisch gegessen. Es gab Weißbrot und richtige Suppe. Er erzählte weiter, dass sie diese normale Nahrung nicht mehr gewohnt waren und viele Menschen deshalb starben. „Das Essen war zu fett, mehr als 300 von uns starben daran“. Er selbst lag 9 Tage schwer krank im Bett und überlebte.

Tibor Bolgar versuchte dann zwei Jahre auszuwandern, was ihm dann schlussendlich gelang. Er hat über einen Zufall von dem Überleben seines Vaters erfahren. Aus dem Ort in Ungarn, aus dem er kam, hatten nur 150 Juden von 1100 überlebt. Auf die Frage des Richters, wie viele Menschen aus seiner Familie tot seinen, antwortete er: „15% haben überlebt, alle anderen sind getötet worden“.

In seiner Aussage sagte Herr Bolgar, dass er die Welt gehasst habe. Er habe die einen dafür gehasst, was sie ihm und den anderen Juden angetan haben und die anderen habe er dafür gehasst, dass sie zu wenig oder gar nicht geholfen haben. Er berichtete, dass es sehr früh schon eine Konferenz gegeben habe. Dort saßen viele Staatsoberhäupter und die Frage über die Ausreise der Juden aus Deutschland stand im Raum. Niemand, so sagte er, habe dort etwas gesagt oder bereit erklärt etwas zu tun. Er sei nach Venedig gefahren, da dort bereits vor Jahrhunderten ein Ghetto geschaffen wurde. Dort existiert ein Gedenkstein, auf dem u.a. steht, „wir dürfen nicht vergessen“. Er war enttäuscht darüber, wieviel seit damals trotz dieser Mahnung geschehen ist. Er wollte mit diesem Hass nicht mehr leben.

Herr Bolgar berichtete davon, dass er häufig nach Auschwitz fahre, aber nicht als Überlebender. Er sagte dazu, dass er als Zeuge dort sei und anderen Menschen berichten wolle, damit auch diese dann Zeugen sind. Er schilderte die erstaunten Gesichter der dortigen Besucher über die riesigen Berge u.a. an Schuhcreme und Küchenartikeln. Er sagte, dass die Juden dachten, dass sie Sonntags in die Synagoge gehen könnten und die Frauen überlegten welche Geräte sie für ihre Gerichte bräuchten. „Wir dachten damals, wir kommen in ein Arbeitslager“.

Er beendete seine Aussage mit den Worten „Wir müssen uns erinnern“.

Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Rechtsanwälte der Nebenklage erkundigten sich bei Herrn Bolgar nach der Atmosphäre auf der Rampe beim Verlassen des Zuges. Tibor Bolgar sagte „Wir alle waren verwirrt“. Alle haben nur auf den Boden gesehen und kaum aufgeblickt. Er habe Männer in Uniform gesehen, diese jedoch nicht in Funktionen bzw. Berufsgruppen unterscheiden können. Er hatte zudem Hundegebell gehört. Er erinnerte sich an die Schlange an der Rampe und an die Soldaten, die sie in diese Schlange zurück schickten und traten, wenn man sie verließ. Diese Schlange, die am Ende, dem Ort der Selektion über Leben oder Tod entschied.

Nach der Zeugenaussage von Tibor Bolgar, trat Ilona Elaine Kalman als Nebenklägerin auf und verlas einen vorbereiteten Text. Frau Kalman ist 67 Jahre alt und kommt ebenfalls aus Montreal, wo sie u.a. als Journalistin und Autorin tätig ist. Sie ist die Schwester von Judith Kalman, die am 5. Prozesstag als Zeugin der Nebenklage ausgesagt hatte. Ilona Elaine Kalman berichtete von dem Leben ihrer Eltern und ihrer kleinen Halbschwester Edith, genannt Evike. Ihr Vater hatte Auschwitz überlebt aber seine Frau und Mutter des gemeinsamen Kindes ist dort getötet worden, ebenso die ihre Halbschwester selbst. Frau Kalman schilderte wie sie selbst aufwuchs. Sie berichtete von den Fotoalben, die ihre Eltern mit Leben füllten, indem sie ihr viele Geschichten über die Menschen erzählten. Die kleine Evike hatte bereits früh, mit vier Jahren, lesen und schreiben gelernt und stets kleine Briefe an ihren Vater geschrieben, die dieser aufbewahrte. Während Frau Kalman über Evike sprach, wurde auf der Leinwand im Saal einer dieser Briefe gezeigt. Im weiteren Verlauf hat Frau Kalman auch weitere Bilder aufgezeigt, einige sind hier festgehalten:

http://montrealgazette.com/gallery/0425-extra-war-crimes-gallery

Der Angeklagte Gröning hatte diese Bilder kurz angesehen und dann seinen Blick wieder gesenkt.

Ilona Elaine Kalman trug vor, wie Evikes Mutter den 6. Geburtstag des Kindes wahrnahm. Die Mutter sagte damals zu ihr „Mein liebes Kind, du sollst 120 Jahre alt werden“ (jüdisches traditionelles Sprichwort) und vertraute dem Vater ihre Traurigkeit an „Ich bedaure, dass unser geliebtes Kind in diesen traurigen Zeiten leben muss, mögen die nächsten Geburtstage unter glücklicheren Umständen stattfinden.“ 45 Tage später sind Evike und ihre Mutter direkt von der Rampe zur Selektion in die Gaskammer geführt worden.

Frau Kalman gab an, dass der Holocaust stets Gast in ihrem zu Hause war. Wenn sie mit ihrer Schwester Judith und den Eltern am Tisch saß, so lernte sie früh deutsche Orte kennen, Sie erinnerte sich an die Namen: Bergen-Belsen, Dachau, Auschwitz,… Obwohl Evike vor ihr geboren war, so habe sie stets das Gefühl von einer kleinen Schwester, wenn sie an sie denke.

Als ihr Vater starb, sagte eine Freundin der Familie (deren eigene Angehörigen alle in Auschwitz ermordet wurden), dass dies für sie eine neue Erfahrung sei „Abschied nehmen zu können“. Sie saßen Schiwa, hängten die Spiegel ab, gedachten des Verstorbenen und trauerten. Sie veranschaulichte durch diese Aussage, bei vielen Menschen nicht einmal die Möglichkeit des Abschiednehmens und Trauerns gegeben war.

Über die Mutter von Evike sagte Frau Kalman, dass sie eine sehr willensstarke Frau gewesen sei. Ihre kleine Halbschwester sei an der Hand ihrer Mutter auf der Rampe in Auschwitz das Todesurteil für sie gewesen. Niemals hätte sie aber ihr Kind losgelassen.

Nach den Ausführungen von Frau Kalman erkundigte sich Rechtsanwalt Holtermann über die weitergehende Planung bzw. den zeitlichen Verlauf. Sein Mandant sei körperlich erschöpft.

Richter Kompisch antwortete, dass er es als schwierig ansehe, da als nächstes der Historiker Herr Hördler als Sachverständiger geladen sei und nur noch bis zum nächsten Tag Zeit hätte.

Rechtsanwalt Holtermann sagte, dass sein Mandat lediglich noch 30 Minuten dem Prozess beiwohnen könne. Der Richter fragte dann die Nebenklage, ob die Zeugin Frau Weiss statt am 7. Mai bereits an diesem Tag ihre Aussage machen könne. Rechtsanwalt Holtermann warf daraufhin ein, dass es nicht gewollt sei, die Zeugin unter Zeitdruck aussagen zu lassen. Die Nebenklage wollte dies mit Frau Weiss besprechen, gab gleich aber zu bedenken, dass es für sie eine schwere emotionale Situation sei, da sie sich auf den 7. Mai vorbereitet und eingestellt habe.

Das Gericht fasst daraufhin den Beschluss, den Prozeßtag zu beenden und sowohl den Sachverständigen als auch die Zeugin am folgenden Tag aussagen zu lassen. Der Richter ergänzte, auch trotz dieser Vertagung sei der Prozess insgesamt weiterhin in einem „guten Fahrplan“.

Hier noch einige Artikel:

www.bbc.com/news/world-europe-32493010

www.faz.net/aktuell/politik/inland/prozess-gegen-oskar-groening-judith-kalmans-aussage-13577570-p4.html?printPagedArticle=true#pageIndex_4

Donnerstag, 07.05.2015 Tag 7

Der Prozesstag begann eine halbe Stunde verspätet und es war allen Anwesenden klar, dass eine Änderung bevorsteht, da der Angeklagte nicht erschienen war. Der Vorsitzende Richter Kompisch klärte die Situation auf, der Gesundheitszustand des Angeklagten habe sich zum Vortag nicht verbessert, aufgrund seiner Abwesenheit kann heute kein Prozesstag durchgeführt werden. Es wurde ebenso ausgeführt, dass nun neben dem Hausarzt des Angeklagten auch ein Gerichtsmediziner hinzugezogen werden soll, um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen. Dies wurde bereits am Vortag von einem Anwalt der Nebenklage beantragt, um eine bessere Planbarkeit des Prozessverlaufs zu erhalten. Zentral stand nun die Frage im Raum, wie der weitere Verlauf der Tatsache gerecht werden kann, dass die Zeugin der Nebenklage Irene Weiss nur noch am heutigen Tag anwesend ist. Es folgte eine Unterbrechung und Beratschlagung, welche Möglichkeiten der Anhörung der Zeugin bestehen, sie ist für ihre Aussage aus Fairfax / USA angereist. Es wurden von Vertretern der Nebenklage verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt:

– Die Zeugin bleibt solange in der Stadt, bis der Angeklagte wieder verhandlungsfähig ist und sagt dann aus. Dies stellt eigentlich keine Option dar, da für die Zeugin überhaupt nicht planbar.

– Die Zeugin kommt wieder, wenn der Angeklagte wieder verhandlungsfähig ist. Dies stellt in Anbetracht einer langen Reise aus der USA und des hohen Alters / der Belastung für die Zeugin auch keine Option dar.

– Es erfolgt eine kommisarische Vernehmung, dies ist möglich, wenn der Angeklagte nicht anwesend ist, aber dem zustimmt. Ebenso müssten sämtliche Nebenkläger*innen zustimmen und die Öffentlichkeit wäre auszuschließen. Diese Option wurde von den Vertretern der Nebenklage als von ihnen favorisierte diskutiert und nach einer Pause stellte der Richter Kompisch fest, dass eine kommisarische Vernehmung nicht erfolgen wird. Erklärung des Landgerichts dazu: „Die strafprozessualen Voraussetzungen für eine kommissarische Vernehmung der Zeugin Weiss, die von der Nebenklage angeregt worden war, hat die Kammer für fraglich erachtet und deshalb von einer solchen Vernehmung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch ein Mitglied der Kammer erfolgt wäre, abgesehen.“ Es wurde beschlossen, dass die Zeugin ihre Aussage schriftlich einreicht / hinterlässt, die dann im Fortgang des Prozesses verlesen wird.

Frau Weiss hat Fotos mitgebracht, die die Situation an der Rampe in Auschwitz Birkenau zeigen, auf dem Foto ist sie zu sehen, wie sie nach ihrer Schwester sucht. Dieses und weitere Dokumente wollte sie im Gericht aufzeigen, dies war nun nicht mehr möglich. Das Ende des Faschismus erlebte Frau Weiss im KZ Neustadt Glewe, einem Außenlager des Frauen KZ Ravensbrück. Während ihres jetzigen Aufenthaltes hat Frau Weiss diesen Ort, der ca. 100km von Lüneburg entfernt liegt, aufgesucht. Es war das erste mal nach 70 Jahren. Es ist unglaublich bitter, dass sie ihre Erinnerungen und Erfahrungen nicht persönlich vor Gericht vortragen kann, wir haben hier einige links mit Informationen zu Frau Weiss gesetzt:

www.ushmm.org/remember/office-of-survivor-affairs/survivor-volunteer/irene-fogel-weiss

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Auschwitz-Prozess-wird-erneut-unterbrochen,auschwitzprozess130.html

www.stern.de/panorama/auschwitz-prozess-gegen-oskar-groening-ueberlebende-irene-weiss-erzaehlt-ihre-geschichte-2192061.html

www.tagesspiegel.de/politik/lueneburger-auschwitz-prozess-oskar-groening-zu-schwach-prozesstag-abgebrochen/11742750.html

www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/22229

Mit antifaschistischen Grüßen

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen



	

Tag 8 + 9

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf des Prozesses in der vergangenen Woche informieren, vorab einige kurze Hinweise:

1. Die am vergangenen Mittwoch als Zeugin der Nebenklage aussagende Susan Pollack war die letzte Auschwitz-Überlebende, die in diesem Verfahren spricht. Am Mittwoch hat Herr Nestler, einer der Anwälte der Nebenklage, der mit RA Thomas Walther 50 der 67 Nebenkläger*innen vertritt, das Gericht darüber informiert, dass Frau Irene Weiss überlegt, ob es ihr doch möglich ist, erneut nach Lüneburg zu kommen und persönlich als Zeugin auszusagen. Dies war ihr am 07. Mai nicht möglich, da der Prozess aufgrund der Nicht–Anwesenheit des Angeklagten nicht stattfand. Stattdessen sollte ihre schriftlich eingereichte Aussage verlesen werden. Der Vorsitzende Richter Kompisch begrüßt es sehr, sollte dies möglich sein und Frau Weiss würde am Ende der Beweisaufnahme sprechen. Dies wäre nicht nur für sie, die wie die vielen anderen auch jahrelang darauf warten musste, vor einem deutschen Gericht gegen einen ehemaligen SS-Mann auszusagen, wichtig, sondern wir sehen darin auch einen hohen symbolischen Wert: Die Beweisaufnahme in diesem Prozess würde nicht mit den Aussagen eines Sachverständigen, mit Auseinandersetzungen über Dokumente, mit Nachfragen der verschiedenen Prozessbeteiligten schließen, sondern mit der Stimme einer Überlebenden, die Zeugnis über das Geschehene ablegt. Wir hoffen sehr, dass es Frau Weiss möglich sein wird, erneut nach Lüneburg zu kommen und werden Euch umgehend informieren, sollte sich dies konkretisieren.

2. Die Hauptverhandlung dieses Prozesses erfolgt in der Lüneburger Ritterakademie. Gleichermaßen spielen sich rund um die Prozesstage viele Erlebnisse, Geschehen und Situationen ab. Dazu zählt auch die örtliche Nähe des Prozesses zu einem Denkmal: Ein für uns nennenswerter Aspekt ist die Tatsache, das wir Wartenden jeden Morgen vor Prozessbeginn auf ein 50 Meter entferntes Denkmal schauen, mit dem die 110. Infanterie Division der Wehrmacht bzw. ihre Gefallenen geehrt werden. Ihnen wird als Opfer des Krieges gedacht, des Traumas, das ihnen widerfahren sei. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass eben diese Einheit zu Teilen verantwortlich für Kriegsverbrechen an zigtausenden Menschen der Zivilbevölkerung in Weißrussland war. Wäre es nur ein Denkmal wie so zahlreich in Deutschland anzutreffen, wäre es zu kritisieren. Vor dem Hintergrund jedoch, dass im letzten Jahr ein sog. „Friedenspfad“ in Lüneburg konzipiert wurde, der dieses Denkmal (und somit die, derer dadurch gedacht werden soll) unkommentiert in eine Reihe mit Opfern des Faschismus stellt und die Hinweise und Informationen auf die Beteiligung an Kriegsverbrechen ignoriert, ist es ein Skandal. Die Lüneburger VVN-BdA hat hierzu recherchiert und Informationen verteilt. Diese haben wir Euch als Anhang mit beigefügt, ebenso die Informationen zum Film „Ozarichi 1944“, der über die Kriegsverbrechen und die Beteiligung der 110. Infanteriedivision berichtet und vor einer Woche im Lüneburger Scala Kino im Rahmen der Veranstaltungen zum 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus gezeigt wurde. Mehr Hintergrundinformationen bietet auch dieser Bericht: www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article125647121/Wehrmacht-liess-in-Lager-nutzlose-Esser-verenden.html Die 110. ID aus Lüneburg wird in diesem Artikel nicht explizit genannt, aber die 9. Armee der Wehrmacht, zu der die 110. ID zählt.

Flugi v.d.Gericht 5.15

Flugi Matinee Ozarichi

3. Die am 27.04.2015 im Uelzener Rathaus erfolgte Veranstaltung mit Eva Pusztai-Fahidi und Hedy Bohm ist als Audio–Datei hier anzuhören bzw. runterladbar: www.freie-radios.net/70240

Dienstag, 12.05.2015 – Tag 8

Zu Beginn des 8. Prozesstages fanden sich viele Interessierte vor der Lüneburger Ritterakademie ein, 60 von ihnen konnten als Besucher*innen Einlass erhalten. Weitere 30 blieben mit der Hoffnung auf einen später frei werdenden Platz bis mittags vor der Tür stehen, leider ohne Aussicht auf Erfolg. Der Vorsitzende Richter Kompisch teilte allen Anwesenden anfangs mit, dass ein Gerichtsmediziner den kürzlich erkrankten Oskar Gröning ausführlich untersucht habe und ihm Verhandlungsfähigkeit bescheinigte, allerdings mit einer zeitlichen Begrenzung der Belastbarkeit von 3 Stunden täglich. Der Angeklagte selbst antwortete auf die Frage des Richters bzgl. seiner aktuellen Verfassung, dass er sich nicht gut fühle, er leide unter Kopfschmerzen und Schwindel, wolle jedoch am Fortfahren des Prozessgeschehens festhalten.

Als erste Zeugin der Nebenklage sagte Henriette Beck aus. Sie ist 56 Jahre, arbeitet als Heilpraktikerin und kommt aus Neumarkt-Sankt Veit (Bayern). Sie berichtete von ihrem Vater, der in Auschwitz Birkenau seine erste Frau und ihre Halbschwester – die 5jährige Eva – verloren hat. Frau Beck erzählte, dass jedes Jahr zum Geburtstag von Eva am 6. Oktober Kerzen angezündet wurden und ihrer gedacht wurde. „Diese Schattenfamilie hat mich immer begleitet“, sagte sie. Sie beschrieb ihren Vater als einen sehr engagierten Mann, der – trotzdem er als Häftling in Auschwitz und Dachau war – in Deutschland geblieben ist und dort eine neue Familie gegründet hat. Er hat mit zwei jüdischen Freunden ein Strickwarengeschäft aufgebaut. In der Region ist er zum Ehrenbürger ernannt worden, nicht weil er Überlebender des Holocaust ist, sondern für seine Verdienste u.a. durch sein Wirken als Vereinsvorsitzender, seine Tätigkeiten als Stadtrat, usw. Ihr Vater habe nie mit ihr über seine traumatische Vergangenheit sprechen können, erst in den letzten Jahren sei es ihm möglich gewesen durch Interviews seine eigene Geschichte zu thematisieren. Ihr Vater ist bereits verstorben, sie selbst wolle ebenso wie er damals in Deutschland leben bleiben. Sie betonte die Möglichkeit hier eine Religion auszuüben ohne unterdrückt zu werden, zeuge von der Toleranz, die sie auch in anderen Bereichen wieder fände. Frau Beck beschreibt ihre Generation als die Generation der Kinder von Opfern und der Kinder von Tätern. Auf die Frage von Richter Kompisch über die Größe ihrer Familie antwortete sie:“ Ich weiß nicht, wie viele meiner Verwandten in Auschwitz getötet wurden, aber es sind fast keine über geblieben.“

Als zweite Zeugin der Nebenklage sprach nun Kathleen Zahavi aus Toronto, Kanada. Wenn auch in den letzten Tagen und Wochen dieses Prozesses deutlich wurde, wie sehr sich die Erlebnisse ähneln, ist doch wie jede Person selbst auch jede Aussage eines Überlebenden und auch Angehörigen individuell, persönlich, anders. So waren die bisherigen Schilderungen schon sehr berührend. Die Aussage von Frau Zahavi zählt zu den Momenten, die in uns die Überzeugung stärken, dass jeder verändert aus diesem Prozess geht. Dies hat mit der Atmosphäre zu tun, die den ganzen Raum erfasst, wenn eine Aussage nicht nur aus Worten, Sätzen, Erklärungen besteht, sondern eine emotionale Spannung herrscht, die spürbar ist, die einen komplett erfasst. Frau Zahavi hat von Anfang an mit den Tränen gerungen und mit empörter Stimme begegnet sie der (formal zum Ablauf jeder Zeugenbefragung notwendigen) Frage des Vorsitzenden Richters Kompisch, ob sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert sei: „Absolutely not!“.

Die heute 86jährige beginnt sichtlich bewegt ihre Aussage mit der Schilderung ihrer Kindheit. „Es waren wunderbare Zeiten“, sie berichtet vom Haushaltswarengeschäft ihres Vaters, davon, wie ihr Onkel sie und ihre vielen Cousins und Cousinen mit dem Pferdewagen abholte, damit sie auf dem Bauernhof spielen konnte. Sie spricht über ihre Mutter Rosa, über ihre älteren Schwestern Ilona und Magda – nur sie und ihre Schwester haben den Holocaust überlebt. Frau Zahavi hat mehr als 100 Verwandte verloren.

Sie war 15 Jahre alt, als die Deportationen der jüdischen Bevölkerung von Ungarn begann. Ihr Schwager und ihr Vater waren da bereits verschleppt worden. Ausführlich berichtet sie, wie schon vorher der Hass auf die Jüdinnen und Juden grassierte, wie sie in der Schule angespuckt wurde, die damalige Zeit beschreibt sie als „Spießrutenlauf“, auf dem Abschlussfoto der Schule habe sie versucht, den gelben Stern zu verbergen, den sie tragen mussten. Sie schildert, wie sie ins Ghetto getrieben und von dort in die Viehwaggons gestoßen wurden. So viele Menschen wie möglich stopften die Nazis in die Waggons, die mehrtägige Fahrt, die nur unterbrochen wurde, um die Leichen ohne Respekt raus zuwerfen: „Wir fühlten uns wie Tiere, wir wurden schlimmer behandelt wie Tiere“. Weinend berichtet sie von der Ankunft in Auschwitz Birkenau, wie sie über Leichen aus dem Zug getrieben wurden, voller Angst, was nun mit ihnen geschehe. Dann wechselt die Sprache ihrer Aussage, die sie in englisch hält, ins deutsche: „Macht schnell!“. Es sind die Kommandos der SS-Männer, kalt, beißend, gellend, die sich in dieser Sprache über Jahrzehnte eingebrannt haben und sofort präsent sind, wie das Bellen und Kläffen der Hunde. Dies war schon bei den vorherigen Aussagen eines Zeugen der Fall, als er in seiner englischen Aussage einen Satz auf deutsch sagte, der ihm bis heute in Erinnerung geblieben ist und den er damals im Radio hörte: „Die Juden müssen ausgerottet werden!“. Es sind einzig Kommandos, Schikanen, Vernichtungspläne, die sie mit der deutschen Sprache verbinden. Es sind die Namen der Konzentrationslager, die sie in der Auflistung von deutschen Orten benennen. Das sind Momente, die kein Geschichtsbuch, keine Dokumentation über den Massenmord an den Juden je so vermitteln könnte. Frau Zahavi berichtet über ihre Konfrontation mit den vier oder fünf SS–Männern an der Rampe, die aggressiv und schreiend auftraten. Dann hebt sie ihre Stimme und spricht den Angeklagten direkt an: „Wie Sie“. Sie schildert die Selektion, sie konnte sich nicht von ihrer Mutter und Tante verabschieden, sie wurde mit ihrer Schwester nach rechts geschickt. Ihre Mutter und ihre Tante wurden direkt in die Gaskammern geführt.

Sie mussten Beschäftigungsappelle durchführen, sie hatte kaum noch Kraft und war sehr dünn. Josef Mengele schickte sie in Block 8 des Lagers, wo nur Kinder waren. Von dort aber rannte sie heimlich zur Baracke ihrer Schwester zurück. Block 8 war am nächsten Tag leer, alle Kinder tot. Mit ihrer Schwester kam sie in ein Nebenlager von Dachau, von dort nach Bergen–Belsen. Dort wurde sie 1945 von den britischen Streitkräften befreit, aber ihre Schwester Ilona starb kurz davor an Typhus.

Während ihrer gesamten Ausführungen ringt Frau Zahavi um Fassung, die Tränen hält sie schon seit Beginn nicht mehr zurück, ihre Stimme bricht mehrmals, wenn sie über die Schrecken berichtet. Am Ende ihrer Aussage erhebt sie ihre Stimme, richtet ihre Worte direkt an den Angeklagten: „Herr Gröning, Sie haben gesagt, dass Sie sich moralisch schuldig fühlen, aber das reicht nicht. Sie sind damals freiwillig Mitglied der SS geworden. Sie wussten, was in Auschwitz passiert. Ich hoffe, dass die Bilder Sie für den Rest Ihres Lebens verfolgen werden. Sie durften in Freiheit alt werden. Meine Eltern durften das nicht. Sie waren nicht bei meiner Hochzeit, meine Kinder haben ihre Großeltern nie kennengelernt. Sie tragen die Last, die Sie sich selbst aufgeladen haben, als Sie Teil des Horrors wurden, den meine Familie und so viele andere Menschen ertragen mussten. Ich werde niemals vergessen oder vergeben.“ Ihre Worte, die von all der Trauer, ihrem Schmerz und vor allem ihrer Wut getragen werden, beenden ihre Aussage und lassen uns alle sprachlos zurück, voller Respekt vor der Stärke dieser Frau und der Wucht dieses Momentes: „ Auch wenn ich überlebte: Ich war nie so frei wie Sie, Herr Gröning. Ich bin mit 86 Jahren von Kanada hierher gekommen, weil es das Letzte ist, was ich tun kann für meine getötete Familie und für alle, die in den Lagern gestorben sind.“

Richter Kompisch machte nach dieser für alle Beteiligten emotional sehr bewegenden Aussage den Vorschlag einer ca. 10 minütigen Pause. RA Holtermann beriet sich mit seinem Mandanten Gröning und sagte, dass Herr Gröning noch belastbar sei und daher eine weitergehende Zeugenaussage stattfinden könne (!).

Als nächster Zeuge der Nebenklage sprach Imre Lebovitz aus Budapest. Er ist 86 Jahre alt und hat als 15 Jähriger die Deportationen der jüdischen Bevölkerung Ungarns erlebt. Er berichtet von der antisemitischen Hetze und Anfeindungen schon vor dem Terror der Nazis, dieser gipfelte dann in dem systematischen Morden. Er erzählte von einer Ziegelei in der Nähe des Ghettos. Die Bevölkerung hat versucht, “reiche” Juden ausfindig zu machen und diese wurden dann dorthin verschleppt, wo sie von der Gestapo zum Zweck der Geldbeschaffung gefoltert wurden. Als ironisch merkte er an, dass sein Vater “zum Glück” das eigene Geld schnell verloren hatte und somit nichts davon in die Hände der Gestapo fiel. Er schilderte, wie er durch puren Zufall nicht nach Auschwitz kam. Einige Tage vor der Deportation seiner Familie sei er von einem SS-Hauptsturmführer zurückgestellt worden, um einen sogenannten Sanitätsdienst in einem Krankenlager zu verrichten. Die kranken Menschen sind jedoch nicht wirklich medizinisch versorgt worden, sondern meistens gestorben. „Ich war später auch in einem Lager, ich habe auch gelitten, aber Auschwitz-Birkenau war eine ganz andere Sache.“ Er hat mit den Überlebenden von dort gesprochen. Als seine Familie in den Zug steigen musste, hat ein Richter eine fürchterliche Rede gehalten, an die er sich bis heute erinnert: „Auf Wiedersehen als Dünger“ sagte dieser. Imre Lebovitz hatte zuvor 80 Verwandte. Nur 15 haben den Holocaust überlebt.

Nach der Aussage von Imre Lebovitz hielt sein Anwalt eine Stellungnahme. Durch diese teilte er mit, dass viele Nebenkläger aus Ungarn sich nicht trauen zum Prozess zu erscheinen. Sie fürchten sich vor den Reaktionen, wenn dies dort bekannt wird. „Viele in Ungarn lebende Jüdinnen und Juden fühlen sich in ihrem Land nicht wohl“, verlas der Anwalt. Eine Verantwortung für die Ermordung der ungarischen Juden wird negiert, der Antisemitismus herrscht in Ungarn weiterhin vor und wird in weiten Teilen der Gesellschaft nicht geächtet. Seine Mandanten sind froh, dass dieser Prozess in Lüneburg stattfindet. Sie wünschten sich, auch in Ungarn wäre so etwas möglich. Einige Informationen zur Situation des Antisemitismus in Ungarn sind in diesen Artikeln aufgezeigt (von 2009 bis aktuell):

www.welt.de/kultur/article5240553/In-Ungarn-muessen-sich-Juden-wieder-fuerchten.html

www.hagalil.com/archiv/2011/06/21/antisemitism-in-hungary/

www.faz.net/aktuell/politik/ausland/antisemitismus-in-ungarn-ernste-reden-und-voelkisches-spiel-11982161.html

www.hagalil.com/archiv/2014/04/03/ungarn-23/

http://hungarianfreepress.com/2015/04/01/half-of-budapest-residents-are-anti-semites-the-dramatic-spread-of-hungarian-antisemitism

Als vierter und letzter Zeuge der Nebenklage sprach am Dienstag der 83jährige Ivor Perl aus London. Er war zwölf Jahre alt, als er und seine Familie nach Auschwitz deportiert wurden. Er begann seine Aussage mit seiner Kindheit in Ungarn. Seine Familie war sehr religiös, er hatte acht Geschwister. Seine Erinnerungen bezeichnete er als die an „ein normales, glückliches Leben.“ Dann führt er aus, was ein „normales“ Leben in diesen Zeiten beinhaltete: der tägliche Schulweg war für sie als Kinder geprägt von Anfeindungen, sie wurden bespuckt und schikaniert, weitere Erlasse erfolgten, die die bürgerlichen Rechte, das gesamte gesellschaftliche Leben der jüdischen Bevölkerung Ungarns immer mehr einschränkten, schließlich wurden sie in ein Ghetto gepfercht. Als ihnen dort berichtet wurde, dass sie ans Grenzgebiet gefahren werden, um dort Farmland zu erhalten, sagte Herr Perl: “ wir dachten, alles besser als das Ghetto.“ Aber wie schon weitere Zeugen vor ihm berichtet auch er davon, wie ihnen falsche Visionen von einer Zukunft auf Farmland gemacht wurden: „Das wurde von ungarischen Faschisten verbreitet. Die ganze Täuschung war perfekt“.

Er beschreibt den Transport in den Viehwaggons, als sie völlig entkräftet in Auschwitz Birkenau ankamen, riefen ihm andere Juden zu, die Gleis arbeitet mussten: “Spart euch kein Essen auf! Alle Kinder müssen sagen, dass sie 16 sind!“ Er verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. An der Rampe sah er noch einmal seine Mutter, wollte bei ihr bleiben. Sie schickte ihn jedoch zu seinem Bruder. Herr Perl sagte: „Ich gehorchte. Sonst wäre ich heute nicht mehr am Leben.“ Er sah, wie die Alten und Schwachen auf die eine Seite geschickt wurden, die Kräftigeren auf die andere. Er gab sich als 16jähriger aus und überlebte. Er erinnert sich an die Ansprache, die ihnen gleich zu Beginn im Lager entgegen geschmettert wurde: „Ihr seid jetzt in Auschwitz. Ihr bekommt eine Nummer. Vergesst die nie, sonst existiert ihr nicht mehr.” Herr Perl berichtet davon, wie er mehrfach tätowiert werden sollte und es nicht dazu kam; die Tinte war leer, als er an der Reihe war; ein weiteres mal wurde die Aktion von Luftangriffen gestoppt, dann wurde er in ein anderes Lager verschleppt. Er führt dazu aus: „Ich hatte in den vergangenen Jahren das Gefühl, ich müsste mir die Nummer noch tätowieren lassen, weil ich doch mit so vielen das Leid teilte.” Abschließend spricht der Zeuge den Angeklagten direkt an: „Weißt du Oskar, ich möchte dich nicht Herr nennen. Als ich gefragt wurde, ob ich als Zeuge aussagen möchte, da sagte ich: Ich mache das nicht. Ich hatte Angst davor, hierher zu kommen, und dich anzusehen. Nun sitze ich hier und ich sehe jemanden, der mir leid tut. Es tut mir auch leid, dass ich Angst hatte, dass ich mir Sorgen gemacht habe, dass ich Energie verschwendet habe. Dass ich wegen dir schlaflose Nächte hatte. Ich bin aber auch und vor allem hier, wegen der Verleugnung des Holocausts. Wie können ganze Länder so etwas tun? Ich hoffe, dass dieser Prozess hier das Ganze etwas erträglicher macht.“

Von dem Angeklagten erfolgte keine für uns sichtbare Reaktion.

Hier ein Video von Ivor Perl vom 13.05.2015:

www.bbc.com/news/world-europe-32712172

Hier einige Artikel zum achten Prozesstag:

www.badische-zeitung.de/deutschland-1/auschwitz-ueberlebende-zahavi-klagt-frueheren-ss-mann-groening-an–104745263.html

www.sueddeutsche.de/politik/auschwitz-prozess-in-lueneburg-die-ss-maenner-entschieden-wer-lebte-oder-starb-1.2476682

www.dailymail.co.uk/news/article-3079413/Holocaust-survivor-tells-bookkeeper-Auschwitz-hopes-images-saw-stay-rest-days-tells-trial-watched-parents-sent-deaths.html?ITO=1490&ns_mchannel=rss&ns_campaign=1490

Mittwoch, 13.05.2015 – Tag 9

Am Mittwoch erhielten wiederholt 60 Besucher*innen Einlass zum Prozess, 20 weitere Wartenden erhielten keinen Zugang mehr. Die Presse war mit mehr Vertreter*innen (ca. 25) anwesend als an den vorherigen Tagen.

Der Tag begann mit dem Verlesen von Dokumenten durch Richter Kompisch. Es handelte sich um diverse Dokumente, die bereits in den vergangenen Verhandlungstagen Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen Richter, Staatsanwalt, den Verteidigern, den Anwälten der Nebenklage und Sachverständigen waren. Es handelte sich hierbei unter anderem um das Dienstzeugnis, dass Gröning „Fleiß und Sorgfalt“ bescheinigte sowie, dass er „weltanschaulich gefestigt“ sei. Richter Kompisch verlas daraufhin Teile der Personalliste der SS-Standhauptverwaltung Auschwitz, in der Oskar Gröning mit „abkömmlich“ vermerkt war. Zum Schluss las er dann Dokumente zu Grönings Hochzeitsgesuch an das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS vor. Der Sachverständige Herr Bajohr, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Holocaustgeschichte in München, hatte kürzlich u.a. diese Dokumente interpretiert in Bezug auf Grönings damalige Versetzungsoption. Es wurden noch weitere Dokumente verlesen, aber von keiner Seite diskutiert, vielmehr handelte es sich um einen formalen strafprozessualen Akt der Verlesung von Dokumenten im Rahmen der Beweisaufnahme. RA Nestler, Vertreter der Nebenklage, verweist u. a. auf das Dokument des Staatsanwaltes Galm von 2005, in dem er die Nicht–Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen Herrn Gröning begründet. Auch dieses Dokument wird in Kürze verlesen, wenn es den Dolmetschern vorliegt (es wird durchgehend eine Simultanübersetzung in deutsch, englisch, ungarisch und hebräisch gewährleistet). So werden also in den nächsten Sitzungen noch weitere Dokumente verlesen, die im Prozessverlauf eine Rolle spielten oder spielen werden.

Der Vorsitzende Richter Kompisch fragte zudem den Angeklagten, ob dieser sich nach den diversen Zeug*innenaussagen der letzten Zeit in irgendeiner Form äußern wolle. Dies verneinte RA Holtermann nach Rücksprache mit seinem Mandanten für den heutigen Tag, allerdings kündigte er an, dass der Angeklagte sich demnächst ergänzend äußern wolle.

Um 11:00 Uhr ging der Prozess weiter, als Zeugin war die 86jährige Susan Pollack geladen, sie kam direkt von ihrem Wohnort London nach Lüneburg. Sie begann ihre Aussage mit den Berichten über die Verschleppung ihres Vaters in ein Internierungslager, sie sah ihn nie wieder.

Sie erzählte von der Deportation ihrer Familie ins Ghetto. Sie mussten ganz schnell packen und das Haus verlassen, es lief alles sehr überstürzt ab. Sie nahm eine Singer-Nähmaschine mit, da sie damals glaubte, damit etwas Sinnvolles vollbringen zu können, bis sie irgendwann in Viehwaggons getrieben wurden. Frau Pollack sagte, dass sie bis dahin noch dem Glauben auferlegen war, es handele sich um eine Umsiedlung. Ab dem Moment in den Viehwaggons wusste sie, dass es etwas ganz anderes war. Nach Tagen kam der Zug in Auschwitz an, überall hörte sie deutsche Kommandos, die sie dann auch auf deutsch im Gericht vortrug: „Los! Hier hin! Komm her!“ Sie hatte große Angst, sie wurden gedrängt und auseinandergerissen, ihre Mutter auf die eine Seite, sie uns ihr Bruder auf die andere Seite.

Sie kam in eine Baracke, in der sie nicht arbeiten musste, aber tägliche stundenlange Appelle vollziehen musste, sie mussten vor Mengele auf und ab gehen. Auch seine Befehle trug sie auf deutsch vor:“ Du da lang – Du da lang!“ .

Sie verlor massiv an Gewicht, alle hungerten und sie machten in ihrer Baracke Fantasiespiele, in denen sie sich morgens aufzählten, was sie zum Frühstück essen werden – ein Ei, ein Brötchen,…

Mit dem weiter schreitenden Gewichtsverlust sanken auch ihre kognitiven Fähigkeiten, ebenso die emotionalen: als sie erfuhr, dass ihre Mutter direkt nach der Selektion an der Rampe ermordet wurde, konnte sie nicht weinen, spürte keine Gefühle mehr: „Wir wurden entmenschlicht“.

Sie wurde dann in ein Arbeitslager nach Guben verschleppt, dort hat sie ein wenig mehr zu Essen gehabt, denn „wir sollten ja arbeiten“. Ende 1944 wurde sie von dort auf den Todesmarsch nach Bergen Belsen geschickt. Sie kann nicht mehr genau beziffern, wie viele sie waren, sie durften nicht anhalten, sich nicht helfen, sie hatte keinen Überblick über die Zahl. Aber es ist nur ein Bruchteil derer angekommen, die zuvor auf den Todesmarsch geschickt wurden.

In Bergen Belsen ist sie schockiert von den Geschehnissen, von dem Leid und Tod, das sie sieht: überall lagen Leichen, es grassierten Krankheiten. Sie war vollkommen entkräftet und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie traf in Bergen Belsen eine Frau aus ihrem ehemaligen Ort in Ungarn. Sie war einmal eine stattliche Frau gewesen, nun erkannte sie sie kaum wieder. Aber diese Frau sprach ihr Mut zu, sie müsse durchhalten, es sei bald vorbei. Am nächsten Morgen lag die Frau tot in der Baracke.

Dann kam die Befreiung durch die britischen Streitkräfte, aber Frau Pollack schildert, wie sie nicht in der Lage war, dies zu realisieren, sie konnte keine Freude spüren, war vollkommen entkräftet und kroch mit letzter Kraft aus der Baracke, sie wollte draußen sterben. Dort lagen überall Leichen. Sie selbst versuchte nach draußen zu kriechen, gehen konnte sie nicht mehr. Zu ihrem Glück sahen die Briten ihre Versuche, sich zu bewegen und riefen: „Dort drüben, sie bewegt sich noch, sie lebt noch!“ Sie wurde medizinisch behandelt und erholte sich körperlich.

Frau Pollack verlor über 50 Familienangehörige durch den Holocaust, nur sie und ihr Bruder überlebten. Sie ging nach dem Krieg zunächst nach Schweden, dann nach Kanada und gemeinsam mit ihrem Mann, der die Befreiung vom Nazi–Terror als Häftling im KZ Mauthausen erlebte, nach London, wo sie Kinder bekommen hat. Frau Pollack berichtet, dass sie aufgrund der Erlebnisse während der Nazizeit keine Bildung in ihrer Jugend erleben konnte, keine Schule, keinen Beruf. Vor allem durch die Trauma in den KZ und die ihr widerfahrene Entmenschlichung hatte sie kein Selbstwertgefühl mehr. Dies baute sie sich nun wieder auf. Sie arbeitete, ging zur Abendschule und holte ihren Abschluss nach, sie studierte und arbeitete in der Seelsorge und in einem Hospiz. Diese Tätigkeiten bezeichnete sie als ihre Therapie: „Es war toll, für andere etwas zu tun. Das war meine Therapie. Es ist mir wichtig, Teil einer guten Gesellschaft zu sein in einer neuen Welt.“ Erst 20 Jahre nach dem Kriegsende erfuhr sie, dass ihr Bruder überlebt hatte. Sie suchte ihn auf und sie war erschüttert über seinen Zustand: Er erzählte ihr, dass er im Sonderkommando in Auschwitz die Leichen aus den Gaskammern in die Krematorien verbringen musste:„Er erzählte mir, dass er immer nur hoffte, dass niemand aus unserer Familie dabei ist. “ Er war psychisch vollkommen am Ende. Frau Pollack berichtet, dass sie versuchten, ihm eine psychologische Behandlung zukommen zu lassen, damit er wieder gesundet, aber er ist daran zerbrochen. Hier einige Informationen zu den Sonderkommandos in Auschwitz:

www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/user_upload/uploadsFBI/pdfDateien/dossier-01_renz.pdf

www.welt.de/kultur/article1593535/Leichen-verscharren-in-der-Hoelle-von-Auschwitz.html

Audio: http://auschwitzundich.ard.de/auschwitz_und_ich/geschichte/zitate-Hoess-Venezia-Auschwitz,auschwitzcollage100.html

Frau Pollack engagiert sich in England, sie berichtet seit über 25 Jahren in Schulen über ihre Erlebnisse in Auschwitz und Bergen – Belsen, sie sieht es als eine Arbeit für eine bessere Zukunft, eine Gesellschaft ohne Rassismus: „Um dieses Gift aus der Gesellschaft auszutreiben. Das Gift des Rassismus, es frisst unser Leben auf. Ich bin sehr dankbar, dass ich heute hier bin. Wir müssen die Erinnerung lebendig halten. Wir dürfen niemals vergessen!“

Hier einige Videos und Artikel zum neunten Prozesstag:

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Auschwitz-Prozess-Ich-wurde-entmenschlicht,auschwitz400.html

www.theguardian.com/world/2015/may/13/oskar-groning-trial-british-auschwitz-survivor-susan-pollack

www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/germany/11562318/British-Auschwitz-survivor-preparing-to-testify-at-trial-of-Oskar-Groening.html

http://www.landeszeitung.de/blog/aktuelles/234875-internationale-presse-im-gericht

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 10

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Prozessverlauf der aktuellen Woche informieren, diese bestand nur aus einem Verhandlungstag:

Dienstag, 26.05.2015 Tag 10

Die Verhandlung begann erst um 10:00 Uhr, da sich der Angeklagte aufgrund von Verkehrsbehinderungen verspätete (er wird an jedem Verhandlungstag von einem Fahrer von seinem Wohnort zum Gerichtsort gefahren).

Als erstes sagte der Rechtsmediziner Herr Sven Anders (Rechtsmedizinisches Institut des UKE Hamburg) als Sachverständiger aus. Er berichtete über das Giftgas Zyklon B, über dessen Wirkstoff Blausäure und die Wirkungsweise des Giftes. Ausführlich wurden die organischen und mikrozellularen Vorgänge beschrieben, die dieses Gift im menschlichen Körper verursacht. Während einem bei dem Wort „Erstickungstod“ immer ein Bild vor Augen kommt, in dem Menschen um Luft, um Sauerstoff ringen, zeigte der Sachverständige auf, dass durch das Giftgas Zyklon B bzw. die dadurch freigesetzte Blausäure ein zelluläres Ersticken erfolgt. Die Menschen ersticken innerlich, selbst wenn noch Sauerstoff um sie herum zur Verfügung steht, da durch das Gift der Sauerstofftransport durch die Zellen, die Zellatmung verhindert wird. Er berichtet, dass das Gas leichter als Luft ist, daher nach dem Werfen durch die Einwurföffnungen von unten nach oben steigt und sich an der Decke ausbreitet. Die Konzentration ist oben am höchsten und größere Menschen erreicht das Gift als erstes: „ Die Kleinen sterben zum Schluss“.

Je nach Konzentration des Gases, aber auch durch die körperliche Konstitution der Betroffenen kann der Todeskampf bis zu 30 Minuten dauern. Als körperliche Reaktionen werden Symptome beschrieben wie u. a. Herzrasen, Panikattacken, Brustdruck, Angstzustände, ebenso Krampfanfälle. Es lässt sich nicht genau festlegen, wie lange die Menschen in den Gaskammern bei Bewusstsein waren, wieviel sie selbst von den direkten Symptomen mitbekommen haben, bei sich selbst und bei den umstehenden Menschen. Die Eindrücke, die jedoch von den Menschen geschildert werden, die die Ermordeten aus den Gaskammern holten (z. B. von Häftlingen der Sonderkommandos), lassen darauf schließen, dass ein Teil von ihnen sehr wohl mitbekommen haben, was mit ihnen und um sie herum geschieht, wenn auch nicht feststeht, wie lange: Die Kratzspuren an den Wänden, die übereinander getürmten Leichen, die vollkommen ineinander verkeilten Körper, die nur durch Stangen und Äxte wieder getrennt werden konnten, lassen erahnen, in welchem Todeskampf sich die Menschen befanden, welche Qualen sie durchleiden mussten, wie sie in den Gaskammern um ihr Leben gerungen haben.

Nun mögen sich manche gefragt haben, warum diese genaue Darstellung der Wirkungsweise des Gases. Wichtig ist hierbei der Verweis auf die eigentliche Anklage: Beihilfe zum Mord. Die Haupttat, auf die die Beihilfe sich bezieht, ist der Mord bzw. sind die Morde an über 300.000 jüdischen Menschen aus Ungarn. Im Rahmen der Beweisaufnahme in einem Mordverfahren stellt dies in Bezug auf das Gas die Erläuterung des Mordes, des Tathergangs, der Tatwaffe, des tödlichen Werkzeugs dar.

Bevor der ehemalige Richter Herr Struß als Zeuge vernommen wurde, erfolgte von Seiten der Verteidigung noch eine Antragstellung, diese beinhaltete zwei Anträge:

Zum einen wird beantragt, einen ehemaligen Staatsanwalt, der im Rahmen der Frankfurter Ermittlungen gegen den Angeklagten sowie weitere Mitarbeiter der HGV in den 70er Jahren ermittelte, als Zeugen zu laden, ebenso weitere Personen als Zeugen, die von diesem Ermittlungsverfahren betroffen waren. Dieser Antrag verliert jedoch in weiten Teilen seine Relevanz bzw. es besteht keine Möglichkeit, ihm nachzukommen, da mehrere im Antrag als Zeugen zu ladende Personen mittlerweile verstorben sind.

Der zweite Antrag des Verteidigers bezieht sich darauf, dass der Angeklagte in vorigen Verfahren und Prozessen umfangreiche Angaben gemacht hat: Im Gegensatz zu den damaligen Prozessbeteiligten (Angeklagte sowie Zeugen) eines Verfahrens in Wuppertal, die durch ihre Verweigerungshaltung eine „Mauer des Schweigens“ erstellten, habe Herr Gröning ausführlich über die Geschehnisse in Auschwitz ausgesagt. Der Rechtsanwalt Holtermann beantragt, die zuvor erfolgte Aussage- und Mitwirkungsbereitschaft des Angeklagten in vorausgegangenen Verfahren und Prozessen im Falle eines Schuldspruchs als strafmildernd zu berücksichtigen.

Im Anschluss sagte der ehemalige Richter Dirk Struß als Zeuge aus. Er hat Anfang der 90er Jahre den Angeklagten Gröning in einem Gerichtsverfahren in Duisburg gegen dessen ehemaligen „Kameraden“ Kühnemund als Zeuge erlebt. Herr Struß beginnt seine Aussage mit der Schilderung des damaligen Verfahrens, in dessen Verlauf auch Überlebende von Auschwitz ihre Erlebnisse schilderten. Der im Anschluss daran angehörte Zeuge Gröning bestätigte durch seine Aussagen die schrecklichen Geschehnisse in Auschwitz, habe durch die Art seiner Schilderung jedoch eher den Eindruck von rationalen Vorgängen eines Arbeitsablaufes erweckt, der damalige Richter empfand ihn als „erstaunlich emotionslos“. Die Menschen, die den lüneburger Prozess bislang beobachteten, haben in diesem Moment eine genaue Vorstellung, worüber der Zeuge Struß berichtet. Es erinnert direkt an die Äußerungen des Angeklagten am ersten und zweiten Verhandlungstag, an denen er die Täuschungen, die Selektion, die Vorbereitung und Umsetzung des industriellen Massenmordes in Auschwitz beschrieb, aber in einer absolut rationalen und gefühlskalten Sprache.

Herr Struß berichtete weiter ausführlich über die damalige Verhandlung, für uns sind zwei relevante Aussagen hervorzuheben:

Mehrfach wurde der Zeuge Struß von den Prozessbeteiligten bezüglich der Trennung der Abteilungen „Effektenlager“ und Häfltlingsgeldverwaltung“ befragt. Hintergrund ist, dass der damals Angeklagte Kühnemund im Effektenlager in Auschwitz gearbeitet hat und dort das gesamte Gepäck der Deportierten hin verfrachtet und sortiert wurde. Über die inhaltliche Trennung der Arbeit dieser Abteilungen besteht kein Zweifel, die Frage zielte jedoch darauf, ob es an der Rampe eine Trennung gab und zielte somit auf die Tätigkeit des Angeklagten an der Rampe. Dieser gab an, ausschließlich für die Bewachung des Gepäcks zuständig gewesen zu sein, das Wegschaffen der Gegenstände sei durch Mitarbeiter des Effektenlagers erfolgt. Herr Struß gibt an, dass für ihn aus den damaligen Aussagen nicht deutlich geworden sei, dass eine Trennung der Tätigkeiten an der Rampe aufgrund der Abteilungen vorlag. Daraus kann man die Auffassung ableiten, dass die Tätigkeit des Angeklagten an der Rampe nicht auf die Bewachung des Gepäcks beschränkt war.

Die zweite für uns relevante Aussage des ehemaligen Richters bezieht sich auf die Häufigkeit der Einsätze des Angeklagten an der Rampe. Von Prozessbeginn an gibt Herr Gröning an, nur zwei- bis dreimal an der Rampe eingesetzt worden zu sein, dies auch nur aushilfsweise in Vertretung für andere „Kameraden“. Bereits am zweiten Verhandlungstag wurde er mit früheren Angaben (Ende der 1970er Jahre) konfrontiert, die er im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens als Beschuldigter angab und seinen jetzigen Aussagen widersprechen. Dies kommentierte der Angeklagte am 22.04.2015 mit den Worten, er hätte sich damals vorsichtiger ausgedrückt, wäre ihm bewusst gewesen, dass ihm das heute vorgehalten würde (!). Die Aussagen des Zeugen Struß, der den Angeklagten damals als Zeuge im Prozess gegen Kühnemund vernommen hat, stützen die Annahme, dass Gröning während der sogenannten „Ungarn Aktion“ regelmäßig Dienst an der Rampe hatte. Er benennt Aussagen des damaligen Zeugen Gröning, er habe zeitweise bis zu 24 Stunden Dienst an der Rampe getan. Dieses „zeitweise“ bezieht sich eben nicht darauf, dass er zwei- bis dreimal dort eingesetzt war, sondern stützt die Annahme, dass er (wie Ende der 1970er bereits angegeben) ständig an der Rampe war und während dieser regelmäßigen Einsätze „zeitweise„ bis zu 24 Stunden.

Der Prozess Anfang der 1990er Jahre gegen Herrn Kühnemund führte übrigens zu keinem Urteil, da der Angeklagte im Laufe des Verfahrens für verhandlungsunfähig erklärt wurde und entsprechend eine Einstellung erfolgte.

Einen weiteren Eindruck über die Aussage des ehemaligen Richters Struß vor dem Landgericht Lüneburg gibt dieser Artikel:

www.zeit.de/hamburg/politik-wirtschaft/2015-05/oskar-groening-lueneburg-prozess-aussage-richter-struss

Auf Nachfragen eines Anwalts der Nebenklage bzgl. seiner Tätigkeiten in Auschwitz, wenn er keinen Dienst, also frei hatte, gab der Angeklagte an, er habe viel und gerne Sport getrieben, auch Tischtennis sei sehr beliebt gewesen. Dem Laufsport sei er häufig nachgekommen, dies sei ihm nach seiner Rückkehr aus der Kur wieder möglich gewesen. Dies sind womöglich keine Aussagen, die eine Relevanz für die Beweisaufnahme haben, für uns jedoch nennenswert, da sie den Charakter des Absurden verdeutlichen: Das Massenmorden, die perfekt ins Detail ausgerichtete industrielle Vernichtung von Menschen und parallel wird Tischtennis gespielt, nach der erholsamen Kur zurück nach Auschwitz, um seinen Dienst zu tun und in der Freizeit ein wenig Sport zu treiben….

Der Folgetermin am Mittwoch, 27.05.2015 wurde aufgehoben, da alle Fragen an den Sachverständigen sowie Zeugen erörtert wurden und somit kein „Programm“ für den 27.05.2015 bestand, dies kam auch der gesundheitlichen Situation des Angeklagten entgegen. Es geht am 02.06.2015 weiter, dann erfolgt die Aussage der Zeugin Angela Orozs–Richt.

Hier noch ein Hinweis auf zwei Termine in aller Kürze:

– Sonntag, 31.05.2015 17 Uhr Centro Sociale in Hamburg: Veranstaltung zum Prozessgeschehen

– Donnerstag 04.06.2015 19 Uhr Infocafe Anna & Arthur Lüneburg: Treffen für alle Interessierten, zum Austausch des bisherigen Prozessverlaufs und der Planung der weiteren Termine.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 11

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf der letzten Verhandlungswoche informieren.

Vorab einige Hinweise:

1. Wie die meisten von Euch mitbekommen haben werden, ist nicht nur der Verhandlungstag am 03.06.2015 ausgefallen, sondern sind auch die für nächste Woche geplanten Termine (09.06. und 10.06.2015) ausgesetzt. Grund hierfür ist, dass abgeklärt werden muss, ob die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten gegeben ist:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13828&article_id=134246&_psmand=56

Letztlich haben wir dieselbe Situation, wie schon bei den vorherigen Unterbrechungen. Aus strafprozessualer Ablaufsicht ergeben sich daraus drei Möglichkeiten: Bei einer Dauer von bis zu drei Wochen kann das Gericht den Prozess ohne größere Folgen vorübergehend unterbrechen. Dauert die Unterbrechung länger, so müsse alles von vorn beginnen. Sollte eine dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten festgestellt werden, würde eine Einstellung des Verfahrens erfolgen. Wir gehen aktuell davon aus, dass der Prozess wie in der Pressemitteilung des Landgerichts geschildert, am 17.06.2015 mit der Anhörung des Historikers Herrn Hördler als Sachverständigen fortgesetzt wird. Da es jedoch nie vollkommen sicherzustellen ist, wie sich die einzelnen Tage entwickeln, hier unsere Bitte, vorher einen Blick auf die aktuellen Pressemitteilungen des Landgerichts zu werfen, solltet ihr vorhaben, einen Verhandlungstermin zu besuchen:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13820&_psmand=56

Auf der linken Seite stehen dann die jeweils aktuellen Pressemitteilungen.

Die aktuelle Auseinandersetzung bzw. ständigen Unterbrechungen aufgrund der Abklärung der Verhandlungsfähigkeit wirft erneut den Fokus auf die Ursache, warum die Angeklagten potentiell als nicht mehr verhandlungsfähig eingestuft werden und leitet über zu unserem zweiten Hinweis:

2. Die Tatsache, warum dieser Prozess erst jetzt und nicht schon vor 10, 20, 30, 50 etc. Jahren erfolgt, findet ihre Begründung in der Tätigkeit bzw. eher Untätigkeit der deutschen Justiz; eine konsequente Strafverfolgung von NS–Tätern fand nicht statt. Zurückzuführen ist dies u. a. darauf, dass der justizielle Sektor in Nachkriegsdeutschland als befangen zu bezeichnen ist, da dort selbst NS-belastete Personen an entscheidender Stelle wirkten, saßen, richteten. Die personellen Kontinuitäten von NS-Justiz zu BRD-Justiz wurden nun in Bezug auf das Landgericht Lüneburg von der VVN / BdA Lüneburg anhand der Prozesse gegen Kommunistinnen und Kommunisten in Lüneburg aufgearbeitet und in Form einer Broschüre unter folgendem Titel veröffentlicht:

Das Landgericht Lüneburg als „Spitze der justizförmigen Kommunistenverfolgung“ der 1950er / 60er Jahre – Teil I: Das Personal“. Untertitel: „Nichts verlernt – Die zweite Karriere ehemaliger NS – Richter und Staatsanwälte bei der 4. Strafkammer“. Für 3€ ist die Broschüre im „Avenir“ in der Lüneburger Katzenstraße 2 (Heinrich–Böll–Haus) erhältlich, ebenso kann sie für 5€ direkt bei der Lüneburger VVN / BdA bestellt werden: vvn-bda-lg@web.de. Die Homepage: www.vvn-bda-lg.de.

3. Das Thema der Untätigkeit der deutschen Justiz in Bezug auf die Strafverfolgung von NS – Tätern verweist auf eine aktuelle Meldung aus Hamburg: da der in Hamburg-Volksdorf lebende Gerhard Sommer aufgrund einer Demenzerkrankung als nicht verhandlungsfähig eingestuft wird, sieht es aktuell so aus, dass es zu keinem Prozess in Deutschland gegen ihn kommen wird (www.taz.de/!5201482/). Andere waren da tätiger: Er wurde in Italien bereits vor 10 Jahren vom italienischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt, da er als Kompaniechef an dem Massaker von Sant’Anna di Stazzema beteiligt war, bei dem am 12. August 1944 in dem italienischen Dorf 560 Menschen von einer SS-Einheit ermordet wurden: www.akweb.de/ak_s/ak500/09.htm

www.tagblatt.de/Home/nachrichten/ueberregional/baden-wuerttemberg_artikel,-Kultusminister-kritisiert-an-Gedenkstaette-fuer-NS-Massaker-in-Italien-das-Versagen-der-Justiz-_arid,304793.html

Das Simon Wiesenthal Center hat in ihrer Kampagne „Operation Last Chance“ zum Aufspüren und Vor Gericht stellen von ehemaligen NS–Tätern Gerhard Sommer sowie Vladimir Katriuk (in Kanada lebend) als zwei der 10 meist gesuchten NS Täter genannt, dies bereits seit über einem Jahrzehnt. Vladimir Katriuk ist diese Woche verstorben, Gerhard Sommer für verhandlungsunfähig erklärt worden. Die vom Simon Wiesenthal Center erwünschte „Operation Last Chance“, die letzte Chance also, NS Täter vor Gericht zu stellen, wird durch die Verschleppungs- und Verweigerungshaltung der deutschen Justiz verwehrt. Im Fall von Gerhard Sommer heißt dies in Bezug auf die vergangenen Jahre bzw. Jahrzehnte: Keine Auslieferung an Italien, keine Umwandlung der Strafe in Deutschland, kein Prozess in Deutschland. Eine Auflistung der aktuellen Situation der noch lebenden NS Täter bietet dieser Artikel:

www.thedailybeast.com/articles/2015/05/30/demented-dying-but-on-trial-the-last-nazis-reveal-their-true-evil.html

Doch dürfen wir den Fokus nicht allein auf die Untätigkeit der deutschen Justiz belassen, sondern auch die jeweiligen Bundesregierungen und entsprechend des deutschen Staates stellen über Jahrzehnte eine schier beschämende Haltung in Bezug auf Entschädigungen von NS Opfern dar. Mit dem Verweis auf eine aktuelle Sendung bzgl. der Haltung zu Entschädigungen durch die BRD und den bis heute zynischen Äußerungen des deutschen Staates gegenüber NS Opfern enden wir hier mit unseren Vorab–Infos: www.youtube.com/watch?v=DqQphIkhbz0 (ab ca. Minute 40:00).

02.06.2015 – Tag 11

Am heutigen Verhandlungstag sagte Angela Orosz Richt als Zeugin der Nebenklage aus. Sie ist 70 Jahre alt und wurde in Auschwitz geboren, einen Monat vor der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Gleich zu Beginn ihrer Aussage erläuterte Frau Orosz Richt ihre Beweggründe, warum sie heute hier ist. Ihr Anwalt, Herr Rothmann habe ihr im Januar, als sie in Auschwitz an dem Gedenken und der Feier anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung teilnahm, von dem anstehenden Prozess berichtet. Sie habe zunächst gar nicht kommen, nicht aussagen wollen. Als sie jedoch die Berichterstattung in den Medien verfolgte, hat sie sich entschlossen, doch zu kommen. Ihre Motivation und ihren Standpunkt macht sie gleich zu Beginn ihrer Aussage deutlich und spricht den Angeklagten persönlich an: „Ich überlebte nur aus einem Grund: Ich habe eine Mission. Ich muss sprechen für die, die nicht mehr sprechen können. Ich muss die Geschichte meiner Mutter und der ermordeten Juden erzählen. Ich stehe hier und will meinen anklagenden Finger gegen die erheben, die verantwortlich sind für die Unmenschlichkeit, in die ich hinein geboren wurde. Gegen solche, die bei diesem Terror geholfen, zugesehen und profitiert haben. Menschen wie Sie, Herr Gröning.“

Sie zieht Parallelen zu heute, indem sie feststellt, dass Europa wieder zu einem gefährlichen Ort für Juden geworden ist. Als all dies schreckliche vor 70 Jahren geschah, hat die Welt geschwiegen. Sie hat Sorge um ihre Kinder, Enkelkinder und Urenkel. Der Antisemitismus verbreitet sich wieder über die ganze Welt und tritt offen zu Tage. Und die Welt schweigt wieder.

Sie hat heute ihren Enkel in den Prozess nach Lüneburg mitgebracht, damit er später einmal seiner Familie über den Horror des Holocaust berichten kann. Den Bezug von der Vergangenheit zur Gegenwart zieht sie mehrfach und macht deutlich, wie wichtig es heute ist, die Schrecken des Geschehenen zu kennen und wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt. Dies haben wir durch die Aussagen der vorherigen Nebenkläger*innen bereits auf unterschiedlichen Ebenen erlebt und Frau Orosz Richt nennt Beispiele, wie sich nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Narben, die Traumata im Alltag ihrer Mutter auswirkten: Ihre Mutter hat nach Auschwitz nie wieder eine Dusche benutzen können, da sie Panik davor hatte, dass daraus kein Wasser kommt. Sie verband mit einem Duschkopf immer die Täuschung der Nazis mit dem Ziel, alle Juden umzubringen, zu vernichten. So hat ihre Mutter immer gebadet und sich gewaschen, niemals mehr hat sie sich unter eine Dusche getraut. Ebenso konnte sie keinen Tunnel mehr betreten, da zu Kriegsende, als die Rote Armee immer näher rückte und die Nazis die Spuren ihrer Gräuel vertuschen wollten, ihre Mutter mit vielen anderen in einen Tunnel gejagt wurde und ihnen gesagt wurde, dieser werde nun gesprengt. Dazu kam es nicht mehr, aber einen Tunnel konnte ihre Mutter seitdem nicht mehr betreten, so fest haben die schrecklichen Erlebnisse sich bei ihr eingebrannt und mit traten durch die Verknüpfung zu Gegenständen im Alltag immer wieder hervor.

Frau Orosz Richt berichtet zu Beginn über ihre Eltern und deren Familien. Ihre Mutter kommt aus Budapest und ist in einer gebildeten Familie groß geworden. Sie hat perfekt vier Sprachen beherrscht: Ungarisch, Französisch, Slowakisch und Deutsch. Ihre Eltern heirateten 1943 und hatten ein glückliches Leben, bis 1944 die Wehrmacht in Ungarn einmarschierte. Es war der Morgen nach dem Pessach Fest im April, als die ungarische Miliz an die Tür polterte und sie aus dem Haus getrieben und in ein Ghetto verschleppt hat. Dort blieben sie bis zum 22. Mai, dies waren die letzten Tage, die sie zusammen als Familie verbrachten. Dann wurden sie erneut in Viehwaggons getrieben und nach einer dreitägigen Reise erreichten sie die lebende Hölle von Auschwitz.

Und erneut spricht sie den Angeklagten persönlich an: „Ich habe gehört, dass Sie Auschwitz als einen Ort beschrieben haben, wo Ordnung herrschte, Herr Gröning. Für die Juden dort war es das nicht. Es war traumatisierend.“

Die Zeugin spricht in Wir-Form, wenn sie von der Ankunft in Auschwitz, von der Rampe, der Selektion, den Schreien und den Schlägen berichtet: ihre Mutter war im dritten Monat mit ihr schwanger, als sie in Auschwitz ankam. Was man den zigtausenden jüdischen Menschen, was man ihren Eltern, ihrer Mutter angetan hat, das hat man in dem Moment auch ihr angetan und die Folgen der Misshandlungen und Traumatisierungen werden im Laufe ihrer Ausführungen deutlich.

Erneut spricht sie den Angeklagten an: „Es waren SS Männer, ihre Kollegen, Herr Gröning, die von den Wachtürmen aus Maschinengewehren und Scheinwerfer auf uns richteten, die das Chaos beobachteten. Von dort oben, mag der Wahnsinn geordnet ausgesehen haben, aber von unten war es das nicht. Bis zu ihrem Tod hatte meine Mutter Angst vor bellenden Hunden, wegen diesem Tag, diesen Erlebnissen“.

Ihre Eltern wurden beide nach rechts geschickt, also nicht in die Gaskammern. Da ihre Mutter wie auch alle anderen jedoch nicht wusste, was diese Aufteilung zu bedeuten hat, sagte sie Mengele, dass sie schwanger sei, in der Hoffnung, ihr würde Mitgefühl zuteil und sie würde von schweren Situationen verschont. Zu ihrem Glück glaubte ihr Mengele nicht, sondern blaffte sie nur an: „du dumme Gans“ und schickte sie zurück in die rechte Reihe. Auch ihr Vater blieb in der rechten Reihe, aber er überlebte Auschwitz nicht: „Er wurde durch Erschöpfung ermordet. Sie habe ihn gezwungen, bis zum letzten Atemzug zu arbeiten.“

Die Zeugin berichtet von ihrer Mutter, sie beschreibt sie, ihr Aussehen und schaut dabei den Angeklagten an, spricht ihn direkt und persönlich an: „Vielleicht erinnern Sie sich an sie, Herr Gröning. Sie war eine wunderschöne Frau mit hellbraunen Haaren und grün–grauen Augen. Vielleicht haben Sie sie gesehen, wie sie in der Schlange stand, um das Urteil des Todesengels, Dr. Mengele zu erhalten. Ich weiß, dass sie andere in der Schlange dort haben stehen sehen“.

Der Angeklagte zeigt keine Reaktion, keine äußerliche Regung. Aber es sind Momente wie diese, die Einzigartig sind, da sie keine Beweisaufnahme in Form von Sichtung von Dokumenten, Ausführungen von Sachverständigen etc. beinhalten, sondern der Angeklagte konkret mit den Menschen konfrontiert wird, von deren Überleben er während seines Dienstes in Auschwitz nicht ausging. Er wird mit seiner persönlichen Tätigkeit, mit seinen Handlungen und den direkten Auswirkungen auf jene konfrontiert, die nicht mehr da sind: es sind keine Mengenangaben in Zahlen, derer man innerhalb von 24 Stunden 5000 versorgen, also ermorden konnte, wie der Angeklagte sich ausdrückte. Sondern es sind Individuen, jeder einzelne Mensch mit seiner eigenen Geschichte, eigenem Charakter, Gefühlen, Vorlieben, Stärken, Schwächen. Dies zu negieren, sie zu entmenschlichen war der Wille und das Werk der Nazis in Auschwitz und weiteren Vernichtungsstätten. Diesen Menschen statt einer Nummer wieder ihren Namen, ihr Gesicht zu geben und den Angeklagten persönlich mit diesen Menschen zu konfrontieren, auf dessen Vernichtung sein Handeln wissentlich zielte, haben die Zeug*innen der Nebenklage durch ihre Ausführungen geschafft.

Die Klarheit und Deutlichkeit, mit der die Zeugin dem Angeklagten gegenübersteht und ihn anspricht, macht es einem schwer zu glauben, dass ihre Worte nicht zu ihm durchgedrungen seien. Äußerlich regungslos schien es für uns so, als habe er eine Mauer um sich herum geschaffen und die Vehemenz, mit der sie ihn ansprach, mit der Häufigkeit der persönlichen Fragen schien jede persönliche Anrede wie ein Hammerschlag, der nach und nach mit jedem mal ein Stück ab meißelte. Ob er wollte oder nicht, er hatte sich dieser Konfrontation zu stellen und Frau Orosz Richt hat ihm seine Rolle, seine Taten und seine Verantwortung für das Leiden und die Toten vor Augen geführt. Während sie berichtet und vor allem durch die Art, wie sie berichtet, ist es für uns als Zuhörende so, als ob sich ein Bild von der Mutter aufbaut, die Situation, wie sie aus dem Viehtransporter getrieben, angeschrien und getreten wird. Aber es bleibt nicht bei diesem Bild des Chaos an der Rampe, dass sich im Gerichtssaal aufbaut, sondern durch ihre persönliche Ansprache schafft sie es, den Angeklagten in dieses Geschehen zu setzen. Ihn daran zu erinnern, dass er da war, dass er an der Rampe stand: „ Erinnern Sie sich, haben Sie sie gesehen,…?“ Das Geschehene zu beschreiben, die Menschen in diesem Chaos sichtbar zu machen, darauf haben wir bereits verwiesen, gelingt den Zeug*innen durch ihre Aussagen, die wie Farbe wirken, durch die ein zunächst unscharfes Bild Klarheit, an Schärfe und Tiefe erhält. Sie schaffen es aber nicht nur, die Opfer dieses Terrors aufzuzeigen und ihnen ihre Namen und Gesichter, ihre Identitäten zurück zu geben, sie sind keine anonyme Masse. Durch sie werden auch die Täter sichtbar, auch sie sind keine anonyme Masse. Das Bild, was sich uns durch die Ausführungen aufzeigt und im Gerichtssaal greifbar nah ist, das Chaos, die bellenden Hunde, verzweifelte getretene Menschen, Mengele, und schreiende SS Männer, Täter, wie Gröning.

Durch ihre persönliche Anrede setzt sie den Angeklagten in Beziehung zu dem Geschehen, er ist für uns sichtbar mitten in diesem Bild, weil er dort war, weil er Teil dessen war, weil er Täter war. Ob er zu dem Zeitpunkt an der Rampe stand, als ihre Eltern ankamen, kann von den Anwesenden niemand mehr auflösen, aber es waren tausende, die in genau dieser Situation voller Angst dort ankamen, während er an der Rampe stand und dabei half, dass die Vernichtungsmaschinerie geordnet abläuft. Es scheint wie ein Ringen, während der Angeklagte wie so oft bei den bisherigen Ausführungen der Zeug*innen den Anschein machte, als drifte er weg, als sei er nicht anwesend, als ob er sich zurück zieht hinter einen Vorhang, wo ihn das Gesagte nicht erreichen kann, riefen ihre persönlichen Anreden den Angeklagten zurück in das Geschehen. Auch wenn es ihm nicht direkt anzusehen war, aber Sie holte ihn zurück und konfrontierte ihn mit dem Geschehen.

Frau Orosz Richt berichtet weiter darüber, wie es ihrer schwangeren Mutter in Auschwitz erging. Ihr wurde eine Nummer ein tätowiert, seitdem war ihr Name nicht mehr Vera, fortan galt sie nur noch als Nummer „A 60 75“. Sie arbeitete zunächst in dem Effektenlager „Kanada“, wohin die geraubten Gegenstände der Deportierten verbracht wurden. Den Beinamen Kanada erhielt dieses Lager, da mit diesem Land ein Ort voller Reichtum verbunden wurde. Die Aufgabe ihrer Mutter war es, von den Gegenständen, die die Juden aus ihrem Zuhause haben mitnehmen können, nach Wertvollem zu durchsuchen. Erneut die direkte Ansprache: „Das waren die Wertgegenstände, die sie im Anschluss gezählt haben, Herr Gröning. All diese Dinge, die sie gezwungen waren, zurück zu lassen, als sie aus den Zügen getrieben wurden“.

Als ihre Mutter im fünften Monat schwanger war, kam sie zum Dienst im Außenkommando, es war schwere körperliche Arbeit, sie musste Straßenbau und Feldarbeit verrichten. Ihre Mutter berichtete ihr, wie sie Pflanzen gegessen haben und sich gefreut haben, wenn sie Tierfutter gefunden haben. Sie freuten sich darüber, als sei es eine Sachertorte gewesen, dabei war es Tierfutter. Danach wurde sie zum Küchendienst versetzt, dort konnte sie Kartoffelschalen essen und dies hat dazu beigetragen, dass sie und ihr ungeborenes Kind nicht verhungerten. Ihre Mutter hatte täglich jedoch nicht mehr als 400 Kalorien zur Verfügung und war entsprechend abgemagert. Darum war ihre Schwangerschaft nicht sichtbar, aber sie war massiv unterernährt.

Als sie zu einer schweren körperlichen Arbeit eingeteilt werden sollte, offenbarte sie sich der Blockältesten und berichtete ihr, dass sie schwanger ist. Eigentlich hätte diese Information das sofortige Todesurteil bedeutet. Statt dessen kam sie in eine Baracke in Block C, dort sollte sie sich um die Kinder kümmern, vor allem die Zwillingskinder, die von Mengele zu Experimenten missbraucht wurden. Unter ihnen war auch Eva Kor mit ihrer Schwester, Frau Kor hat als erste Nebenklägerin im Lüneburger Prozess eine Erklärung abgegeben.

Ihre Mutter wurde nun auch durch Experimente misshandelt. Sie war bereits im siebten Monat schwanger und wurde ausgewählt für Sterilisierungsexperimente durch Professor Carl Clauberg’s Team. Ihr wurde eine brennende Flüssigkeit in den Gebärmutterhals injiziert und sie beobachteten die Reaktionen. Die Zeugin führt aus: „Direkt hinter dem Gebärmutterhals war der Fötus, das war ich“. Sie beobachteten, wenn sie die Injektion nach links spritzten, bewegte der Fötus sich nach rechts. Wenn sie es nach rechts spritzten, bewegte der Fötus sich nach links. Diese Experimente führten sie mehrfach an ihrer Mutter durch und sind der Grund, warum Frau Orosz Richt keine Geschwister hat, ihre Mutter konnte nie wieder Kinder bekommen.

Als ihre Mutter im achten Monat schwanger war, hat ihr eine Ärztin eine Abtreibung nahe gelegt, da sie vielleicht überleben könne, wenn Mengele einen guten Tag habe und somit nur das Baby stirbt. Sollte er einen schlechten Tag haben, würden beide sterben. Ihre Mutter entschied sich dagegen. Ihre Mutter hat ihr von weiteren Experimenten berichtet, die an Schwangeren bzw. jungen Müttern und ihren Neugeborenen durchgeführt wurden. Einer jungen Mutter haben sie die Brüste abgebunden, um zu beobachten, wie lange das Baby überleben kann, ohne gestillt zu werden. Kurze Zeit später waren beide tot.

Frau Orosz Richt kann den Tag ihrer Geburt nicht genau datieren, ihre Mutter weiß nur, dass es drei Tage, bevor die deutschen Weihnachten feierten, war. Haben sie am 24.12. gefeiert, so ist ihr Geburtsdatum der 21.12. Feierten sie am 25.12., so ist sie am 22.12.1944 geboren. Ihre Mutter hat ihr die Geburt beschrieben. Als sie merkte, dass die Wehen einsetzten, hat sie sich an die Blockälteste gewandt, eine Gefangene aus Tschechoslowakien, deren Vater Arzt war und die ein wenig Erfahrung hatte. Sie besorgte ein Laken, heißes Wasser und eine Schere, ihre Mutter musste auf die dritte Ebene der Stockbetten und hat dort mit Hilfe der Blockältesten ihre Tochter zur Welt gebracht. Diese Tochter, die aussagende Zeugin Frau Orosz Richt, hat nur ein Kilo gewogen und war stark unterernährt und unterentwickelt. Die Tatsache, dass sie so geschwächt war, hat ihr im Nachhinein das Leben gerettet, denn sie war zu schwach zum Schreien. Somit wurde sie nicht entdeckt und konnte versteckt werden. Drei Stunden nach der Geburt musste ihre Mutter raus zum Zählappell, wäre sie nicht anwesend gewesen, hätten sie nach ihr gesucht und das wäre das Ende für sie und ihr Baby gewesen. Es war Ende Dezember, es fror und ihre Mutter hatte nur Fetzen am Leib, sie zitterte vor Kälte, aber in ihr loderte die eine Sache, der eine Gedanke, der sie all das hat durchstehen lassen: „ich habe ein Kind, ich muss es beschützen“.

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit, an diesem Tag ist ein weiteres Kind dort geboren: Gyorgy Faludi. Frau Orosz Richt ist nur Herr Faludi und sie bekannt, die in Auschwitz geboren wurden und überlebten. Sie berichtet von einer engen Bindung von Gyorgy Faludis Mutter und ihrer Mutter. Seine Mutter war auch unterernährt und komplett geschwächt, sie hatte nicht genug Milch, um ihn zu stillen. Die Mutter von Frau Orosz Richt hat beide Babys gestillt und es entwickelte sich eine lange und intensive Freundschaft zwischen den Müttern.

Dann berichtet sie weiter, wie das Leben ihrer Mutter nach der Befreiung verlief und das Überleben von ihr noch nicht gesichert war. Da Frau Orosz Richt sehr unterernährt und klein war, hielten die Menschen ihre Mutter für eine verrückte Frau, die ihren Verstand in Auschwitz verloren habe und die eine Puppe spazieren fährt und vorgibt, dies sei ihr Kind. Frau Orosz Richt war ein sehr krankes Kind und ihre Mutter hat in Budapest – dorthin ist sie nach der Befreiung zurück gekehrt – viele Ärzte aufgesucht, damit sie ihr helfen. Das Baby wog mit einem Jahr nur drei Kilo, niemand hatte die Hoffnung, dass dieses Baby überleben würde. Dann kam sie zu einem Arzt, der sie an den Füßen Kopfüber wie ein Hühnchen hielt und ihrer Mutter sagte, wenn sie den Kopf hebt und diese Reaktion zeigt, dann wird er ihr helfen. Dies ist geschehen und der Arzt hat ihre Mutter und sie über lange Jahre unterstützt, bis ihre Knochen so kräftig waren, dass sie alleine darauf laufen konnte.

Der 02.06., dem Tag, als Frau Orosz Richt im Lüneburger Prozess als Zeugin der Nebenklage ausgesagt hat, ist der Geburtstag ihres Vaters Tibor Bein, der im Alter von 32 in Auschwitz durch Erschöpfung ermordet wurde. Frau Orosz Richt beendete ihre Aussage mit einer erneuten direkten Ansprache des Angeklagten: „Herr Gröning, ich bin sicher, sie suchen das Grab ihrer Frau und ihrer Eltern auf, um ihr Herz aus zuschütten, wenn sie eins haben. Ich kann das nicht tun, ich kann nicht zum Grab meines Vaters gehen und ein Gebet sprechen, denn er hat kein Grab. Sein Leichnam wurde verbrannt und seine Asche um Auschwitz verstreut, vielleicht auf dem Boden des Lagers, vielleicht in den Wald gestreut, vielleicht als Dünger auf die umliegenden Felder verteilt. Auschwitz ist das Grab meines Vaters. Als ich im Januar dieses Jahres in Auschwitz war, lief ich herum wie in Trance, ich hatte Angst bei jedem Schritt, den ich tat, auf ein Grab zu treten. Siebzig Jahre Hitze, Regen und Schnee kann das nicht auslöschen. Nichts kann die Unmenschlichkeit und Alpträume wegwischen, die hier stattfanden.“

Sollte der Angeklagte erneut versuchen, sich dem Gesagten zu entziehen, weg zu dimmen hinter einen Vorhang, einen Schleier des Vergessens, so holt sie ihn zurück und spricht ihn ein letztes mal an. Hierbei schließt sich auch der Kreis zu ihrem Eingangsstatement, dass die Berichterstattung in den Medien sie dazu veranlasst habe, vor dem Gericht auszusagen und sie bezieht Stellung, ihre Haltung zu den vor einigen Wochen in der Presse dominierenden Schlagzeilen um Vergebung.

Frau Orosz Richt ist eine Frau von kleiner Statur, sie ist weniger als 1,50m groß. Während ihrer gesamten Aussage, steht sie im Gericht. Aufrecht, mit einer unglaublichen Kraft, schaut sie den Angeklagten an und spricht ihn ein letztes mal persönlich an:

Wir Juden zelebrieren den Shavout. An diesem Fest sagen wir den Kaddish, das jüdische Totengebet. In meiner Synagoge, siebzig Jahre nach dem Krieg, hört man noch immer das laute bittere Weinen während dieses Gebets. Viele Mitglieder meiner Gemeinde sind ungarische Juden, die den Holocaust überlebt haben. Wir weinen um jene, die Sie uns genommen haben, Herr Gröning. Wir vergessen nicht und wir können auch niemals vergeben. Herr Gröning, wie kann ich jemals vergeben? Wie kann ich jemals vergessen? Auch wenn es so schien, als führe meine Mutter nach dem Krieg ein glückliches Leben und als hätte sie den Horror von Auschwitz in ihren Gedanken verdrängt, kamen die Alpträume zurück, als sie mit 71 Jahren im Sterben lag. Sie sah Mengele im Türrahmen ihres Krankenzimmers stehen. Sie hatte Krebs und bekam Morphium, aber kein Morphium konnte es schaffen, dass er verschwindet. Sie starb am 28. Januar, sie wollte nicht am 27. Januar sterben, da an diesem Tag Auschwitz befreit wurde. Im Gedenken an meinen Vater, den ich niemals kennen gelernt habe und in Gedenken an meine Mutter, die mich geboren hat unter diesen unbeschreibbaren Zuständen, geschlagen von SS Männern, ernährt von weniger als 400 Kalorien am Tag, dafür und für jeden, dessen Mord sie geholfen haben, kann ich Ihnen nicht vergeben, Herr Gröning“. Sie schließt mit den Worten:“ The past ist present“ und dies trifft in vollem Ausmaß zu: Die Vergangenheit ist Gegenwart, das Vergangene ist gegenwärtig.

www.pastispresentauschwitz.com

Die komplette Aussage von Angela Orosz Richt im Wortlaut ist hier nachzulesen:

www.worldjewishcongress.org/en/news/angela-orosz-richt-i-cannot-forgive-you-herr-groening-6-5-2015-6-5-2015

[…]

Im Anschluss an die Aussage von Frau Orosz Richt erfolgten Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft sowie den Anwälten der Nebenklage bezüglich der Anträge der Verteidigung vom vorherigen Verhandlungstag. Zur Erinnerung: Es erfolgte ein Antrag, die an vorherigen Verfahren sowie Prozessen als Ermittelnde (z. B. Oberstaatsanwalt Klein in Frankfurt) oder auch Prozessbeteiligte als Zeugen zu laden, um zu erfahren, welchen Aufklärungsbeitrag der Angeschuldigte durch sein vorheriges Aussageverhalten beitrug, was er aussagte und eventuell den Verbleib und Inhalt der verschwundenen Personalakte (aus Auschwitz) des Angeklagten zu klären. Mehrere der Personen, die als Zeugen zu laden beantragt wurde, sind mittlerweile verstorben.

Der zweite Antrag bezog sich darauf, die bisher erfolgte Aussagewillikgeit des Angeklagten (auch in den Prozessen gegen ehemalige „Kameraden“ Jahrzehnte zuvor) im Falle eines Schuldspruchs als strafmildernd zu berücksichtigen.

In Bezug auf den zweiten Antrag stellte ein Anwalt der Nebenklage hervor, dass als strafmildernd gem. § 46b StGB nur die Aussagen des Angeklagten zu berücksichtigen sind, die er als Beschuldigter tat, also im Frankfurter Ermittlungsverfahren von Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre. Die in den Prozessen gegen ehemalige „Kameraden“ getätigten Aussagen in den Wuppertaler wie auch Duisburger Gerichtsverhandlungen erfolgten Aussagen wurden als Zeuge getätigt und somit findet der §46b StGB keine Anwendung.

Daran schloss sich die Feststellung des Anwalts der Nebenklage Herrn Nestler an, dass der jetzt Angeklagte im Verlauf der verschiedenen Ermittlungen (als Beschuldigter) und Prozesse (als Zeuge) zwar Aussagen über die Struktur, die Arbeitsabläufe, die Tötungsmaschinerie in Auschwitz tätigte, aber in Bezug auf seine persönliche Tätigkeit immer nur soviel preisgab, wie er es zum damaligen Stand als nicht strafbar vermutete. Somit ändern sich auch im Laufe der Jahre seine Angaben in Bezug auf seine Verantwortungs- und Tätigkeitsbereiche. Dies haben wir an verschiedenen Stellen im Verfahren bereits kennen gelernt: wenn ihm eigene Aussagen von früheren Vernehmungen als Beschuldigter und später als Zeuge vorgelegt wurde, die seinen aktuellen widersprechen, rudert er zurück, redet es klein, relativiert, die Erinnerung schwindet,…

Passend dazu hob ein Anwalt der Nebenklage hervor, wie der nun Angeklagte sich in den 1980er Jahren im Gerichtsverfahren gegen Weise (Landgericht Wuppertal) äußerte und sich seine Tätigkeit in der Urteilsbegründung niederschlägt. Der Anwalt zitiert aus der Urteilsbegründung von 1988: „Dies bestätigend und auch im übrigen gleichermaßen offen, wenngleich – was die konkret handelnden SS-Angehörigen anbelangt – zurückhaltend, umschrieb der von September 1942 bis September/Oktober 1944 ständig in der HGV des KL Auschwitz eingesetzte Zeuge H, daß er selbst Selektionen auf der Rampe miterlebt habe, allerdings nur anläßlich der Beaufsichtigung der sogenannten Rampenkommandos, zu deren Bewachung auf der Rampe jeder SS-Angehörige der Gefangeneneigentumsverwaltung herangezogen worden sei.“

Die Zeugen haben in der Urteilsbegründung andere Buchstaben erhalten, daher nicht irritieren lassen. Während Oskar Gröning in Lüneburg angibt, das Gepäck der Deportierten beaufsichtigt zu haben, damit es nicht gestohlen wird, wird aus dem Urteil von Wuppertal deutlich, dass er das gesamte Rampenkommando bewacht hat.

Die gesamte Urteilsbegründung ist öffentlich einsehbar unter:

www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/wuppertal/lg_wuppertal/j1988/25_Ks_130_Js_7_83_Z_29_85_V_Urteil_19880128.html

Die Ausführungen des jetzigen Angeklagten sind unter 4. Beweismittel/Beweiswürdigung c) Frühere SS-Angehörige als Zeugen (Rn. 179ff) nachzulesen.

Ein Artikel zur Verurteilung Weises und der Rolle der Justiz: www.zeit.de/1989/32/endlich-hinter-gittern

Wir hoffen, dass die Verhandlung wie geplant am 17.06.2015 weitergeht, hierzu ist erneut der Historiker Hördler aus Weimar als Sachverständiger geladen. 9:30 Uhr Beginn; 8:30 Uhr Einlass; Empfohlene Uhrzeit, um gesichert Einlass zu erhalten: 7:30 Uhr!

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 12

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf der letzten Prozesswoche informieren, zuvor einige Hinweise:

1. Wir haben bis heute mit unserer Mail gewartet, da sich nun bewahrheitet hat, worauf wir gewartet haben und explizit hinweisen wollen: Es wird angekündigt, dass am kommenden Verhandlungstag (01.07.2015) der Angeklagte die bereits in Aussicht gestellte ergänzende Einlassung vornehmen wird. Eine Mitteilung, die für uns noch größere Relevanz hat, ist jedoch jene: Irene Weiß, die am 07.05.2015 nicht aussagen konnte, wird nun als Zeugin der Nebenklage am 01.07.2015 vernommen. Die Beweisaufnahme in diesem wichtigen Verfahren wird mit der Aussage, mit der Stimme einer Überlebenden enden. Ein wichtiger Verhandlungstag, den wir allen Interessierten ans Herz legen:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13828&article_id=134742&_psmand=56

2. Ihr werdet dies am Ende der Beschreibung des 12. Prozesstages erneut lesen, aber die absehbare Tendenz hat für uns solche Relevanz, dass wir gleich vorab darauf verweisen wollen: Die Beweisaufnahme geht dem Ende zu, der Richter hat am Mittwoch die Prozessbeteiligten darauf hingewiesen, sich auf die Schlussplädoyers vorzubereiten. Sollte nicht noch etwas komplett Unvorhersehbares geschehen oder der Angeklagte erneut für einzelne Verhandlungstage ausfallen, gehen wir davon aus, dass im Juli das Urteil gesprochen wird. Dies zur Info für alle, die noch einmal an dem Prozess teilnehmen wollen sowie für alle, die sich unterstützend einbringen wollen. Sobald sich das Datum der Urteilsverkündung konkretisiert, werden wir verstärkt darauf hin mobilisieren und auch im Vorfeld noch ein Treffen zur Vorbereitung bekannt geben. Es wird sich alles vom Auftakttag wiederholen (Internationales Medienaufkommen, Nebenkläger*innen, Angehörige, Platzhalteraktion, ggf. Nazis,…), nur hat die Urteilsverkündung natürlich nochmal eine größere Relevanz. Wir halten Euch auf dem Laufenden, aber richtet Euch schon mal auf eine Urteilsverkündung im Juli ein.

3. Die in unserer letzten Mail beworbene Broschüre der VVN / BdA Lüneburg zu Kontinuitäten im Personal des justiziellen Sektors von der NS Zeit zur BRD wird nun ausführlicher auf einer Veranstaltung in Lüneburg am 25.06.2015 thematisiert:

www.antifa-lg-ue.org/wp-content/uploads/sites/15/Einladung-zur-Veranstaltung.pdf?fdf07b

4. Ebenso ein Verweis auf unsere vorangegangene Mail, in der wir über nicht stattfindende Verfahren gegen NS-Täter berichteten, da sie verstorben sind (Vladimir Katriuk) oder für nicht verhandlungsfähig erklärt wurden (Gerhard Sommer). Diese Liste ist nun zu erweitern durch eine weitere Person, der durch eine konsequente jahrelange Verschleppung der deutschen Justiz, gegen NS Täter zu ermitteln, nicht mehr vor Gericht gestellt wird, da er ebenso wie Sommer als nicht verhandlungsfähig eingestuft wird: Hubert Z. war SS-Sanitäter in Auschwitz, der Prozess gegen ihn findet nicht nur nicht statt, er erhält ebenso eine „Entschädigung“ für seine Untersuchungshaft:

www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Anwalt-Kein-Prozess-gegen-Ex-SS-Sanitaeter,nsverbrechen258.html

www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/prozess-gegen-hubert-z-faellt-aus-1915630906.html

4. Da der nächste Verhandlungstag erst am 01.07.2015 weitergeht, wollen wir die Zeit nutzen, auf Artikel hinzuweisen, die sich tiefergehend mit dem Prozess auseinandersetzen als reine tagespolitische Meldungen. Dazu zählt für uns ganz klar dieser:

www.zeit.de/2015/22/auschwitz-prozess-oskar-groening-ss-gericht/komplettansicht

Im Text sind zahlreiche hinterlegte Links mit weitergehenden Hintergrundinformationen.

Ebenso möchten wir auf ein Buchband hinweisen, dass Parallelen zu den Erfahrungen aufzeigt, die wir als Prozessbesucher*innen durch die Aussagen der Zeug*innen der Nebenklage machten. Es handelt sich um das Buch: „Auschwitz-Birkenau State Museum (Hrsg.): „Auschwitz-Birkenau – The Place Where You Are Standing…“, in dem es durch die Gegenüberstellung von Originalfotos aus dem KZ Auschwitz mit aktuellen Aufnahmen der Gedenkstätte gelingt, jene sichtbar werden zu lassen, die fehlen, die nicht mehr da sind. www.bbc.co.uk/news/in-pictures-17095519

Im Lüneburger Prozess sind – wie in allen Verhandlungen in deutschen Gerichten – während der Verhandlung weder Ton- noch Filmaufnahmen gestattet. Dies unterscheidet sich zum Frankfurter Auschwitz Prozess Anfang der 1960er Jahre. Ehemalige Häftlinge, Sachverständige, in Auschwitz tätige SS Männer und Ärzte sind hier als Zeugen zu hören:

http://auschwitz-prozess.de/index.php

Wir sehen Parallelen in den Äußerungen der Häftlinge (Chaos, Willkür, Ausgeliefert sein, Terror, Brutalität,…), wie auch der Täter (nüchterner Sprachstil für massenweises Morden). Die Zeugenmitschnitte gehen von einer halben bis zu vier, fünf Stunden, sind also keine kleine Zwischensequenz, die nebenbei angehört werden kann, sondern ein Eintauchen in dieses Prozessgeschehen und die darin beschriebenen Geschehnisse. Fritz Bauer wollte mehr, als im Auschwitz Prozess umgesetzt wurde.

Genug der vorausgehenden Hinweise, die vergangene Prozesswoche bestand nur aus einem Verhandlungstag:

Mittwoch, 17.06.2015 Tag 12

Der Prozesstag begann mit dem Hinweis des Vorsitzenden Richters Kompisch, dass der Angeklagte seine angekündigte ergänzende Einlassung vortragen wolle und dies im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen erfolgen werde. Dazu kam es dann nicht mehr, da die Erläuterungen des Sachverständigen sowie die daran anschließende Befragung die gesamten drei Stunden Verhandlungsdauer in Anspruch nahmen. Die ergänzende Einlassung des Angeklagten erfolgt wie oben bereits angeführt zu Beginn des kommenden Verhandlungstages am 01.07.2015.

Am 12. Prozesstag wurde zum zweiten mal Stefan Hördler aus Weimar als Sachverständiger gehört. Er ist Historiker und Leiter der Gedenkstätte Mittelbau – Dora (www.buchenwald.de/29/ ). Er promovierte 2012 zum Thema: „Ordnung und Inferno. Das KZ – System im letzten Kriegsjahr“.

Bei seinen ersten Ausführungen am 29.04.2015 ist Herr Hördler ausführlich auf den Aufbau und die Struktur des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz eingegangen. Am 12. Verhandlungstag lag der Schwerpunkt seiner Ausführungen auf der sog. „Ungarn Aktion“, den Vorbereitungen dazu, den vorgenommenen strukturellen, personellen und baulichen Veränderungen zur Umsetzung der geplanten Aktion, alle Juden aus Ungarn zu deportieren und einen Großteil von ihnen umgehend zu ermorden. Einen tiefergehenden Einblick zur politischen Situation und der Umsetzung der Massendeportationen in Ungarn 1944 bietet der ak Artikel von 1994, den wir in Euch in unserer 7. Mail angehängt haben.

Die Planungen und Umsetzung der Deportation und Vernichtung hunderttausender jüdischer Menschen aus dem deutsch besetzten Polen und Ukraine im Rahmen der sog „Aktion Reinhardt“ von 1942 bis 1943 ist durch die vorherigen Ausführungen der Sachverständigen Bajohr und Hördler bereits bekannt. Nun schließt Herr Hördler daran an, in dem er die Dimension der sog. „Ungarn Aktion“ aufzeigt. Er beschreibt, wie nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht im März 1944 das sog. „Eichmann – Kommando“ unter Führung von Adolf Eichmann zur Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden eingesetzt wurde. Parallel liefen im Lager die baulichen Veränderungen: während die alte Rampe noch außerhalb des Geländes Birkenau lag, wurde im Mai 1944 die neue Rampe fertiggestellt, die direkt ins Vernichtungslager Birkenau führte. Die vor Ort durchgeführten Selektionen, die Entscheidung, wer als „arbeitsfähig“ eingestuft wurde und wer nicht, also direkt in die angrenzenden Gaskammern geführt wurden griffen nun auch örtlich direkt ineinander über. Über 430.000 ungarische Juden wurden in 57 Tagen nach Birkenau deportiert, über 300.000 von ihnen direkt umgebracht. Mehrere Züge mit tausenden Menschen am Tag. Als Herr Hördler eine Zeichnung des Lagers aufzeigt, die Baracken, die Lage der neuen Rampe, der Gaskammern und Krematorien wird allen Anwesenden noch einmal klar, was zwar zuvor unter dem Namen Auschwitz = industrieller Massenmord bekannt war, aber es zeigt sich uns in dem Moment in aller Deutlichkeit die perfide und bis ins kleinste Detail ausgeklügelten Organisation, die kaltblütige Perfektion einer Tötungsfabrik. Diese stieß mit mehreren Tausend Ermordeten täglich jedoch an ihre Grenzen, es wurden mehr Menschen ermordet, als diese umgehend verbrannt werden konnten. Daher griffen die Nazis zu neuen Plänen, Herr Hördler bezeichnete es als: „Sie zogen die Mord – Experten“ zusammen. Es wurden also Spezialisten hinzugezogen, um den Ablauf der Vernichtung von Menschen zu optimieren, von der Verbrennung in den Krematorien ging man zu offenen Massenverbrennungen über. Dies waren von einzelnen Zeugen der Nebenklage auch die ersten Sinneswahrnehmungen, die sie bei ihrer Ankunft in Auschwitz Birkenau beim Verlassen der Viehtransporte wahrnahmen: „Es roch nach verbranntem Fleisch, die Luft war getränkt von diesem Geruch“.

Eben jene von Hördler treffend als „Mord Experten“ hinzugezogene waren allesamt langjährig erfahren in der Perfektion, Menschen umzubringen, da sie zuvor in dieser planmäßigen Aufgabe in anderen KZs gearbeitet haben: das Verbrennen von vielen Menschen, die Installation von Genickschussanlagen und etliches mehr. Einer dieser Mord – Experten war Otto Moll, der zuvor im KZ Sachsenhausen eingesetzt war und in Auschwitz Birkenau während der sog. „Ungarn Aktion“ die Sonderkommandos der Krematorien leitete. Hierbei zeichnete er sich nicht nur durch sadistisches Verhalten gegenüber den Häftlingen aus, sondern durch die Planung zur baulichen Veränderung der Verbrennungsgruben, um die Vernichtung der Menschen durch das Feuer zu perfektionieren. Moll war vorher schon in Auschwitz tätig, andere „Spezialisten“ wurden aus anderen Konzentrationslagern hinzugezogen, sie alle haben sich durch ihre Arbeit in den KZs

ein „Fachwissen“ für die Techniken in Tötungsfabriken erworben, auf das nun zurückgegriffen wurde.

Die Veränderungen Auschwitz Birkenau in ein Vernichtungslagers sind hier zusammengefasst:

www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/auschwitz_architecture/index.asp

All dies lief planmäßig und routiniert ab, mitnichten ist dies natürlich für die von diesem Terror Betroffenen der Fall, für sie war es ein traumatisierendes Chaos. Für die Nazis war es wichtig, dass diese Vernichtungsmaschinerie reibungslos vor sich ging. Dies sowohl als Täuschungsgrundlage für die neu ankommenden Deportierten, ebenso jedoch auch, um sich mit ihrem „Werk“ zu rühmen. Obwohl es in Auschwitz Birkenau untersagt war, Fotografien anzufertigen, bestehen zwei Alben, die den Lageralltag vor der Befreiung im Januar 1945 dokumentieren. Es handelt sich zum einen um das sogenannte „Lilly Jacob“ Album. Lilly Jacob, Häftling im KZ Mittelbau – Dora, fand dieses Album 1945, darin enthalten Fotos, die SS Männer von den Abläufen in Auschwitz Birkenau während der sog „Ungarn Aktion“ fertigten. Herr Hördler stellt dar, dass diese Fotos aus Sicht der SS Männer eine idealtypische Situation zum Ablauf der Selektion und Vernichtung, des perfekten Ablaufs beweisen wollten, sich damit rühmen wollten.

Hintergründe und Fotos zu diesem Album: www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/album_auschwitz

Wie perfide der Fokus darauf gerichtet war, im Lager ein geordnetes System, einen reibungslosen Ablauf herzustellen, macht die „Fibel für SS Wachmanschaften“ deutlich. Sie lautet „Bilderbuch falsch – richtig“ und beinhaltet Zeichnungen von gewünschten und unerwünschten Situationen und Verhalten von SS Männern gegenüber Lagerhäftlingen. Einige Bilder sind hier zu sehen, gezeigt wurde im Gerichtssaal eines der auf der verlinkten Seite unteren Zeichnungen, die verdeutlichen: Richtig: Alle Häftlinge sollen sich geordnet aus den Zügen aufstellen, die Waffen immer auf die Menschen gerichtet, auf anderen Bildern wird auch als richtig bezeichnet, auf die Menschen zu schießen: www.bildindex.de/obj20015449.html

Ein weiteres Album ist das vom SS – Obersturmbannführer Karl Höcker, es handelt sich um „Privatfotos“, die seine Zeit in Auschwitz dokumentieren. Auch diese sind im Gerichtsprozess zu sehen, hierbei handelt es sich zum einen um Aufnahmen, aus denen die Zusammenkunft wichtiger an der Organisation des Massenmordes mitwirkender hervorgeht (Kramer, Mengele, Höß, Thumann,…), zum anderen sind es Fotos, die Freizeitaktivitäten der SS Männer und Frauen in Auschwitz dokumentieren, lachende fröhliche Menschen, während hinter ihnen die Krematorien im Akkord arbeiten. Die gesamten 164 Abbildungen des „Höcker Albums“ sind hier einzusehen:

http://collections.ushmm.org/search/catalog?utf8=%E2%9C%93&q=hoecker+album&search_field=all_fields&f[record_type_facet][]=Photograph&commit=search

Ebenso ein Artikel zu dem Album:

www.welt.de/kultur/article1203774/Blaubeeren-essen-Blausaeure-verteilen.html

Interessant in der Auseinandersetzung mit den Fotos der Alben waren zwei Aspekte:

Zum einen der Verweis auf ein bekanntes Foto, das Höß, Mengele, Kramer und Thumann zeigt, wobei es keinen Quellennachweis durch Aktenbelege gibt, dass Anton Thumann in Auschwitz war. Dennoch war er dort, dies ließ sich erst durch die Fotos nachweisen und macht deutlich, dass auch viele SS Männer in Auschwitz eingesetzt waren, deren Einsatz nicht als solcher vermerkt war.

Der zweite Aspekt wird durch das Aufzeigen eines Fotos durch den Sachverständigen deutlich, auf dem eine Situation an der Rampe dokumentiert ist und eine mehrere SS Unterscharführer zu sehen sind. Dies schwächt die vorherige Aussage des Angeklagten, ab seiner Beförderung vom Rottenführer zum Unterscharführer sei kein Einsatz an der Rampe mehr vorgesehen gewesen. Zudem verweist Herr Hördler auf einen SS Unterscharführer, der auf dem Foto neben den ankommenden jüdischen Menschen aus Ungarn zu sehen ist, bei dem zu überprüfen sei, ob es sich um den Angeklagten handele. Der Mann trägt eine Brille, wie auch der Angeklagte während seiner Zeit in Auschwitz, es könne weder bewiesen, noch ausgeschlossen werden, dass es sich um den Angeklagten handele, es müsse eine klarere Auflösung dargestellt werden.

In der weiteren Befragung des Sachverständigen durch den Vorsitzenden Richter, durch die Anwälte der Nebenklage sowie die Verteidigung werden verschiedene Themenkomplexe behandelt, durch deren Erläuterungen der Historiker Zweifel an den bisherigen Darstellungen des Angeklagten deutlich macht. Dies bezieht sich maßgeblich auf die Häufigkeit der Einsätze an der Rampe. Herr Hördler zeigt in Anbetracht der Dimension der Transporte, der Massen an Menschen, die ins Lager kamen und entsprechend die hohe Zahl der Tötungen, dass ein hoher Bedarf an SS Männern für den Rampendienst bestand, dieser wurde durch ein Rotationsprinzip geregelt. Daher hält er einen zwei bis dreimaligen Einsatz – und dies nur vertretungsweise für andere Kameraden – als nicht realistisch. Eher geht er davon aus, dass einmal wöchentlich Dienst an der Rampe vollzogen wurde.

Es folgte eine längere Auseinandersetzung um die Aussagen des Angeklagten in dem Verfahren gegen Weise in Wuppertal 1988, in dem er als Zeuge aussagte. Hierbei zielten die Fragen darauf, was er in dem damaligen Verfahren über sein Verhältnis zu Weise – kannten sie sich oder nicht – aussagte und was darüber im Urteil dokumentiert ist. Es handelt sich um das von uns in der letzten Mail verlinkte Urteil, die offen einsehbare Version ist anonymisiert. Einem Antrag, das gesamte Urteil zu verlesen, wurde nicht stattgegeben, da es mehr als 200 Seiten umfasst. Stattdessen wird es den Prozessbeteiligten in nicht anonymisierter Form überstellt und im Selbstleseverfahren durchgesehen.

Hervorzuheben ist eine weitere wichtige Anmerkung des Sachverständigen in Bezug auf den Ablauf, die Prozesse im Lager: Die gesamte Vernichtungsmaschinerie funktionierte eben wie in einer Fabrik durch verschiedene Arbeitsbereiche, entsprechend ist die Ablaufkette dieser Tötungsfabrik geprägt durch Arbeitsteilung. Ausschließlich so konnte Auschwitz als Vernichtungslager funktionieren, jeder hat durch seinen Teil dazu beigetragen. Gleichermaßen ist dies das Dilemma bei der jahrelangen Bewertung durch die deutsche Justiz und auch dem Selbstverständnis der Täter von sich als „nicht Tat belastet“, was durch eben jene Rechtsauffassung gestärkt wurde: „Ich habe ja nur die Koffer weggeräumt, nur Wache geschoben, nur LKWs gefahren, nur Geld gezählt, nur die Zyklon B Behältnisse ins Lager gebracht, nur Häftlinge von dort nach dort gebracht, nur Nachrichten geschrieben, nur …..“ Weil sie alle in dieser Arbeitsteilung so perfekt funktionierten, war Auschwitz möglich. Jedes kleine Rädchen hat seinen Beitrag zum Massenmord beigetragen.

Abschließend wurden die Prozessbeteiligten darauf hingewiesen, sich auf die Schlussplädoyers vorzubereiten, dies ist auch der aktuellen Pressemitteilung des Landgerichts zu entnehmen.

[…]

Daher bitten wir Euch und alle Interessierten: Bereitet Euch darauf vor, dass es nur noch wenige Verhandlungstage gibt, besucht diesen Prozess!

Aufgrund des zu erwartenden gesteigerten Interesses wegen der angekündigten Einlassung des Angeklagten sowie der Aussage von Frau Weiß empfehlen wir, sich am 01.07.2015 bereits ab 7:00 Uhr vor der Ritterakademie einzufinden, um einen gesicherten Einlass zu erhalten.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 13

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Verlauf der vergangenen Prozesswoche informieren.

Vorab einige Hinweise:

1. Rechtsanwalt Thomas Walther, der zahlreiche Nebenkläger*innen im Verfahren vertritt, wurde vor dem Beginn des Prozesses zu den Erwartungen an und der Besonderheit dieses Gerichtsprozesses gefragt. Es handelt sich um ein 6minütiges Interview, das in der NDR Sendung Schabat Schalom ausgestrahlt wurde:

http://media.ndr.de/download/podcasts/podcast4076/AU-20150417-1351-2742.mp3

In einem weiteren Radiofeature, dass Ende Juni im Südwestfunk gesendet wurde und ca. 25 Minuten geht, zieht RA Walther Bilanz über den bisherigen Verlauf des Prozesses:

www.swr.de/swr2/programm/sendungen/tandem/thomas-walther-rechtsanwalt-der-nebenklaeger-ueber-den-lueneburger-ausschwitzprozess-besser-als-jede-therapie/-/id=8986864/did=15713342/nid=8986864/7rvset/index.html

Beide Interviews wurden von der Journalistin Almuth Engelien geführt.

Spannend wäre nun, eine Bewertung nach dem letzten Prozesstag, also der angekündigten Erklärung zu erhalten. Während die Beurteilung dazu auseinander gehen, nennt sie RA Walther einen „Schlag ins Wasser“, dazu im Bericht mehr.

2. Wir möchten Euch auf die Seite http://nebenklage-auschwitz.de aufmerksam machen. Diese Seite archiviert Aussagen und Erklärungen von Nebenkläger*innen, ebenso sind die Vertreter genannt. Es handelt sich nicht um eine gesamte Auflistung, sondern 49 der mehr als 60 Personen der Nebenklage, also um den Großteil. Ebenso schildern dort Nebenkläger*innen ihre Eindrücke vom Prozessgeschehen. Schaut sie Euch an, sie wird sicherlich kontinuierlich aktualisiert, da jetzt schon eine Rubrik „Plädoyers“ angefertigt ist.

3. Der Einlass in den Prozess beginnt immer um 8:30 Uhr, das Interesse und der Andrang von Besucher*innen sowie Medien richtet sich nach dem angekündigten Ablauf und geplanten Inhalten des jeweiligen Verhandlungstages. Am Mittwoch war das Interesse sehr groß, bereits um 7:00 Uhr haben 60 Personen in der Schlange gewartet. Es gibt nur 60 Plätze für die Öffentlichkeit, am Mittwoch haben sich jedoch Menschen einfach in den Prozess an den Wartenden vorbei gemogelt und sich so den Einlass erschlichen. Bis die Absperrung erfolgt, gibt es dafür keine andere Handhabe, als die, dass wir daran appellieren, sich weiterhin solidarisch, fair und respektvoll zu verhalten. Genau das ist die Grundlage, auf der das Platzhaltersystem funktioniert: früh genug aufstehen, dann ist der Einlass gesichert. Mit diesem Selbstverständnis haben wir uns alle in den letzten zwei Monaten gut organisiert. Bitte weist die Personen darauf hin, die dies ignorieren und ihr eigenes Interesse über all jene setzen, die seit Stunden anstehen. Es gibt immer eine Person, die Nummer 61, 62, 63 ist und nicht mehr reinkommt, obwohl sie rechtzeitig da war, allein aus dem Grund, weil Einzelne ihr Anliegen über das der anderen stellen. Wäre es ihnen wirklich wichtig gewesen, wären sie einfach früh genug aufgestanden. Es war uns wichtig, dies nochmal zu benennen.

Mittwoch, 01.07.2015 Tag 13

Aufgrund der langfristigen Ankündigung der ergänzenden Einlassung des Angeklagten sowie der Tatsache, dass Irene Weiß, die im Mai ihre Aussage wegen der Erkrankung des Angeklagten nicht halten konnte, erneut vor Gericht sein wird, um dies nun nachzuholen, war das öffentliche Interesse an diesem Verhandlungstag enorm. Sowohl hinsichtlich des Medienaufkommens (insgesamt waren alle Presseplätze bis auf zwei besetzt) wie auch der Zahl an interessierten Besucher*innen mit über 100 Wartenden verdeutlicht den Andrang am Morgen des 1. Juli.

Am Mittwoch war nicht nur Irene Weiß als Nebenklägerin anwesend, sondern auch Hedy Bohm und Judith Kalman, die bereits im April und Mai ausgesagt haben, sind erneut zur Verhandlung erschienen. Ebenso der Nebenkläger Andor Sternberg aus den USA.

Die Verhandlung beginnt mit dem Antrag des Rechtsanwalts Rückel, der drei Nebenkläger aus den USA vertritt. Er hat schon vor zwei Monaten beantragt, die Nebenkläger, die die Reise nach Lüneburg nicht mehr auf sich nehmen können, vor Ort zu befragen und anzuhören. Hieran schloss er an und beantragte, eine von ihm mitgebrachte DVD mit der Aussage einer seiner Mandanten im Gericht abzuspielen und zur Beweisaufnahme hinzuzuziehen. Die Aussage seines Mandanten dauern ca. 45 Minuten. Ebenso beantragte er die Inaugenscheinnahme des „Auschwitz Album“, dass er im Prozess vorliegen hat und in dem die Vorgänge in Auschwitz Birkenau von der Ankunft, der Selektion, dem gesamten Ablauf des Schicksals der Deportierten dokumentiert ist.

Der Verteidiger Herr Holtermann sprach sich gegen den Antrag aus, u. a., da die Hinzuziehung der DVD unzulässig sei, da nicht geklärt ist, unter welchen Umständen sie entstand und dies nicht den strafprozessualen Anforderungen entspreche. Der Vorsitzende Richter Kompisch wies den Antrag von RA Rückel zurück und begründete dies bzgl. des „Auschwitz Albums“ damit, dass bereits bei den Ausführungen des Sachverständigen Hördler ausführlich auf die Dokumente des Albums eingegangen wurde und diese auch gesichtet wurden. Bezüglich der DVD mit der Aussage des Nebenklägers aus den USA sowie einer Anhörung der Nebenkläger vor Ort hob er hervor, dass das Gericht durch die bisherigen und die heute noch kommende Aussage der Zeugen mit deren Darstellungen einen Eindruck im Rahmen der Beweisaufnahme erhalten habe. Die Zurückweisung des Antrages solle nicht als mangelnder Respekt gegenüber diesen Nebenklägern verstanden werden. Vielmehr sind für die Realisierung eines solchen Antrages immense diplomatische und bürokratische Anforderungen geknüpft, die nicht im Verhältnis zur „Prozessökonomie“ stehen würden.

Es folgte die angekündigte Einlassung des Angeklagten. Dies begann jedoch damit, dass von Seiten der Verteidiger darauf hingewiesen wurde, dass die Beschäftigung mit den Geschehnissen in Auschwitz, die durch die Aussagen der Nebenkläger sehr präsent wurden, ihren Mandanten außerordentlich belasten. Ein Gutachter hat den Angeklagten daher nicht nur bzgl. seiner physischen, sondern maßgeblich bzgl. seiner psychischen Konstitution untersucht. Daher wird die Einlassung nicht durch den Angeklagten selbst, sondern durch seine Verteidigerin Frau Frangenberg verlesen. Die Bewertungen zu der dann folgenden Erklärung des Angeklagten gehen auseinander und auch für uns stellt es sich in die Kontinuität dessen, welchen Eindruck, welches Bild sich uns vom Angeklagten bislang zusammenfügte: ambivalent. Die Erwartungen, die die lang angekündigte erneute Einlassung geweckt hat, vor allem unter dem Aspekt, inwieweit ihn die Aussagen der Überlebenden erreicht haben, wurden aus unserer Sicht nicht erfüllt. In der fünfseitigen Einlassung wird auf den ersten drei Seiten angeführt, was bereits bekannt war. Er schildert seine Tätigkeit und wiederholt hierbei nur, was er bereits ausgesagt hat. Erst dann geht er mit einem Satz auf die von ihm als „kleines Rädchen“ bezeichnete Rolle ein: „Auch wenn ich unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun hatte, habe ich durch meine Tätigkeit dazu beigetragen, dass das Lager Auschwitz funktionierte. Dies ist mir heute bewusst“. Er führt weiter aus, dass er versucht habe, sich „rauszuhalten“ und sich auf seine Tätigkeit in der HGV zu beschränken. Es setzte eine Verdrängung ein, die ihm heute unerklärlich sei. Als mögliche Begründung führt er die Erziehung zum Gehorsam an, welche Widersprüche nicht zuließ. Das Berufen auf diesen Gehorsam bezeichnete er selbst treffend als „Bequemlichkeit“, in die man sich durch Berufung auf die Befehlsstruktur begibt. Als weiteren Aspekt die „Gewohnheit, Tatsachen zu akzeptieren, wie sie auftraten, um sie später zu verarbeiten“ Nun wirft dies Fragen auf, wie diese Verarbeitung aussah, wenn sieben Jahrzehnte nach diesen Geschehnissen am ersten Verhandlungstag in den Aussagen des Angeklagten der Sprachstil vielfach dem SS Jargon glich. Auf diesen Punkt geht er ein, indem er erklärt:

In der Befragung nach meiner ersten Erklärung zur Sache habe ich mehrfach Formulierungen verwendet, wie sie damals unter den SS–Angehörigen in Auschwitz gang und gäbe gewesen sind. Diese Auffassungen entsprechen in keiner Weise meiner heutigen Auffassung. Ich habe ausgesagt, so gut und wahrheitsgemäß ich konnte. Dabei habe ich nicht bedacht, wie furchtbar diese Worte auf andere, insbesondere die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer, wirken mussten. Hierfür bitte ich um Entschuldigung, es war nicht meine Absicht, ihre Gefühle zusätzlich zu verletzen.“

Durch die Entschuldigung für seine im Prozess verwendeten Worte und Formulierungen schien es uns, als sei nun die Tür einen Spalt geöffnet, die Mauer, hinter der er sich zurückzog, ins Wanken geraten und die eigentliche Erklärung in Bezug auf das, was die Schilderungen der Zeugen in ihm ausgelöst haben, würden nun ausführlicher bzw. überhaupt benannt. In den folgenden zwei Absätzen gibt er an, wie sehr ihn die Schilderungen der Überlebenden außerordentlich stark beeindruckt haben und welche Auswirkungen die Schrecken in Auschwitz auf ihr gesamtes Leben hatten. Ebenso wie sehr der Holocaust das gesamte Leben der Nebenkläger beeinflusst habe. Er verwies darauf, sich durch seine Tätigkeit in der HGV am Holocaust mitschuldig gemacht zu haben, wenngleich er seinen Anteil daran als klein bezeichnet. Es schien uns, als nähere er sich mit diesen Sätzen dem Moment, um sich direkt an die Überlebenden wendet, um sich nicht nur für seinen Sprachstil im Prozess zu entschuldigen. Die Einlassung endet dann jedoch mit der Erklärung: „Mir war in meiner ersten Erklärung wichtig, zum Ausdruck zu bringen, dass ich in Demut und Reue vor den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer stehe. Gleichwohl habe ich bewusst nicht um Vergebung für meine Schuld gebeten. Angesichts der Dimension der in Auschwitz und anderswo verübten Verbrechen steht mir meiner Auffassung nach eine solche Geste nicht zu. Um Vergebung kann ich nur meinen Herrgott bitten“.

Durch diese abschließende, etwas pathetisch anmutende Aussage, nimmt er jedoch nicht nur Bezug auf seine Rolle bzw. welche ihm nicht zustehe, sondern legt dadurch auch die Rolle der Überlebenden fest, indem sie nicht als Adressaten in Frage kommen, über die Frage der Vergebung zu entscheiden. Er nimmt sich und ihnen dadurch von vornherein die Möglichkeit dazu. Nun entspricht es nicht unserem Vorgehen, ins Spekulieren oder Psychologisieren zu verfallen, aber die Erklärung wirkte auf uns doch eher so, als habe der Angeklagte versucht, mit dieser Form der Erklärung seinen Frieden für sich zu finden, und ist ihm dies nur in diesem gesetzten Rahmen möglich.

Wenn ein Gutachter feststellt, dass der Angeklagte durch die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen stark psychisch belastet sei und die Konsequenz daraus ist, dass er sich persönlich nicht mehr äußert, ist das erstmal die Situation. Mit dem Verlesen der Erklärung durch eine andere Person wurde für uns als Zuhörende die Distanz von dem Gesagten zu dem Angeklagten selbst jedoch noch verstärkt. Es fehlte das Ungesagte und Ungezeigte. Wäre die Erklärung durch seine Worte erfolgt, vielleicht wäre das sichtbar geworden, was den gesamten Prozessverlauf fehlte und ausblieb: eine Gefühlsregung, eine menschliche Geste, ein authentisches Zeichen an die anwesenden Nebenkläger*innen, das die wiederholt formulierte und von der Verteidigerin vorgetragene „Reue und Demut“ erkennbar hätte werden lassen.

Welchen Eindruck die Einlassung des Angeklagten bei den Nebenkläger*innen hinterließ, ist diesen Artikeln bzw. Videoclips zu entnehmen. Die gesamte Erklärung haben wir Euch als Anhang mit beigefügt.

www.welt.de/politik/deutschland/article143409306/Er-will-dass-man-ihm-sagt-was-er-fuehlen-soll.html

www.faz.net/aktuell/gesellschaft/auschwitz-prozess-groening-aussage-enttaeuscht-kz-ueberlebende-13681314.html

Der Erklärung des Angeklagten schloss sich eine Befragung an. RA Nestler, Vertreter der Nebenklage, wies den Angeklagten auf den Widerspruch hin, der sich auftut, wenn erklärt wird, der Angeklagte sei froh, so wenig wie möglich an der Rampe eingesetzt worden zu sein, dann jedoch für seine Kameraden auf Bitte einzuspringen. Die Antwort blieb aus, da der Verteidiger Herr Holtermann auf die vom Gutachter festgestellte psychische Belastung des Angeklagten durch die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Auschwitz verwies und darauf hinwirkte, dass die zu stellenden Fragen an den Angeklagten ihnen zugesandt werden, so dass sie sie mit dem Angeklagten gemeinsam durchgehen. Ein solches Vorgehen irritierte uns doch stark, schließlich handelt es sich um die Befragung des Angeklagten, aber da sich auf dieses Vorgehen von allen Prozessbeteiligten verständigt wurde, ist es zulässig. Auf uns wirkte es grotesk.

Nun trat Frau Irene Weiß in den Zeugenstand, als Nebenklägerin, als letzte Überlebende, die als Zeugin im Rahmen der Beweisaufnahme angehört wird.

Sie beginnt ihre Aussage mit der Beschreibung über die Zeit vor ihrer Deportation. Ihr Vater hatte

ein Holzgeschäft, sie waren sechs Geschwister im Alter von 7 bis 17 Jahren, sie war zu der Zeit, als sie in Auschwitz ankamen, 13 Jahre alt. Nur sie und ihre Schwester überlebten Auschwitz, sie verlor ihre Eltern, ihre kleine Schwester und ihre drei Brüder, ebenso zahlreiche Cousinen und Cousins, Onkel und Tanten.

Bereits 1940, als Ungarn dem Dreimächtepakt beitrat, spürten sie als Jüdinnen und Juden die schrittweisen Veränderungen, Einschnitte im gesellschaftlichen Leben und Diskriminierungen. Das Geschäft ihres Vaters wurde enteignet und an Nicht-Juden vergeben, sie mussten den gelben Stern tragen und die Kinder wurden von der Schule verwiesen.

1944 mussten wurde ihnen bekannt gegeben, sich am nächsten Tag in der Stadthalle zu versammeln, ihre Mutter bereitete Speisen zu und nähte Schmuck in die Kleider in der Voraussicht, dass sie ihn später brauchen könnten, um ihn gegen etwas Nützliches, z.B. Essen für die Kinder, tauschen zu können.

Sie wurden von zu Hause abgeholt und ihr Vater schloss das Tor hinter ihnen, damit ihr Hund ihnen nicht folgte. Sie wurden mit ca. 100 weiteren Juden aus ihrer Stadt auf das Gelände einer alten Ziegelei außerhalb der Ortschaft gebracht, dort befanden sich bereits Hunderte andere jüdische Familien aus den umliegenden Städten. Während ihres einmonatigen Verharrens in diesem Ghetto wurden allen Mädchen unter 16 Jahren die Haare geschoren, so auch ihr. Dies war sehr demütigend und ihre Mutter gab ihr ein Tuch, um ihren Kopf zu bedecken. Ihre mitgebrachte Verpflegung war nach kurzer Zeit verbraucht und sie waren abhängig von den täglichen Essensrationen Suppe. Nach einem Monat hielt ein Güterzug neben der Ziegelei und sie wurden in die Waggons gejagt, zwischen 80 und 100 Personen pro Waggon. Als die Rolltüren der überfüllten Transporter geschlossen wurden, herrschte vollkommene Dunkelheit. Nach Stunden setzte der Zug sich in Bewegung und fuhr Tag um Tag, Nacht um Nacht, es war ein Martyrium für die eingepferchten Menschen. Durch einen kleinen Schlitz an der Seite des Waggons sah ihr Vater, dass der Zug die Grenze zu Polen überquerte und bestätigte damit ihre schlimmsten Befürchtungen: Sie haben zuvor gehört, dass in Polen Massenerschießungen von Juden in Wäldern stattgefunden haben sollten. Als der Zug dann einfuhr und ihr Vater erkennen konnte, dass dort Häftlinge arbeiteten, waren sie erleichtert, da sie die bedrohlichen Gerüchte als nicht zutreffend ansahen und glaubten, nun in einem Arbeitslager zu sein. Den Namen Auschwitz haben sie nie zuvor gehört.

Ihre Mutter hatte ihren Kindern geraten, so viele Kleidungsstücke wie möglich übereinander zu ziehen, daher trägt Frau Weiß einen Wintermantel, der ihr viel zu groß war.

Dann ging alles sehr schnell, die Türen wurden aufgerissen, unter dem Schreien der SS-Wachen wurden die Menschen aus den Waggons getrieben, Häftlinge in gestreifter Kleidung sprangen in die leeren Waggons und begannen, die darin befindlichen Koffer und Taschen auf die Ebene vor dem Zug zu schleudern und diese auf die bereitstehenden Lastwagen zu hiefen.

Auf der Plattform herrschte für sie das Chaos, ihre Familie stand fest umklammert. Sie versuchten, in dem Gedränge, dem Lärm, der Verwirrung zusammen zu bleiben, sich nicht zu verlieren. Flankiert von SS–Männern mit Gewehren zog die Menschenmenge immer weiter nach vorne, bis sie an einen SS–Mann gelangten, der schrie: „Männer auf die eine Seite, Frauen und Kinder auf die andere Seite“. In einem Augenblick verschwand ihr Vater und ihr 16jähriger Bruder aus ihrem Blickfeld, sie hat sie nie mehr wieder gesehen. Ihre Mutter Leah, ihre 17jährige Schwester Serena, ihre 12jährige Schwester Edith und ihre beiden jüngeren Brüder Reuven und Gershon standen mit ihr in einer Schlange, an deren Ende sie von 10 oder mehr SS Wachen gestoppt wurden. Inmitten von ihnen ein SS–Mann mit einem Stab, der die Menschen in verschiedene Richtungen einteilte, in die sie zu gehen hatten. Während ihre ältere Schwester in die eine Richtung geschickt wurde, sollten bis auf sie und ihre kleine Schwester alle anderen die gegensätzliche Richtung einschlagen. Dann entschied der SS–Mann mit dem Stab auch zwischen ihr und ihrer Schwester Serena und schickte sie in zwei verschiedene Reihen. Da sie den übergroßen Mantel und das Kopftuch trug, wirkte sie älter als 13 Jahre. Frau Weiß ging jedoch nicht sofort weg, sondern sorgte sich um ihre kleine Schwester Edith, ob sie in dem Gewirre ihre bereits vorausgegangene Mutter und Brüder wiederfinden würde. Sie war 12 und jetzt ganz allein in diesem Chaos. Niemand hat ihre Namen vermerkt, keiner danach gefragt, wie sollten sie als Familie wieder zusammenfinden?

Eben jene Situation ist auf dem nun im Gerichtssaal projizierten Foto zu sehen: Die Menschen in den Reihen, die Transportzüge, die aufgehäuften Gepäckstücke, die auf die hinten wartenden Lastwagen verbracht werden, die bewaffneten SS–Männer und die Menschen voller Angst in all diesem Chaos, was mit ihnen und ihren Familienmitgliedern geschieht. Frau Weiß ist vorne links im Bild zu sehen, sie hält Ausschau nach ihrer kleinen Schwester Edith, die den Weg rechts zwischen dem Transport geschickt wurde.

https://nebenklageauschwitz.files.wordpress.com/2015/07/111crowd_col1.jpg

Wenngleich dieses Foto schon im Prozessverlauf zu sehen war (bei den Ausführungen des Sachverständigen Herrn Hördler), so ist diese Situation für alle Anwesenden im Gerichtssaal eine Besondere, weil Frau Weiß als Zeugin vor einem deutschen Gericht gegen einen ehemaligen SS-Mann aus Auschwitz aussagt, während sie bei der Ankunft in Auschwitz zu sehen ist und ihre Erinnerungen an diesen Moment schildert. Das historische Foto, das darauf abgelichtete Geschehen, wirkt plötzlich ganz nah, das empfundene Chaos ist spürbar, die Angst um die Schwester und die restliche Familie, das Schreien der SS–Männer. Ob und wie das Geschehene und Erlebte der Zeugin den Angeklagten erreicht, vermögen wir nach der Einlassung nicht zu bewerten. Von ihm ist wie bisher keine Regung zu erkennen.

Frau Weiß führt die Situation weiter aus, sie bewegte sich trotz Aufforderung des SS–Mannes nicht weiter, nicht weg von der Möglichkeit, ihre Schwester zu sehen, dies war in der weggeschobenen Menschenmenge nicht mehr möglich. Ihre Familie hatte so lange und fest versucht, zusammen zu bleiben und nun waren sie völlig auseinandergerissen. Das Trauma dieser Trennung besteht bei ihr bis zum heutigen Tag.

Sie wurde in die andere Richtung gestoßen und traf auf ihre ältere Schwester Serena, die sie fragte, warum sie nicht bei der Mutter und den kleinen Geschwistern geblieben sei. Nachdem sie in ein Gebäude verfrachtet wurden, in dem auch ihre Schwester und den anderen Frauen der Kopf geschoren wurde und sie Häftlingskleidung anziehen mussten, kamen sie in eine Baracke mit ca. 200 anderen Frauen. Sie erkundigte sich bei den anderen Gefangenen, wann sie ihre Familie wiedersehen würden, diese zeigten jedoch auf den Schornstein und sagten zu ihr: „Siehst du den Rauch? Das ist deine Familie“.

Frau Weiß berichtet über ihre Erinnerungen als Häftling in Auschwitz, über die täglichen Zählappelle, bei denen sie sich auf einen Stein stellte, um nicht so klein zu wirken, wie sie war als 13jährige. Ebenso, dass sie sich in die Wangen kniff, auf dass sich diese rot färben und sie gesünder aussah, um nicht selektiert zu werden. Durch Glück trafen sie auf ihre Tanten Roszi und Piri, die in benachbarten Baracken waren und deren liebevolle Hingabe ihnen halfen, diesen schrecklichen Ort zu überstehen. Ihnen wurde eine Nummer auf den Arm tätowiert und sie musste im Effektenlager „Kanada“ arbeiten. Es waren Berge von Kleidung, Schuhen, Bettwäsche, Brillen, Haushaltsgeräte, Töpfe und Pfannen, auch Kinderwagen. Sie mussten die Wertsachen, die den Deportierten, den Häftlingen und den Ermordeten geraubt wurde, nach Wertgegenständen sortieren.

Eines Tages fand sie während der Arbeit beim Sortierung der Kleidung das weiße Kleid und den beigen Schal ihrer Mutter. Sie mussten neben den Gaskammern und Krematorien arbeiten. Sie hatte ihr Wissen aus erster Hand, was mit den Menschen geschah, die Tag und Nacht, Männer, Frauen, Alte und Kinder in Reihen ihre Baracke passierten und verschwanden hinter dem Tor, das in die Gaskammern führte.

Nun wechselt das Bild im Gerichtssaal und es ist eine Situation von Menschen, Frauen und Kinder in einem Birkenwäldchen zu sehen. Dieses Foto hat Frau Weiß ebenso wie das vom Geschehen an der Rampe, auf dem sie zu erkennen ist, zum ersten mal vor mehr als 20 Jahren gesehen, als ihre Tochter auf das Buch gestoßen ist und sie sich und ihre Familienmitglieder auf den Fotos wieder entdeckte. Sie sieht ihre beiden Brüder Reuven und Gershon vorne links im Bild, dahinter kniend ihre Mutter Leah. Diese Aufnahmen sind kurz vor dem Weg in die Gaskammern entstanden, die Menschen saßen ahnungslos im Birkenwäldchen und wussten nicht, dass ihre Mörder schon auf sie warten. Der einzige Trost, der sich für Frau Weiß daraus ableitet, war zu wissen, dass ihre Brüder bis zum Schluss bei ihrer Mutter waren:

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Im Januar 1945 wurden sie und ihre Schwester Serena mit vielen anderen Häftlingen auf einen Todesmarsch geschickt. Den Weg nach Ravensbrück und von dort aus weiter nach Neustadt–Glewe überlebten zahlreiche Häftlinge nicht. Sie starben an Erschöpfung oder wurden erschossen. Vollkommen entkräftet und abgemagert erreichte sie mit ihrer Schwester Neustadt-Glewe. Auch ihre Tante Piri war bei ihnen, aber sie war an Typhus erkrankt und auf einen LKW verbracht und abtransportiert worden. Auch für ihre Schwester Serena wurde der Tod entschieden, sie wurde selektiert und sollte von ihr getrennt werden. Dies konnte Frau Weiß nicht hinnehmen, sie wollte sich von ihrer Schwester nicht mehr trennen und ging mit ihr. Sie wurden in eine Kammer gesperrt, aber dann waren keine Wachen, keine SS Männer mehr da. Vermutlich aufgrund der näher rückenden Roten Armee ergriffen die Nazis die Flucht. Frau Weiß erlebte die Befreiung von den Nazis also in Neustadt-Glewe.

Frau Weiß berichtet über ihren Vater, der in Auschwitz erschossen wurde. Sie erfuhr, wie ihr 47jähriger Vater in Auschwitz gezwungen wurde, im Sonderkommando zu arbeiten, er musste die Leichen aus den Gaskammern ziehen. Kurz nachdem er gezwungen war, diese Arbeit zu verrichten, wurde er erschossen. Erfahren hat sie das durch einen jungen Mann aus ihrem Ort, der ebenfalls dort war und ihr ein Zettelchen mit der Nachricht durch den Zaun reichte, der sie vom Krematorium trennte.

Frau Weiß beschreibt ihren Vater, seine liebevolle Art, dessen ganzes Leben seine Familie und sein Glauben war. Seine sanfte und freundliche Person. Welche Möglichkeiten er sich einfallen ließ, um den Kindern das hebräische Alphabet beizubringen, sodass sie die Gebete lesen können.

In ihrem Zuhause hatten die Decken Balken, in deren Ritzen er Münzen schob. Immer, wenn sie er sie für gutes Lernen belohnt hatte, schlug er mit einem Besenstiel gegen die Balken, sodass es für die Kinder schien, als regnete es Münzen, mit denen sie sich sogleich im Laden Süßigkeiten holten.

Bei vielen Zuhörern ging der Blick automatisch zur Decke, als Frau Weiß ihre Erinnerungen an ihren Vater schilderte. Als könne man den Vater sehen, wie er den Besenstiel an die Decke balancierte, die lachenden Kinder, die nach den Münzen springen. Frau Weiß berichtet, dass sie nach dem Krieg Kinder lange anstarrte, da sie über ein Jahr keine Kinder mehr gesehen hatte. In Auschwitz war Kind sein gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

Zum Schluss kommt sie auf den Angeklagten zu sprechen und die Rolle in der er sich selbst sieht. Für sie war jeder Mann in einer SS Uniform ein Täter und würde er heute hier in dieser Uniform sitzen, würde sie zittern wie damals als 13jähriges Mädchen. Für dieses 13jährige Mädchen war jeder, der diese Uniform an diesem Ort trug, ein Vertreter von Terror und einem Zeichen dafür, wie tief die Menschheit sinken kann. Unabhängig davon, welche einzelne Funktion die Person in dieser Uniform ausgeübt hat. Und heute, im Alter von 84 Jahren, fühlt sie noch genauso.

Die gesamte Aussage von Frau Weiß ist im Original hier nachzulesen: http://nebenklage-auschwitz.de/category/irene-weiss

Abschließend wurden durch Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Vertreter der Nebenklage noch Anträge und Anregungen formuliert.

Der Staatsanwalt Lehmann verwies auf diverse Dokumente und Schriften, die Hinweise zur Erkenntnisgewinnung liefern könnten. Er verlas eine Vielzahl von Dokumentennummern, die sich keiner außerhalb der Prozessbeteiligten merken konnte und deren Inhalte sich nicht erschloss. Der Rechtsanwalt von Münchhausen stellte den Antrag zur Sichtung des Buches „I escaped from Auschwitz“ zur Auseinandersetzung mit den Abläufen, der Struktur und den Geschehnissen in Auschwitz Birkenau. Hierzu fügte der Vorsitzende Richter Kompisch an, dass – dies betraf auch den Antrag von RA Rückel zu Beginn der Verhandlung – durch die umfassenden Ausführungen des Sachverständigen Hördler sowie die Aneignung des Wissens durch die detaillierten Ausführungen im Urteil gegen Herrn Weise im Selbstleseverfahren von einer Kenntnis der Prozessbeteiligten ausgegangen wird.

Der Verteidiger Herr Holtermann ging auf die in den vorigen Verhandlungstagen geführte Auseinandersetzung um die Rolle des Angeklagten bei anderen Verfahren, Prozessen etc. ein. Während die Verteidigung versucht, entlastende Aspekte für den Angeklagten hinzuzuziehen und dies auch mit dem Verweis auf seine Mitwirkung und Aussagetätigkeit in vorherigen Prozessen gegen und im Gegensatz zu ehemaligen Kameraden (dieser Hinweis erfolgte im Rahmen eines Antrages der Verteidigung, dies im Falle eines Schuldspruches als strafmildernd zu berücksichtigen), stellten Vertreter der Nebenklage dar, dass eine strafmildernde Berücksichtigung nur für Personen gelte, die zu dem jeweiligen Aussagezeitpunkt als Beschuldigter gelten.

Der Verteidiger hob die Relevanz der Tatsache hervor, dass die geplante Dauer des Verfahrens und die zeitliche Einordnung einer Urteilsverkündung und somit dem Ende eines Verfahrens für den Angeklagte deutlich sein muss.

Herr Holtermann verwies darauf, dass die Ermittlungen bereits Ende der 1970er Jahre gegen den Angeklagten begonnen haben und ihm die Einstellung Mitte der 1980er nicht mitgeteilt wurde. Immer wieder wurde er über Jahrzehnte mit dieser Thematik von deutschen Gerichten befasst. Nun wurde sich auf Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berufen, die darauf eingehen, was eine zulässige Verfahrensdauer ist, die Kriterien für die Ermittlung einer Prozessdauer und die Aussicht des Beschuldigten auf ein Ende des Verfahrens.

Diese Vorlage nahm der Vorsitzende Richter Kompisch gerne auf und befragte den Angeklagten umgehend zu den Ermittlungen gegen ihn Ende der 1970er Jahre. Ob ihm denn zu einem Zeitpunkt bekannt war, dass er als Beschuldigter vernommen wurde? „Nein, zu keinem Zeitpunkt“ antwortete der Angeklagte. Damit war auch die Grundlage der argumentativen Ausführungen des Verteidigers dahin. Es kann einen nicht über Jahrzehnte belasten, dass Ermittlungsverfahren gegen einen laufen, wenn man nie Kenntnis darüber hatte, als Beschuldigter zu gelten. Einen kurzen Eindruck über den Verhandlungstag bieten diese Beiträge:

www.youtube.com/watch?v=VBqtAh2k7BA

www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-07/oskar-groening-auschwitz-prozess-lueneburg-entschuldigung

Am nächsten Verhandlungstag soll über die noch eingegangenen Anträge entschieden werden und der Angeklagte zu den eingereichten Fragen nach deiner Einlassung Stellung nehmen. Danach könnte die Beweisaufnahme geschlossen und mit den Plädoyers begonnen werden. Diese erfolgen in der Reihenfolge Staatsanwaltschaft, Vertreter der Nebenklage, Verteidigung. Wie viel Zeit und entsprechend wie viele Verhandlungstage dies insgesamt in Anspruch nehmen wird, bleibt abzuwarten.

Donnerstag, 02.07.2015

Der Verhandlungstag wurde aufgehoben, da der Angeklagte aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes nicht zu Gericht erscheinen konnte. Der Zustand des Angeklagten sei „schwächer denn je“, seine Anwältin Frau Frangenberg regte an, fortan nur noch einen Tag pro Woche zu verhandeln. Dies wies der Vorsitzende Richter Kompisch jedoch zurück und machte deutlich, dass die festgelegten Termine beibehalten werden und dann den konkreten Ablauf an der jeweiligen Konstitution des Angeklagten anpassen.

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Holocaust-Prozess-Angeklagter-schwaecher-denn-je,auschwitz444.html

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13828&article_id=135055&_psmand=56

Der nächste Verhandlungstag ist auf Dienstag, 07.07.2015 datiert, Beginn 9:30 Uhr, Einlass 8:30 Uhr. Bitte werft zuvor einen Blick auf die Seite des Lüneburger Landgerichts (aktuelle Pressemitteilungen auf der linken Seite), um abzuklären, ob es kurzfristige Änderungen gibt:

www.landgericht-lueneburg.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=13820&_psmand=56

Letztlich gibt es für alle Eventualitäten keine endgültige Sicherheit. Auch am Donnerstag haben wir erst im Gericht erfahren, dass der Verhandlungstag aufgehoben wird.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen