Liebe Freund*innen,
liebe Mitstreiter*innen,
wir möchten Euch auf diesem Weg über den Prozessverlauf der aktuellen Woche informieren, diese bestand nur aus einem Verhandlungstag:
Die Verhandlung begann erst um 10:00 Uhr, da sich der Angeklagte aufgrund von Verkehrsbehinderungen verspätete (er wird an jedem Verhandlungstag von einem Fahrer von seinem Wohnort zum Gerichtsort gefahren).
Als erstes sagte der Rechtsmediziner Herr Sven Anders (Rechtsmedizinisches Institut des UKE Hamburg) als Sachverständiger aus. Er berichtete über das Giftgas Zyklon B, über dessen Wirkstoff Blausäure und die Wirkungsweise des Giftes. Ausführlich wurden die organischen und mikrozellularen Vorgänge beschrieben, die dieses Gift im menschlichen Körper verursacht. Während einem bei dem Wort „Erstickungstod“ immer ein Bild vor Augen kommt, in dem Menschen um Luft, um Sauerstoff ringen, zeigte der Sachverständige auf, dass durch das Giftgas Zyklon B bzw. die dadurch freigesetzte Blausäure ein zelluläres Ersticken erfolgt. Die Menschen ersticken innerlich, selbst wenn noch Sauerstoff um sie herum zur Verfügung steht, da durch das Gift der Sauerstofftransport durch die Zellen, die Zellatmung verhindert wird. Er berichtet, dass das Gas leichter als Luft ist, daher nach dem Werfen durch die Einwurföffnungen von unten nach oben steigt und sich an der Decke ausbreitet. Die Konzentration ist oben am höchsten und größere Menschen erreicht das Gift als erstes: „ Die Kleinen sterben zum Schluss“.
Je nach Konzentration des Gases, aber auch durch die körperliche Konstitution der Betroffenen kann der Todeskampf bis zu 30 Minuten dauern. Als körperliche Reaktionen werden Symptome beschrieben wie u. a. Herzrasen, Panikattacken, Brustdruck, Angstzustände, ebenso Krampfanfälle. Es lässt sich nicht genau festlegen, wie lange die Menschen in den Gaskammern bei Bewusstsein waren, wieviel sie selbst von den direkten Symptomen mitbekommen haben, bei sich selbst und bei den umstehenden Menschen. Die Eindrücke, die jedoch von den Menschen geschildert werden, die die Ermordeten aus den Gaskammern holten (z. B. von Häftlingen der Sonderkommandos), lassen darauf schließen, dass ein Teil von ihnen sehr wohl mitbekommen haben, was mit ihnen und um sie herum geschieht, wenn auch nicht feststeht, wie lange: Die Kratzspuren an den Wänden, die übereinander getürmten Leichen, die vollkommen ineinander verkeilten Körper, die nur durch Stangen und Äxte wieder getrennt werden konnten, lassen erahnen, in welchem Todeskampf sich die Menschen befanden, welche Qualen sie durchleiden mussten, wie sie in den Gaskammern um ihr Leben gerungen haben.
Nun mögen sich manche gefragt haben, warum diese genaue Darstellung der Wirkungsweise des Gases. Wichtig ist hierbei der Verweis auf die eigentliche Anklage: Beihilfe zum Mord. Die Haupttat, auf die die Beihilfe sich bezieht, ist der Mord bzw. sind die Morde an über 300.000 jüdischen Menschen aus Ungarn. Im Rahmen der Beweisaufnahme in einem Mordverfahren stellt dies in Bezug auf das Gas die Erläuterung des Mordes, des Tathergangs, der Tatwaffe, des tödlichen Werkzeugs dar.
Bevor der ehemalige Richter Herr Struß als Zeuge vernommen wurde, erfolgte von Seiten der Verteidigung noch eine Antragstellung, diese beinhaltete zwei Anträge:
Zum einen wird beantragt, einen ehemaligen Staatsanwalt, der im Rahmen der Frankfurter Ermittlungen gegen den Angeklagten sowie weitere Mitarbeiter der HGV in den 70er Jahren ermittelte, als Zeugen zu laden, ebenso weitere Personen als Zeugen, die von diesem Ermittlungsverfahren betroffen waren. Dieser Antrag verliert jedoch in weiten Teilen seine Relevanz bzw. es besteht keine Möglichkeit, ihm nachzukommen, da mehrere im Antrag als Zeugen zu ladende Personen mittlerweile verstorben sind.
Der zweite Antrag des Verteidigers bezieht sich darauf, dass der Angeklagte in vorigen Verfahren und Prozessen umfangreiche Angaben gemacht hat: Im Gegensatz zu den damaligen Prozessbeteiligten (Angeklagte sowie Zeugen) eines Verfahrens in Wuppertal, die durch ihre Verweigerungshaltung eine „Mauer des Schweigens“ erstellten, habe Herr Gröning ausführlich über die Geschehnisse in Auschwitz ausgesagt. Der Rechtsanwalt Holtermann beantragt, die zuvor erfolgte Aussage- und Mitwirkungsbereitschaft des Angeklagten in vorausgegangenen Verfahren und Prozessen im Falle eines Schuldspruchs als strafmildernd zu berücksichtigen.
Im Anschluss sagte der ehemalige Richter Dirk Struß als Zeuge aus. Er hat Anfang der 90er Jahre den Angeklagten Gröning in einem Gerichtsverfahren in Duisburg gegen dessen ehemaligen „Kameraden“ Kühnemund als Zeuge erlebt. Herr Struß beginnt seine Aussage mit der Schilderung des damaligen Verfahrens, in dessen Verlauf auch Überlebende von Auschwitz ihre Erlebnisse schilderten. Der im Anschluss daran angehörte Zeuge Gröning bestätigte durch seine Aussagen die schrecklichen Geschehnisse in Auschwitz, habe durch die Art seiner Schilderung jedoch eher den Eindruck von rationalen Vorgängen eines Arbeitsablaufes erweckt, der damalige Richter empfand ihn als „erstaunlich emotionslos“. Die Menschen, die den lüneburger Prozess bislang beobachteten, haben in diesem Moment eine genaue Vorstellung, worüber der Zeuge Struß berichtet. Es erinnert direkt an die Äußerungen des Angeklagten am ersten und zweiten Verhandlungstag, an denen er die Täuschungen, die Selektion, die Vorbereitung und Umsetzung des industriellen Massenmordes in Auschwitz beschrieb, aber in einer absolut rationalen und gefühlskalten Sprache.
Herr Struß berichtete weiter ausführlich über die damalige Verhandlung, für uns sind zwei relevante Aussagen hervorzuheben:
Mehrfach wurde der Zeuge Struß von den Prozessbeteiligten bezüglich der Trennung der Abteilungen „Effektenlager“ und Häfltlingsgeldverwaltung“ befragt. Hintergrund ist, dass der damals Angeklagte Kühnemund im Effektenlager in Auschwitz gearbeitet hat und dort das gesamte Gepäck der Deportierten hin verfrachtet und sortiert wurde. Über die inhaltliche Trennung der Arbeit dieser Abteilungen besteht kein Zweifel, die Frage zielte jedoch darauf, ob es an der Rampe eine Trennung gab und zielte somit auf die Tätigkeit des Angeklagten an der Rampe. Dieser gab an, ausschließlich für die Bewachung des Gepäcks zuständig gewesen zu sein, das Wegschaffen der Gegenstände sei durch Mitarbeiter des Effektenlagers erfolgt. Herr Struß gibt an, dass für ihn aus den damaligen Aussagen nicht deutlich geworden sei, dass eine Trennung der Tätigkeiten an der Rampe aufgrund der Abteilungen vorlag. Daraus kann man die Auffassung ableiten, dass die Tätigkeit des Angeklagten an der Rampe nicht auf die Bewachung des Gepäcks beschränkt war.
Die zweite für uns relevante Aussage des ehemaligen Richters bezieht sich auf die Häufigkeit der Einsätze des Angeklagten an der Rampe. Von Prozessbeginn an gibt Herr Gröning an, nur zwei- bis dreimal an der Rampe eingesetzt worden zu sein, dies auch nur aushilfsweise in Vertretung für andere „Kameraden“. Bereits am zweiten Verhandlungstag wurde er mit früheren Angaben (Ende der 1970er Jahre) konfrontiert, die er im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens als Beschuldigter angab und seinen jetzigen Aussagen widersprechen. Dies kommentierte der Angeklagte am 22.04.2015 mit den Worten, er hätte sich damals vorsichtiger ausgedrückt, wäre ihm bewusst gewesen, dass ihm das heute vorgehalten würde (!). Die Aussagen des Zeugen Struß, der den Angeklagten damals als Zeuge im Prozess gegen Kühnemund vernommen hat, stützen die Annahme, dass Gröning während der sogenannten „Ungarn Aktion“ regelmäßig Dienst an der Rampe hatte. Er benennt Aussagen des damaligen Zeugen Gröning, er habe zeitweise bis zu 24 Stunden Dienst an der Rampe getan. Dieses „zeitweise“ bezieht sich eben nicht darauf, dass er zwei- bis dreimal dort eingesetzt war, sondern stützt die Annahme, dass er (wie Ende der 1970er bereits angegeben) ständig an der Rampe war und während dieser regelmäßigen Einsätze „zeitweise„ bis zu 24 Stunden.
Der Prozess Anfang der 1990er Jahre gegen Herrn Kühnemund führte übrigens zu keinem Urteil, da der Angeklagte im Laufe des Verfahrens für verhandlungsunfähig erklärt wurde und entsprechend eine Einstellung erfolgte.
Einen weiteren Eindruck über die Aussage des ehemaligen Richters Struß vor dem Landgericht Lüneburg gibt dieser Artikel:
Auf Nachfragen eines Anwalts der Nebenklage bzgl. seiner Tätigkeiten in Auschwitz, wenn er keinen Dienst, also frei hatte, gab der Angeklagte an, er habe viel und gerne Sport getrieben, auch Tischtennis sei sehr beliebt gewesen. Dem Laufsport sei er häufig nachgekommen, dies sei ihm nach seiner Rückkehr aus der Kur wieder möglich gewesen. Dies sind womöglich keine Aussagen, die eine Relevanz für die Beweisaufnahme haben, für uns jedoch nennenswert, da sie den Charakter des Absurden verdeutlichen: Das Massenmorden, die perfekt ins Detail ausgerichtete industrielle Vernichtung von Menschen und parallel wird Tischtennis gespielt, nach der erholsamen Kur zurück nach Auschwitz, um seinen Dienst zu tun und in der Freizeit ein wenig Sport zu treiben….
Der Folgetermin am Mittwoch, 27.05.2015 wurde aufgehoben, da alle Fragen an den Sachverständigen sowie Zeugen erörtert wurden und somit kein „Programm“ für den 27.05.2015 bestand, dies kam auch der gesundheitlichen Situation des Angeklagten entgegen. Es geht am 02.06.2015 weiter, dann erfolgt die Aussage der Zeugin Angela Orozs–Richt.
Hier noch ein Hinweis auf zwei Termine in aller Kürze:
– Sonntag, 31.05.2015 17 Uhr Centro Sociale in Hamburg: Veranstaltung zum Prozessgeschehen
– Donnerstag 04.06.2015 19 Uhr Infocafe Anna & Arthur Lüneburg: Treffen für alle Interessierten, zum Austausch des bisherigen Prozessverlaufs und der Planung der weiteren Termine.
Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen