Tag 14 + 15

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

auf diesem Weg möchten wir Euch über den Prozessverlauf der letzten Woche informieren, vorab EIN WICHTIGER HINWEIS:

Das Verfahren schreitet nun rasch voran und wir befinden uns in der Phase der Schlussplädoyers. Die Staatsanwaltschaft sowie sieben Vertreter der Nebenklage haben bereits ihre Plädoyers gehalten. Wir gehen nach Rücksprache mit Anwälten der Nebenklage davon aus, dass am nächsten Verhandlungstag, 14.07.2015 sowohl die restlichen sechs Vertreter der Nebenklage wie auch die Verteidigung ihre Schlussrede halten werden. (Dies kann sich auch bis in den 15.07.2015 hineinziehen und hängt von der Länge der Plädoyers ab.) Auch ein Letztes Wort des Angeklagten ist noch möglich. Es ist nicht davon auszugehen, dass direkt am Anschlusstag (15.07.2015) das Urteil folgt. Damit ist für den 21.07.2015 zu rechnen. Dieser zeitliche Ablauf kann sich durch Krankheit oder andere unvorhersehbare Geschehnisse ändern.

Wir werden in Kürze nochmal einen Termin zur Vorbereitung auf den Urteilstag rumschicken. Da für diesen Tag mit einem wesentlich größeren Interesse zu rechnen ist, wir aller Voraussicht auch wieder eine Platzhalter*innenaktion initiieren und auch Holocaustleugner und Nazis im Auge behalten müssen, halten wir ein solches Treffen für unbedingt erforderlich und wünschen uns Unterstützung für den Tag.

Dienstag, 07.07.2015 Tag 14

Die Verhandlung begann mit über zweistündiger Verspätung erst um 11:45 Uhr aufgrund von Verkehrsproblemen der Verteidigung. Der Angeklagte war pünktlich um 9:30 Uhr anwesend.

Zu Beginn nahm der Vorsitzende Richter Kompisch Stellung zu den im vorigen Verhandlungstag gestellten bzw. angekündigten Anträgen und Anregungen. Dies stellte sich so dar:

Die Anträge der Verteidigung wurden zurückgewiesen. Diese bezogen sich u. a. darauf, vorige, mit Ermittlungsverfahren gegen den jetzt Angeklagten befasste Personen als Zeugen zu laden. Aufgrund der Tatsache, dass diese Personen seit Jahren verstorben sind, werden sie als Beweismittel als ungeeignet bewertet.

Der von einem Vertreter der Nebenklage beim letzten Verhandlungstag angekündigte Antrag auf Hinzuziehung und Inaugenscheinnahme des Buches „I escaped from Auschwitz“ wurde nicht mehr gestellt.

Die Anregungen des Staatsanwalts bzgl. der Hinzuziehung bezifferter, aber für nicht Prozessbeteiligte inhaltlich nicht nachvollziehbarer Dokumente wurde in den Punkten 1 bis 7 zurückgewiesen. Zugelassen wurde hingegen ein Dokument, dass vom Vorsitzenden Richter Kompisch auch verlesen wurde. Hierbei handelt es sich um die Dokumentation des zeitlichen Aufenthalts des Angeklagten im Krankenlazarett aufgrund seiner Flecktyphuserkrankung. Aus dem Dokument geht hervor, dass er das Lazarett 1943 verließ. Diese Feststellung war wichtig, um festzulegen, zu welchen Zeiten der Angeklagte sich nicht in Auschwitz befand und wie viel er von den Vorkehrungen und Vorbereitungen auf die sog. „Ungarn Aktion“ erfahren habe. Diese begann im Mai 1944, zu den Vorbereitungen gehörten neben einer Verschwiegenheitsverpflichtung, der Urlaubssperre ebenso räumliche, bauliche Veränderungen (neue Rampe) und die Tatsache, dass der Lagerkommandant Höss nach Auschwitz zurückkehrte. Durch die Verlesung des Lazarettaufenhaltes des Angeklagten wurde ausgeschlossen, dass er sich in der Vorbereitungszeit auf die „Ungarn Aktion“ im Lazarett befand.

Um 11:55 Uhr schließt der Vorsitzende Richter Kompisch die Beweisaufnahme dieses Gerichtsverfahrens und übergibt das Wort an den Staatsanwalt Lehmann, der sein Schlußplädoyer hält. Dies dauert ca. 25 Minuten.

In seinem Plädoyer ging er zunächst systematisch die bereits in der Anklageerhebung genannten Tatvorwürfe durch und setzte diese in Bezug zu den im Prozessverlauf erhaltenen Erkenntnissen. Die Anklage lautet bekanntermaßen „Beihilfe zum Mord in über 300.000 Fällen“. STA Lehmann zeigte anhand von Beispielen, die im Prozessverlauf durch die Aussagen der Zeugen wie auch der Sachverständigen aufgezeigt wurden, dass die beiden Mordmerkmale „Heimtücke“ und „Grausamkeit“ belegt wurden. Die Heimtücke erfolgte durch die perfide geplante und bis ins letzte Detail organisierte Täuschung der deportierten Menschen. Ihnen wurde vorgetäuscht, sie sähen ihre Familien bald wieder, sie erhalten ihr Gepäck bald wieder, sie würden nur in einen Duschraum geführt, um sich nach der tagelangen Fahrt in den Viehwaggons zu waschen…

Die Grausamkeit erfolgte durch die Art der Tötung, der Vergasung durch Zyklon B, auf dessen Wirkungsweise der Rechtsmediziner als Sachverständiger im Prozess ausführlich eingegangen ist. Dies war dem Angeklagten von Anfang an bewusst. Er wusste, dass die ankommenden Menschen, die an der Rampe in die Reihe der „Arbeitsunfähigen“ geschickt wurden, in Kürze umgebracht werden und wie dies erfolgen wird. Er wusste um die Wichtigkeit, dass alles geordnet abzulaufen habe und dafür den auch von ihm als „völlig ahnungs- und arglos“ bezeichneten Menschen ein perfekt ausgeklügeltes System an Handlungen erfolgte, um sie in eine Schein – Sicherheit zu wiegen. Zu einer dieser Tätigkeit gehörte das Wegschaffen des Gepäcks, bevor ein neuer Transportzug mit erneut mehreren tausend Menschen an der Rampe eintrifft. Ebenso die Aussagen des Angeklagten, es sei alles reibungslos abgelaufen, es habe keine Exzesse gegeben, alles habe geordnet funktioniert veranschaulichen, dass dies nur erfolgen konnte, weil er durch sein Handeln dazu beigetragen habe, dass dieses Täuschungskonstrukt aufrecht erhalten blieb. Er habe willentlich und wissentlich gehandelt. Dies nicht nur in Bezug auf seine Tätigkeit an der Rampe, sondern auch durch sein Handeln in der HGV. Er war sich darüber im Klaren, von wem das Geld stammt und was mit den Menschen passiert war, denen es geraubt wurde.

In einem Verfahren müssen zur Strafmaßbemessung bekanntermaßen die belastenden wie auch entlastenden Aspekte aufgeführt, bewertet und berücksichtigt werden. Zu den entlastenden Aspekten führte der Staatsanwalt maßgeblich an, dass der Angeklagte sich zur Sache äußert und einlässt. Er habe gleich zu Beginn ein umfassendes Geständnis abgelegt und über seine Tätigkeit sowie die Strukturen und Abläufe in Auschwitz Birkenau berichtet.

Aus seiner Sicht sieht der Staatsanwalt Lehmann den Straftatbestand der „Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen“ als erfüllt an. Das Gesetzbuch sieht in der Strafbemessung hierbei ein Strafmaß von drei bis fünfzehn Jahren vor. Herr Lehmann forderte unter Abwägung der be- und entlastenden Aspekte des Angeklagten, also unter Berücksichtigung der strafverschärfenden sowie strafmildernden Gesichtspunkte ein Strafmaß von drei Jahren und sechs Monaten.

Jetzt war es also ausgesprochen und begründet und wir dachten, das Plädoyer der Staatsanwaltschaft mit der Benennung der Strafmaßforderung auch beendet, doch weit gefehlt. Herr Lehmann führte weiter aus, dass eine Anklage des Herrn Gröning bereits in den 1970er Jahren hätte führen können und müssen. Nun waren wir gespannt, ob von Seiten der Staatsanwaltschaft noch eine abschließende kritische Bewertung des Umgangs des eigenen Berufsstandes mit NS Verfahren der letzten Jahrzehnte erfolgen würde. Statt dessen verlief die inhaltliche Stoßrichtung jedoch in eine ganz andere Richtung. Herr Lehmann bewertete das seit Ende der 1970er Jahre gegen Herrn Gröning geführte und 1985 eingestellte Ermittlungsverfahren als rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, aus der sich die Möglichkeit einer Kompensationslösung ableiten ließe und eine Strafminderung von 14 bis 22 Monaten in Betracht käme. Die Bewertung dessen, ob es zum Tragen käme und entsprechend Auswirkungen auf die Strafmaßbemessung habe, lege er in die Hände des Gerichts.

Wir erinnern uns: Ein Antrag des Verteidigers Holtermann am vorherigen Verhandlungstag stützte sich genau auf diesen Aspekt und er begründete es damit, seit den 1970er Jahren sei sein Mandant mit den Ermittlungen gegen ihn konfrontiert, er sei von der Einstellung Mitte der 1980er Jahre nicht informiert worden, es sei eine belastende Situation als Beschuldigter und er habe ein Recht auf eine rasche Verfahrensdauer. Das Verfahren gegen seinen Mandanten seit Ende der 1970er Jahre entsprach dem nicht und stelle eine rechtsstaatwidrige Verfahrensverzögerung dar, die den Maßstäben des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte widersprechen würde. Der daraufhin umgehend vom Vorsitzenden Richter Kompisch befragte Angeklagte ließ die argumentative Basis seines Verteidigers mit einem knappen Satz in sich zusammen fallen, als dieser ihn fragte, ob ihm Ende der 1970er Jahre denn bekannt war, dass er als Beschuldigter und nicht als Zeuge befragt werde? „Nein, zu keinem Zeitpunkt“ antwortete der Angeklagte klar. Dies war bereits am zweiten Verhandlungstag im April Gegenstand der Befragung des Angeklagten, auch da hatte er angegeben, keine Kenntniss davon gehabt zu haben, dass er in Nienburg bei der Kriminalpolizei als Beschuldigter befragt wurde. Ohne Wissen über den Umstand des Beschuldigtseins lässt sich auch kein jahrelanger Zustand der Belastung ableiten.

Eben jene Argumentation greift die Staatsanwaltschaft jedoch auf und stellt die Option einer Strafminderung durch Bezugnahme auf Kompensationslösung in den Raum.

Kompensationslösung meint, dass bei Feststellen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei einer Strafbemessung die für den Betroffenen als belastend empfundene Verfahrensdauer berücksichtigt wird und eine individuell zu benennende Dauer als bereits verbüßt vom Strafmaß subtrahiert wird, also letztlich kompensiert.

Diese Sichtweise der Staatsanwaltschaft führte nicht nur bei den Zuhörer*innen zu Irritationen, sondern wurde auch in den folgenden Plädoyers der Nebenklagevertreter ablehnend gewürdigt.

Wenn wir uns vor Augen führen, wie der Angeklagte am den beiden Verhandlungstagen über seine Befragung in Nienburg aussagte, dann steht hierbei nicht nur seine Angabe im Raum, er habe von seinem Status als Beschuldigter keine Kenntnis gehabt und wurde darüber auch nicht informiert, sondern es ist ebenso zu berücksichtigen, dass er glaubwürdig vermittelte, auch nie das Gefühl gehabt zu haben, als Beschuldigter zu gelten. Dies widerspricht einem langfristigen von Belastung geprägten Zustand. Vielmehr stellte er seine Rolle als Augenzeuge dar, der zur Aufklärung beitragen könne.

Nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft folgten die Schlussplädoyers der Nebenklagevertreter, beginnend mit Rechtsanwalt Walther.

Gleich zu Beginn hebt Herr Walther hervor, dass der Fokus seiner Schlussrede darauf gerichtet ist, welche Bedeutung dieser Prozess für seine Mandant*innen hat, die vor 71 Jahren ihre Angehörigen verloren haben, weil sie in Auschwitz Birkenau ermordet wurden, kurz nachdem sie den Vorhof der Hölle erreichten. Er spannt den Bogen von dem Zeitfenster der sog „Ungarn Aktion“, als in weniger als zwei Monaten über 300.000 Menschen planmäßig, gezielt und kaltblütig umgebracht wurden, zu dem Geschehen heute und zeigt auf, welche Errungenschaften in diesem Gerichtsprozess, genau 71 Jahre später, für die Beteiligten erlebbar waren. Herr Walther hat sich über einen langen Zeitraum mit den Überlebenden von Auschwitz auseinandergesetzt, sie zu Hause aufgesucht, Gespräche geführt und in der mehr als zweimonatigen Verhandlungszeit war nicht nur für die Prozessbeteiligten, sondern auch alle anderen Hörenden und Sehenden allein durch die Art des Umgangs zwischen ihm und seinen Mandant*innen deutlich, welche tiefe Vertrautheit und enges Band zwischen ihnen besteht. Dies hat sich auch in dem gesamten Plädoyer wiedergefunden und nicht nur in dem niedergeschlagen, dass er für sie aus persönlicher Perspektive sprechen durfte, sondern auch in der Fähigkeit, eben jene Sichtweise so zu formulieren und übermitteln, dass sie alle Anwesenden erreicht und erfasst. Diese Form der Empathie als Grundlage der Vertrauensbeziehung zu seinen Mandant*innen war authentisch, da die Art und Weise der Darstellung ihrer Gedanken und Gefühle nicht nur Worte waren, sondern wir sie als die ihren empfanden.

Das Plädoyer von Herrn Walther dauerte eine Stunde und die Aufmerksamkeit Aller war vom ersten bis zum letzten Moment hoch. Da im Gegensatz zum vorigen Verhandlungstag das Medieninteresse wieder gesunken war, hatten wir von den Publikumsplätzen einen guten freien Blick auf die Anklagebank. Der Angeklagte wirkte konzentriert und aufmerksam, er folgte den Ausführungen von Herrn Walther bis zum letzten Wort.

Dieser begann, die Bedeutung der Klage für seine Mandant*innen zu erläutern, die nicht nur anklagen, sondern beklagen, welcher Schmerz, welche Trauer und welchen Verlust sie seitdem mit sich tragen: „All unsere Klage lebt in uns. Dieser Tod von Auschwitz ist Teil unseres Lebens“.

Er vermittelt die Erwartungen und Hoffnungen seiner Mandant*innen an den Angeklagten, die ihn in dem Moment durch ihren Anwalt persönlich ansprechen. Ihre Hoffnung, dass ihre Klage ihn erreichen würde, da niemand der Anwesenden so nah am Geschehen war wie er und sie.

Dann spricht er den Angeklagten in seiner Sicht an und zeigt ihm zum einen seinen Respekt auf dafür, dass er sich diesem Verfahren stellt und nicht nur in diesem Gerichtssaal, sondern auch schon zuvor ohne äußere Forcierung öffentlich über seine Tätigkeit in Auschwitz berichtet. Dies unterscheidet ihn von Verhaltensweisen, die er von anderen NS Tätern kennt. Gleichwohl sind jedoch auch deutliche Parallelen zu ehemaligen NS Tätern zu sehen, die in ihm und seinen Mandant*innen zu großer Enttäuschung führen und die an diesen Prozess gestellten Erwartungen unerfüllt lassen. Hierzu zählt maßgeblich das Unvermögen des Angeklagten, das mit der schlichten Klarheit eines einzigen Wortes zu benennen, was es war: Mord! Und eben jene Mordhandlung mit dem eigenen Handeln und somit dem wichtigsten, der eigenen Verantwortung, mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Herr Walther greift die Aussage der Einlassung zu Beginn des Prozesses auf, indem er die Verknüpfung von Schuld und Moral des Angeklagten als gewählte Ebene benennt, die eben jene persönliche Verantwortung für das, was er nicht zu sagen fähig ist, nämlich Mord, begrenzt. Da es immer an die Moralvorstellung des Formulierenden geknüpft ist. Basierend auf dieser Feststellung spannt er den Bogen in die Gegenwart und zeigt auf: „ Diese Begrenzung von eigener Schuld am Tod von Juden birgt in der Gegenwart unserer Welt immense Gefahren in sich. Moderne Rechtfertigungen für praktizierten Antisemitismus sind zumeist moralischer Art. Eigene moralische Werte oder Normen von partikularen Gruppen werden verknüpft mit Empörung, Groll oder Neidgefühlen und treffen sich in einem modernen Antijudaismus. So möchte ich die tiefe Sorge der jüdischen Nebenkläger betonen. Sie alle sind zutiefst seit Generationen alarmiert, wenn die Schuld am Tod von Juden auf den Waagschalen der Moral gemessen werden soll. Hinter der komplexen gesellschaftlichen und politischen Deformation als Wegbereiter für das barbarische Abschlachten unschuldiger Menschen hat sich das eigene ICH von Oskar Gröning von Anfang an unerkannt verbergen können. Nach Wegfall dieser Deformationen ist es für die Nebenkläger unerträglich, die Beteiligung am Mord in Auschwitz im schlechtesten Fall als „unmoralisches Handeln“ einzuordnen“.

In diesen Momenten der direkten persönlichen Ansprache, aber vor allem auch dem in Beziehung setzen des Angeklagten, seinen Worten, seinen Taten, der Haltung, die sich daraus ableiten lässt und die Auswirkungen auf die, die nicht mehr da sind, weil sein Handeln zur Ermordung dieser Menschen beitrug sowie zu jenen, die um sie trauern, wechselt unser Blick zum Angeklagten und er ist nicht hinter einem Vorhang verschwunden. Da ist keine Mauer, hinter der er sich vergräbt, sondern er ist da und folgt jedem Wort, das Herr Walther und mit ihm die Nebenkläger*innen an ihn richten.

Herr Walther zeigt auf, wie biegsam doch die Moralvorstellungen des Angeklagten sind und bestätigt damit die Unzulässigkeit der jeweils eigenen gesteckten Moral als Referenzrahmen zur Bewertung von Morden: Die vielfach vom Angeklagten geschilderte Situation an der Rampe, als er Augenzeuge von dem Mord an einem Baby wird, dessen Kopf an einem Transporter zerschmettert wird, als wäre es ein nasser Lappen, hebte der er schon vor über 10 Jahren als markierenden Einschnitt für sich hervor, der mit seinen moralischen Vorstellungen nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Dies jedoch begründet durch die grausame Art des Tötens, das ihm vor Augen geführt wurde, nicht den Mord selbst. Keinerlei moralische Empörung regt sich jedoch bei jedem toten Baby, dass den dreitägigen Transport nicht überlebte, bei jedem Kind, das an ihm an der Rampe vorbeizog und von dem er wusste, dass und wie es gleich umgebracht wird. Kinder wie die Geschwister seiner Mandant*innen. Kinder wie Evike, Reuven, Gershon, Gilike, wie all die Tausenden, die er hat vorbeiziehen sehen und nur feststellte, wie geordnet doch alles vor sich gehe. Und erneut setzt Herr Walther den Angeklagten und seine Verantwortung in Beziehung zu den Menschen, die die Folgen seines Handelns so tödlich traf: Indem er sie benennt, ihren Namen, ihre Identität gibt und sie sichtbar macht. Erneut haben wir das Gefühl, als fülle sich der Gerichtssaal mit 10, 30, 60, Hunderten Menschen als Walther ausführt: „ Offensichtlich waren unsere Mandanten, die als Zeugen aussagten, nicht allein – und ich meine damit nicht ihre Kinder, die sie begleitet haben. Unsere Mandanten waren hier auch in Begleitung ihrer ermordeten Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel und Nichten. Es waren oft 50 oder 60 oder mehr, die mit einem einzigen Zeugen in dem quälenden Fühlen des gewaltsamen Verlustes ganzer Familienverbände hierher nach Lüneburg kamen.“

Einige seiner Mandant*innen haben haben ihre Ängste, die sie seit dem Trauma in Auschwitz Birkenau verfolgen, zumindest in dem Punkt überwunden, Deutschland zu betreten und sind nach Lüneburg gekommen, um in diesem Verfahren auszusagen. Dies hatte für sie eine positive, er spricht von „heilender Wirkung“ durch die Möglichkeit, ihre Erlebnisse zu schildern und die Art, wie ihnen begegnet wurde: „ Die Nebenkläger haben den Respekt wahrgenommen, mit denen Ihnen begegnet wurde. Sie haben vor dem Gericht die Suche nach Gerechtigkeit im Gegensatz zu ihrer Angst vor alten deutschen Selbstgerechtigkeiten erlebt. Auch Beamte in deutschen Uniformen von Justiz und Polizei wurden von ihnen ohne jedes Zögern als diejenigen erkannt, die sie hier in diesem Prozess vor jeglichen Gefährdungen beschützen. Deutsche Öffentlichkeit – mit wiederholt spontaner Zuwendung im öffentlichen Raum – und Vertreter der Medien, der Bürgermeister der Stadt Lüneburg, sie alle haben zu dieser so starken Wandlung von latenter Angst in Vertrauen beigetragen.“

Gleichwohl steht noch etwas aus: das Ungesagte, das Fehlende, das Vermiedene, das in der ergänzenden Einlassung des Angeklagten immer mit schwang und doch ausblieb. Dies kann er bis zuletzt nachholen und Walther appellierte an den Angeklagten: „ Er hat nach wie vor die Möglichkeit und Freiheit, die unaussprechlichen Verbrechen konkret zu beschreiben, wenn er nur seine eigene Traumwelt der Verharmlosung und die Wortkargheit bei der Erinnerung des Massenmordes verlässt. Die Nebenkläger geben die Hoffnung nicht auf, dass der Angeklagte in seinem „Letzten Wort“ endlich seine eigene Seele befreit und darüber spricht, was auf der Rampe und in Birkenau während der Ungarnaktion geschah und was er gesehen hat. Der Angeklagte ist für das lebenslange Leid der Nebenkläger mitverantwortlich. Er kann ihnen dieses Leid durch keine Worte nehmen. Aber er kann ihnen ein wenig dabei helfen, im Kontext dieses Strafverfahrens mit diesem Leid umzugehen. Dazu ist es noch nicht zu spät.“

Das gesamte Plädoyer von Rechtsanwalt Walther ist hier nachzulesen und sehr zu empfehlen:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/ra-thomas-walther/

Im Anschluss an das Plädoyer von RA Walther haben Hedy Bohm und Andrew Sternberg als Nebenkläger jeweils eine Erklärung vor dem Gericht abgegeben. Hedy Bohm hat Ende April als Zeugin der Nebenklage vor Gericht ausgesagt, nun geht sie darauf ein, was sie bislang vermisst. Ihre Schlussrede ist recht kurz, aber von einer deutlichen Klarheit: Sie kam ein zweites mal nach Lüneburg mit der Hoffnung, diese drei Worte vom Angeklagten zu hören: „I am sorry“. Als sie die von der Verteidigerin verlesene Einlassung hörte, vernahm sie den magischen Satz, aber in der folgenden Begründung und Erklärung für diesen Satz verlor dieser seine Bedeutung, da er sich nur auf den Sprachstil während der Verhandlung bezog. Ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt. Enttäuscht darüber, fragte sie sich selbst, warum es für sie so wichtig war, diese Worte von dem Angeklagten zu hören. Ist es wichtig für sie, für ihre Eltern, für all die Massen ermordeter Menschen? Sie weiß es nicht mehr und stellt die Überlegung in den Raum, dass der Angeklagte selbst vielleicht am meisten davon profitieren würde. Einfach ausgesprochen, diese drei Worte. Nicht mehr.

Sie alle, die dieses Grauen überlebt haben, tragen Narben, die meisten davon unsichtbar, aber dennoch schmerzend. Ein allgegenwärtiger Schatten liegt über ihrem Leben.

Die Schlusserklärung von Hedy Bohm ist hier zu lesen:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/hedy-bohm/

Herr Andrew Sternberg ging in seiner Erklärung auf die Verschleppung von ihm und seiner Familie ein, auf die Leiden während des Transports, das Chaos bei der Ankunft an der Rampe und wie ihm seine Familie entrissen und ermordet wurde. Er zeigte auf, dass für ihn der Angeklagte durch dessen Beitrag zum Funktionieren dieser ganzen Mordmaschinerie nicht nur in dem von ihm selbst gewählten moralischen Rahmen, sondern umfassend, also auch in der strafrechtlichen Dimension

schuldig ist.

Hier ein Radiofeature mit Beiträgen von Staatsanwaltschaft sowie Nebenkläger*innen:

www.deutschlandradiokultur.de/plaedoyers-im-auschwitzprozess-dreieinhalb-jahre-haft-fuer.2165.de.html?dram:article_id=324781

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Dreieinhalb-Jahre-Haft-fuer-Groening-gefordert,auschwitz446.html

Mittwoch, 08.07.2015 Tag 15

Der Verhandlungstag begann mit der Fortsetzung der Plädoyers der Vertreter der Nebenklage.

Es spricht als erstes Herr Nestler, der mit Herrn Walther über 50 der Nebenkläger*innen vertritt. Während Herr Walther den Schwerpunkt seines Plädoyers auf die Erwartungen, Bedeutung und Wirkung dieses Prozesses für seine Mandant*innen legte, thematisiert Rechtsanwalt Nestler in seiner einstündigen Schlussrede den Aspekt, der diesen ganzen Prozess durchzieht und doch in der Beweisaufnahme weitestgehend unbehandelt blieb: das Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit NS Tätern. Die Ausführungen sind sehr und inhaltlich aufeinander aufbauend, nehmt Euch die Zeit, die gesamte Schlussrede ist hier dokumentiert:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/prof-dr-cornelius-nestler/

Auf Herrn Nestler folgte nun Rechtsanwalt Feld. Er begann sein Plädoyer mit den Berichten über die Gespräche mit seiner Mandantin Frau Rosenwasser, die er in Tel Aviv aufsuchte. Sie erklärte ihm, wie sehr sie die deutsche Sprache liebt und dass die SS Männer ihr die Schönheit der deutschen Sprache auch nicht nehmen konnten, da sie nur primitive Schreie von sich gaben, die für sie mit der Sprache nichts zu tun haben. Allerdings wird sie Deutschland nicht betreten, da sie ihre schrecklichen Erlebnisse in Auschwitz nicht mit der Sprache, sondern mit den deutschen Männern verbindet. Herr Feld war zuvor über 30 Jahre Staatsanwalt in Köln und hat dort in dieser Funktion auch mehrere Prozesse gegen NS Täter erlebt. Die Prozesse fanden in Gerichtsgebäuden statt, bei denen die Sicherheitsvorkehrungen mit den heutigen nicht vergleichbar waren. Zahlreiche Schulklassen haben die Verhandlungen besucht und es war im Anschluss häufig die Möglichkeit für die Schüler*innen, sich mit ihm über die Verfahren zu unterhalten. Hierbei erfolgte nie die Frage: „Warum jetzt noch?“, sondern sie fragten ihn immer: „Warum erst jetzt?“ Das Interesse dieser Menschen an einer Auseinandersetzung war groß und ist es heute noch. In diesem Moment ist zu beobachten, wie der Angeklagte seinen Kopf dreht und den Zuschauerplätzen zuwendet. Er blickt direkt in die Gesichter der Jugendlichen, die dem Geschehen folgen. Es waren an mehreren Verhandlungstagen ganze Schulgruppen anwesend.

Herr Feld geht auf die Strafmaßbemessung ein, die sich im Falle von „Beihilfe zu Mord“ vorgesehen ist und zeigt auf, dass er sich der Forderung der Staatsanwaltschaft nicht anschließen kann. Bei einer Spanne von drei bis fünfzehn Jahren stellt die Hälfte neun Jahre dar. Zieht man noch weitere strafmildernde Aspekte vom Strafmaß ab, die aufgrund der Erkenntnisse im Prozessverlauf zu berücksichtigen sind, verringert sich diese Zahl zwar, aber nicht auf diese minimale Größe, die der Staatsanwalt bei Berücksichtigung der Kompensationslösung aufgeworfen hat. Dies sei ein zu geringes Strafmaß. Bezüglich der Anwendung der Kompensationslösung muss hervorgehoben werden, dass es sich nicht darum handelte, dass der heute Angeklagte die Situation belastet schien, ein Verfahren ziehe sich in die Länge, bis es zu einem Abschluss durch ein Urteil gegen ihn käme. Vielmehr handelte es sich um eine Situation, die nur die Einstellung eines Verfahrens verzögerte. Dass es jedoch zu einer Einstellung kommen würde, schien von vornherein klar und ließ sich auch aus der erinnerten und geschilderten Wahrnehmung des Angeklagten heraushören.

Abschließend nimmt er seine Ausführungen zu Beginn der Rede wieder auf, in denen seine Mandantin Frau Rosenwasser verdeutlichte, dass ihr die SS Männer die Schönheit der deutschen Sprache nicht nehmen konnten, gleichwohl aber das Land an ihre grausamen Erinnerungen verknüpft ist. Diese Ambivalenz zwischen einer Sprache, in der so schöne Gedichte und Schriften entstehen können und dem Verhalten, den Taten, die von den Menschen, die sie sprechen begangen werden können, zeigt er durch ein Gedicht auf, das sehr bekannt und ihm sehr wichtig ist.

Er liest nicht das gesamte Gedicht, sondern nur eine Zeile Paul Celans „Todesfuge“: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.

Es folgte das Schlussplädoyer von Rechtsanwalt Donat Ebert. Dieser legte seinen Fokus auf die Situation in Ungarn und spannte den Bogen von der Zeit der Verschleppung und Ermordung der ungarischen Juden zur heutigen Situation in dem Land. Herr Ebert lebt selbst seit 20 Jahren in Budapest und verfolgt somit seitdem direkt die Entwicklung in dem Land. Er machte deutlich, dass die Massenermordung der ungarischen Juden nur funktionieren konnte, weil sie auf so große und willfähige Unterstützung in Ungarn trafen. Die Berichte der Überlebenden nannten alle ungarische Milizen, Gendarmerie, die an ihre Haustüren donnerten, um sie abzuholen und in Ghettos zu verfrachten. Die Listen der jüdischen Familien, die es den Vernichtungsplänen der Nazis nach zu vernichten gelte, wurden von ungarischen Männern zusammengetragen. Die Zufriedenheit der Nazis über das Mitwirken von Teilen der ungarischen Bevölkerung wird durch das Resümee Adolf Eichmanns zu dem Ergebnis seines Sondereinsatzkommandos (in Ungarn) überdeutlich: „in Ungarn lief es wie geschmiert“. Dies erfolgte auf Grundlage eines stark verbreiteten Antisemitismus, der sich auch vor der Verschleppung und Ermordung der jüdischen Familien in vielen ausgrenzenden und diskriminierenden Erlassen zeigte. Auch hiervon berichteten alle Zeugen in ihren Aussagen vor Gericht. Nun verweist Ebert auf die heutige Situation in Ungarn, die ebenfalls von einem Erstarken des Antisemitismus und Rassismus geprägt ist. Nur ein Mandant von ihm hat den Mut gefunden, nach Lüneburg zu kommen und vor Gericht auszusagen. Damit verbunden ist, als Jude in die Öffentlichkeit zu treten und Anfeindungen in Ungarn ausgesetzt zu sein. Seine Mandant*innen werden im Internet öffentlich diffamiert und beleidigt. Während das Internet eine Plattform ist, in der sich Hass durch anonym verbleibende Menschen äußern kann, macht Herr Ebert durch Beispiele deutlich, wie groß die Ignoranz, sich mit der sog. „Ungarn Aktion“ und somit auch der Verantwortung der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen ist: Es waren nur zwei Journalisten aus Ungarn anwesend, diese mussten die Kosten für ihren journalistischen Einsatz, um über den Prozess in Lüneburg zu berichten, selbst tragen. Ebenso haben Rassismus und Antisemitismus weite Teile der Gesellschaft und auch parlamentarische Ebenen erreicht: So wurde von einem Abgeordneten der faschistischen Jobbik Partei gefordert, die Namen der Abgeordneten, die Juden sind, aufzulisten. Listen über jüdische Menschen zu erstellen (www.taz.de/!5078511/). Ein weiteres Beispiel für den starken Rassismus in Ungarn zeigte Herr Ebert anhand des Ausrufes eines Parlamentariers auf: dieser hat verkündet, man müsse „das Zigeunerproblem lösen, egal, mit welchen Mitteln“. Dieser Aufruf allein lässt einen zusammen schrecken, beängstigender noch ist die durchgehend ausbleibende Empörung darauf.

Dieser Prozess und entsprechend das Urteil haben eine internationale Relevanz und sind auch für seine Mandant*innen in Ungarn wichtig, indem er hofft, dass ihnen dadurch der Rücken gestärkt werden kann, wenn auch nur ein wenig.

Nach den Ausführungen von Herrn Ebert hielt Judith Kalman als Nebenklägerin ihre Schlussrede.

Zentral sind für sie im Prozess zwei Aspekte wichtig: Er verleiht den Menschen, die von diesem Terror betroffen waren, ein Gesicht. Ebenso das Ringen der Überlebenden, sich nach diesem Trauma und Verlust fast all ihrer Angehöriger, ein neues Leben aufzubauen. Gleichermaßen reißt es auch die Täter aus der Anonymität und mit dem Angeklagten erhält er ein Gesicht als Täter der „Endlösung“. Sie sieht die Relevanz dieses Prozesses nicht in der Frage, ob der Angeklagte mehr oder weniger schuldig ist als andere Täter, ob er sich Jahrzehnte danach damit auseinandergesetzt hat oder ob es ihm Leid tut. Für sie liegt die Relevanz dieses Prozesses in der Feststellung, ob er Wissen über das Geschehen hatte und sich darüber im Klaren war, dass sein Handeln diese Mordmaschinerie ermöglichte.

Nachzulesen ist ihre Schlussrede, ebenso ihre Aussage als Zeugin vor Gericht am 29.04.2015, hier:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/judith-kalman/

Rechtsanwalt Rückel geht in seinem Schlussplädoyer sowohl auf die Auswirkungen der Schrecken von Auschwitz Birkenau für seine Mandant*innen ein, wie auch auf die Rolle der deutschen Justiz.

Er zeigt auf, wie lange die Schatten der Vergangenheit über seinen Mandant*innen liegt, indem er von einem Gespräch erzählt, in dem seine Mandantin ihm über ihre Schreckenserlebnisse und den Verlust in Auschwitz Birkenau berichtet. Ihr Sohn erklärt ihm, dass sie ihm nie davon erzählt habe. Weil sie es nicht konnte, fügt sie an. Dies ähnelt der Darstellung vieler Überlebenden, die erst nach Jahrzehnten sich öffnen konnten und über ihre Traumata berichten.

Die Trauer über den Verlust und das Ausmaß dessen ist kaum greifbar. Herr Rückel berichtet über eine Mandantin von ihm, die von ihrer Hochzeit 1947 sprach. Sie war allein auf ihrer Hochzeit, es war niemand mehr von ihrer Familie am Leben.

Er würdigt, dass durch die Aussagen in diesem Gerichtsverfahren jene zu Wort kamen, die vorher nicht zu hören waren. Die Überlebenden und Nachkommen für ihre verstorbenen Familien. Gleichwohl sind nicht alle zu Wort gekommen, da der Antrag, die Mandant*innen vor Ort zu vernehmen, die die Reise nach Deutschland nicht auf sich nehmen können, zurückgewiesen wurde.

Die Narben, die diese Geschehen in den Menschen hinterlassen haben, wirken bis heute fort. Herr Rückel liest zur Veranschaulichung einen kurzen Abschnitt aus dem Buch von Witold Pilecki „Freiwillig nach Auschwitz“ vor, in dem er die Demütigungen, die Angriffe, die Destruktion sowohl der Körper, aber vor allem auch der Psyche der Menschen beschreibt, die wie ein Feld durchpflügt und aufgerissen wurden, deren Wunden nie heilen. Parallel dazu die Bilder im Auschwitz Album, wie er es in Yad Vashem betrachtet hat, in der die Fotos eingeklebt und beschriftet sind, als handele es sich um einen Mallorca Urlaub. Eins dieser Fotos ist mit dem Wort „Entlausung“ beschrieben und die Nennung eines der schrecklichsten Erinnerungen seines Mandanten ist die, sich ein Jahr lang nicht waschen zu können. Er schilderte ihm, den größten Zoo am Körper getragen zu haben.

Den Hinweis auf die Gedenkstätte Yad Vashem ergänzt Herr Rückel mit der Empfehlung eines Besuches des NS Dokumentationszentrums in München, bei dessen Ankunft man zunächst auf eine graue Wand stößt, in der sämtliche Erlasse und Gesetze, Verordnungen gegen Jüdinnen und Juden aufgeführt waren. Es ist eine solche Vielzahl an Diskriminierungen, dass Herr Rückel noch einmal betont, in Anbetracht dieser Dimension kann niemand behaupten, er habe dies nicht mitbekommen.

Ebenso empört sich Herr Rückel, wenn die sprachliche Anwendung die Verschiebung von Tatsachen zu leisten drohe: Das Bezeichnung der Menschen als Häftlinge ist unzutreffend, denn Häftlinge befinden sich in Justizvollzugsanstalten und verbüßen dort ihre Haftstrafe. Die Menschen in Auschwitz waren keine Häftlinge, sie waren Verschleppte, Gekidnappte.

Er zeigt ebenso auf, wie sehr ihn die Auseinandersetzung mit Auschwitz, dem bis ins Detail organisierten industriell durchgeführten Massenmord, in Alltagsbegegnungen einholt: Die von ausländischen Kollegen ihm gegenüber gelobte „deutsche Gründlichkeit“ lässt ihn schaudern, da dies für ihn mit eben jenem tödlichen Perfektionismus und dem Ergebnis des millionenfachen Mordens verknüpft bleibt. „Deutsche Gründlichkeit“, uns schießen sogleich die entsprechenden Beschreibungen des Angeklagten ins Ohr, mit denen er den Ablauf des Mordens bezeichnete: abfertigen, versorgen, reibungslos, geordnet. Alles lief „geordnet“.

Er berichtet ausführlich über den Widerwillen im deutschen Justizsektor, gegen NS Täter zu ermitteln und verdeutlicht dies am Beispiel Fritz Bauers, welche Schwierigkeiten dieser als Staatsanwalt in den 60er Jahren hatte, um Ermittlungen gegen Täter in Auschwitz zur Anklage zu führen. Seine gesamte Arbeit war geprägt vom Mauern seiner Kollegen, bis hin zu Angst vor Sabotage. Seine Ermittlungstätigkeiten mussten sich diesen Situationen anpassen, die ein tiefes Misstrauen in die Strukturen der Arbeitsweise der deutschen Justiz bei ihm hinterließ. Herr Rückel verweist auf den jüngst in Kinosälen gezeigten Film „Das Labyrinth des Schweigens“, dass so trefflich die Situation benennt und aufzeigt.

Wenngleich „ZDF History“ nicht zu unserem gewohnten Quellenverweis zählt, so möchten wir an dieser Stelle die Dokumentation empfehlen, die sehr gut die Atmosphäre und den Widerstand verdeutlicht, mit dem Fritz Bauer innerhalb seines eigenen Berufsstandes konfrontiert war. Zum Glück kommt die Dokumentation ohne Verweis auf Herrn Knopp aus…: https://www.youtube.com/watch?v=c7dY9PEFmj4

Herr Rückel geht auf das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß ein und hält es für nicht akzeptabel. Er hebt hervor, dass ein Vergleich zu anderen Fällen nicht möglich ist, da jeder Prozess und jeder damit verbundene Hintergrund individuell zu betrachten ist, dennoch scheint ihm in Anbetracht des Urteils gegen Demjanjuk mit einem Strafmaß von fünf Jahren für die Beihilfe an Mord in 28.060 Fällen nicht im Verhältnis zu dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Maß, erst recht nicht die Anwendung der optionalen Kompensationslösung, die dieses Strafmaß umso mehr nach unten korrigieren könnte.

Abschließend wendet sich Herr Rückel an den Angeklagten und hebt die Relevanz seines Verhaltens positiv hervor, dass er sich in seinem Alter diesem Verfahren stellt. Andere hätten „gekniffen“, er nicht. Dies sei zu würdigen. Er appelliert an ihn, seine Chance auf das letzte Wort zu nutzen und vielleicht habe er eine Stufe der Altersweisheit erlangt, die ihn befähigt, dies auch zu nutzen. Herr Rückel schließt sein Plädoyer mit der Feststellung: „Das Wichtigste in diesem Prozess waren für mich die Stimmen der Überlebenden!“.

Als letzte Vertreterin der Nebenklage spricht Rechtsanwältin Baymak–Winterseel. Sie kritisiert den Angeklagten für die von ihm genutzte verletzende Sprache. Sie bezweifelt die Angaben des Angeklagten zu seinen Versetzungsgesuchen sowie der Häufigkeit seiner Rampendienste. Ebenso beantragt sie die Verurteilung des Angeklagten nicht nur auf Beihilfe, sondern auf Mittäterschaft zu bewerten.

Der nächste Verhandlungstag ist auf kommenden Dienstag, 14.07.2015 datiert. Es wird mit den Plädoyers der Anwälte der Nebenklage fortgesetzt und im Anschluss erfolgt das Plädoyer der Verteidigung. Beginn 9:30 Uhr, Einlass 8:30 Uhr. Am heutigen wie auch gestrigen Verhandlungstag erhielten alle Wartenden Einlass, eine Empfehlung bzgl. der Uhrzeit zum Anstellen können wir jedoch nicht abgeben, da der Andrang von Interessierten Schwankungen unterliegt und sich mit nahendem Ende der Verhandlung nächste Woche entsprechend wieder erhöhen kann.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen