Tag 14 + 15

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

auf diesem Weg möchten wir Euch über den Prozessverlauf der letzten Woche informieren, vorab EIN WICHTIGER HINWEIS:

Das Verfahren schreitet nun rasch voran und wir befinden uns in der Phase der Schlussplädoyers. Die Staatsanwaltschaft sowie sieben Vertreter der Nebenklage haben bereits ihre Plädoyers gehalten. Wir gehen nach Rücksprache mit Anwälten der Nebenklage davon aus, dass am nächsten Verhandlungstag, 14.07.2015 sowohl die restlichen sechs Vertreter der Nebenklage wie auch die Verteidigung ihre Schlussrede halten werden. (Dies kann sich auch bis in den 15.07.2015 hineinziehen und hängt von der Länge der Plädoyers ab.) Auch ein Letztes Wort des Angeklagten ist noch möglich. Es ist nicht davon auszugehen, dass direkt am Anschlusstag (15.07.2015) das Urteil folgt. Damit ist für den 21.07.2015 zu rechnen. Dieser zeitliche Ablauf kann sich durch Krankheit oder andere unvorhersehbare Geschehnisse ändern.

Wir werden in Kürze nochmal einen Termin zur Vorbereitung auf den Urteilstag rumschicken. Da für diesen Tag mit einem wesentlich größeren Interesse zu rechnen ist, wir aller Voraussicht auch wieder eine Platzhalter*innenaktion initiieren und auch Holocaustleugner und Nazis im Auge behalten müssen, halten wir ein solches Treffen für unbedingt erforderlich und wünschen uns Unterstützung für den Tag.

Dienstag, 07.07.2015 Tag 14

Die Verhandlung begann mit über zweistündiger Verspätung erst um 11:45 Uhr aufgrund von Verkehrsproblemen der Verteidigung. Der Angeklagte war pünktlich um 9:30 Uhr anwesend.

Zu Beginn nahm der Vorsitzende Richter Kompisch Stellung zu den im vorigen Verhandlungstag gestellten bzw. angekündigten Anträgen und Anregungen. Dies stellte sich so dar:

Die Anträge der Verteidigung wurden zurückgewiesen. Diese bezogen sich u. a. darauf, vorige, mit Ermittlungsverfahren gegen den jetzt Angeklagten befasste Personen als Zeugen zu laden. Aufgrund der Tatsache, dass diese Personen seit Jahren verstorben sind, werden sie als Beweismittel als ungeeignet bewertet.

Der von einem Vertreter der Nebenklage beim letzten Verhandlungstag angekündigte Antrag auf Hinzuziehung und Inaugenscheinnahme des Buches „I escaped from Auschwitz“ wurde nicht mehr gestellt.

Die Anregungen des Staatsanwalts bzgl. der Hinzuziehung bezifferter, aber für nicht Prozessbeteiligte inhaltlich nicht nachvollziehbarer Dokumente wurde in den Punkten 1 bis 7 zurückgewiesen. Zugelassen wurde hingegen ein Dokument, dass vom Vorsitzenden Richter Kompisch auch verlesen wurde. Hierbei handelt es sich um die Dokumentation des zeitlichen Aufenthalts des Angeklagten im Krankenlazarett aufgrund seiner Flecktyphuserkrankung. Aus dem Dokument geht hervor, dass er das Lazarett 1943 verließ. Diese Feststellung war wichtig, um festzulegen, zu welchen Zeiten der Angeklagte sich nicht in Auschwitz befand und wie viel er von den Vorkehrungen und Vorbereitungen auf die sog. „Ungarn Aktion“ erfahren habe. Diese begann im Mai 1944, zu den Vorbereitungen gehörten neben einer Verschwiegenheitsverpflichtung, der Urlaubssperre ebenso räumliche, bauliche Veränderungen (neue Rampe) und die Tatsache, dass der Lagerkommandant Höss nach Auschwitz zurückkehrte. Durch die Verlesung des Lazarettaufenhaltes des Angeklagten wurde ausgeschlossen, dass er sich in der Vorbereitungszeit auf die „Ungarn Aktion“ im Lazarett befand.

Um 11:55 Uhr schließt der Vorsitzende Richter Kompisch die Beweisaufnahme dieses Gerichtsverfahrens und übergibt das Wort an den Staatsanwalt Lehmann, der sein Schlußplädoyer hält. Dies dauert ca. 25 Minuten.

In seinem Plädoyer ging er zunächst systematisch die bereits in der Anklageerhebung genannten Tatvorwürfe durch und setzte diese in Bezug zu den im Prozessverlauf erhaltenen Erkenntnissen. Die Anklage lautet bekanntermaßen „Beihilfe zum Mord in über 300.000 Fällen“. STA Lehmann zeigte anhand von Beispielen, die im Prozessverlauf durch die Aussagen der Zeugen wie auch der Sachverständigen aufgezeigt wurden, dass die beiden Mordmerkmale „Heimtücke“ und „Grausamkeit“ belegt wurden. Die Heimtücke erfolgte durch die perfide geplante und bis ins letzte Detail organisierte Täuschung der deportierten Menschen. Ihnen wurde vorgetäuscht, sie sähen ihre Familien bald wieder, sie erhalten ihr Gepäck bald wieder, sie würden nur in einen Duschraum geführt, um sich nach der tagelangen Fahrt in den Viehwaggons zu waschen…

Die Grausamkeit erfolgte durch die Art der Tötung, der Vergasung durch Zyklon B, auf dessen Wirkungsweise der Rechtsmediziner als Sachverständiger im Prozess ausführlich eingegangen ist. Dies war dem Angeklagten von Anfang an bewusst. Er wusste, dass die ankommenden Menschen, die an der Rampe in die Reihe der „Arbeitsunfähigen“ geschickt wurden, in Kürze umgebracht werden und wie dies erfolgen wird. Er wusste um die Wichtigkeit, dass alles geordnet abzulaufen habe und dafür den auch von ihm als „völlig ahnungs- und arglos“ bezeichneten Menschen ein perfekt ausgeklügeltes System an Handlungen erfolgte, um sie in eine Schein – Sicherheit zu wiegen. Zu einer dieser Tätigkeit gehörte das Wegschaffen des Gepäcks, bevor ein neuer Transportzug mit erneut mehreren tausend Menschen an der Rampe eintrifft. Ebenso die Aussagen des Angeklagten, es sei alles reibungslos abgelaufen, es habe keine Exzesse gegeben, alles habe geordnet funktioniert veranschaulichen, dass dies nur erfolgen konnte, weil er durch sein Handeln dazu beigetragen habe, dass dieses Täuschungskonstrukt aufrecht erhalten blieb. Er habe willentlich und wissentlich gehandelt. Dies nicht nur in Bezug auf seine Tätigkeit an der Rampe, sondern auch durch sein Handeln in der HGV. Er war sich darüber im Klaren, von wem das Geld stammt und was mit den Menschen passiert war, denen es geraubt wurde.

In einem Verfahren müssen zur Strafmaßbemessung bekanntermaßen die belastenden wie auch entlastenden Aspekte aufgeführt, bewertet und berücksichtigt werden. Zu den entlastenden Aspekten führte der Staatsanwalt maßgeblich an, dass der Angeklagte sich zur Sache äußert und einlässt. Er habe gleich zu Beginn ein umfassendes Geständnis abgelegt und über seine Tätigkeit sowie die Strukturen und Abläufe in Auschwitz Birkenau berichtet.

Aus seiner Sicht sieht der Staatsanwalt Lehmann den Straftatbestand der „Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen“ als erfüllt an. Das Gesetzbuch sieht in der Strafbemessung hierbei ein Strafmaß von drei bis fünfzehn Jahren vor. Herr Lehmann forderte unter Abwägung der be- und entlastenden Aspekte des Angeklagten, also unter Berücksichtigung der strafverschärfenden sowie strafmildernden Gesichtspunkte ein Strafmaß von drei Jahren und sechs Monaten.

Jetzt war es also ausgesprochen und begründet und wir dachten, das Plädoyer der Staatsanwaltschaft mit der Benennung der Strafmaßforderung auch beendet, doch weit gefehlt. Herr Lehmann führte weiter aus, dass eine Anklage des Herrn Gröning bereits in den 1970er Jahren hätte führen können und müssen. Nun waren wir gespannt, ob von Seiten der Staatsanwaltschaft noch eine abschließende kritische Bewertung des Umgangs des eigenen Berufsstandes mit NS Verfahren der letzten Jahrzehnte erfolgen würde. Statt dessen verlief die inhaltliche Stoßrichtung jedoch in eine ganz andere Richtung. Herr Lehmann bewertete das seit Ende der 1970er Jahre gegen Herrn Gröning geführte und 1985 eingestellte Ermittlungsverfahren als rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, aus der sich die Möglichkeit einer Kompensationslösung ableiten ließe und eine Strafminderung von 14 bis 22 Monaten in Betracht käme. Die Bewertung dessen, ob es zum Tragen käme und entsprechend Auswirkungen auf die Strafmaßbemessung habe, lege er in die Hände des Gerichts.

Wir erinnern uns: Ein Antrag des Verteidigers Holtermann am vorherigen Verhandlungstag stützte sich genau auf diesen Aspekt und er begründete es damit, seit den 1970er Jahren sei sein Mandant mit den Ermittlungen gegen ihn konfrontiert, er sei von der Einstellung Mitte der 1980er Jahre nicht informiert worden, es sei eine belastende Situation als Beschuldigter und er habe ein Recht auf eine rasche Verfahrensdauer. Das Verfahren gegen seinen Mandanten seit Ende der 1970er Jahre entsprach dem nicht und stelle eine rechtsstaatwidrige Verfahrensverzögerung dar, die den Maßstäben des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte widersprechen würde. Der daraufhin umgehend vom Vorsitzenden Richter Kompisch befragte Angeklagte ließ die argumentative Basis seines Verteidigers mit einem knappen Satz in sich zusammen fallen, als dieser ihn fragte, ob ihm Ende der 1970er Jahre denn bekannt war, dass er als Beschuldigter und nicht als Zeuge befragt werde? „Nein, zu keinem Zeitpunkt“ antwortete der Angeklagte klar. Dies war bereits am zweiten Verhandlungstag im April Gegenstand der Befragung des Angeklagten, auch da hatte er angegeben, keine Kenntniss davon gehabt zu haben, dass er in Nienburg bei der Kriminalpolizei als Beschuldigter befragt wurde. Ohne Wissen über den Umstand des Beschuldigtseins lässt sich auch kein jahrelanger Zustand der Belastung ableiten.

Eben jene Argumentation greift die Staatsanwaltschaft jedoch auf und stellt die Option einer Strafminderung durch Bezugnahme auf Kompensationslösung in den Raum.

Kompensationslösung meint, dass bei Feststellen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei einer Strafbemessung die für den Betroffenen als belastend empfundene Verfahrensdauer berücksichtigt wird und eine individuell zu benennende Dauer als bereits verbüßt vom Strafmaß subtrahiert wird, also letztlich kompensiert.

Diese Sichtweise der Staatsanwaltschaft führte nicht nur bei den Zuhörer*innen zu Irritationen, sondern wurde auch in den folgenden Plädoyers der Nebenklagevertreter ablehnend gewürdigt.

Wenn wir uns vor Augen führen, wie der Angeklagte am den beiden Verhandlungstagen über seine Befragung in Nienburg aussagte, dann steht hierbei nicht nur seine Angabe im Raum, er habe von seinem Status als Beschuldigter keine Kenntnis gehabt und wurde darüber auch nicht informiert, sondern es ist ebenso zu berücksichtigen, dass er glaubwürdig vermittelte, auch nie das Gefühl gehabt zu haben, als Beschuldigter zu gelten. Dies widerspricht einem langfristigen von Belastung geprägten Zustand. Vielmehr stellte er seine Rolle als Augenzeuge dar, der zur Aufklärung beitragen könne.

Nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft folgten die Schlussplädoyers der Nebenklagevertreter, beginnend mit Rechtsanwalt Walther.

Gleich zu Beginn hebt Herr Walther hervor, dass der Fokus seiner Schlussrede darauf gerichtet ist, welche Bedeutung dieser Prozess für seine Mandant*innen hat, die vor 71 Jahren ihre Angehörigen verloren haben, weil sie in Auschwitz Birkenau ermordet wurden, kurz nachdem sie den Vorhof der Hölle erreichten. Er spannt den Bogen von dem Zeitfenster der sog „Ungarn Aktion“, als in weniger als zwei Monaten über 300.000 Menschen planmäßig, gezielt und kaltblütig umgebracht wurden, zu dem Geschehen heute und zeigt auf, welche Errungenschaften in diesem Gerichtsprozess, genau 71 Jahre später, für die Beteiligten erlebbar waren. Herr Walther hat sich über einen langen Zeitraum mit den Überlebenden von Auschwitz auseinandergesetzt, sie zu Hause aufgesucht, Gespräche geführt und in der mehr als zweimonatigen Verhandlungszeit war nicht nur für die Prozessbeteiligten, sondern auch alle anderen Hörenden und Sehenden allein durch die Art des Umgangs zwischen ihm und seinen Mandant*innen deutlich, welche tiefe Vertrautheit und enges Band zwischen ihnen besteht. Dies hat sich auch in dem gesamten Plädoyer wiedergefunden und nicht nur in dem niedergeschlagen, dass er für sie aus persönlicher Perspektive sprechen durfte, sondern auch in der Fähigkeit, eben jene Sichtweise so zu formulieren und übermitteln, dass sie alle Anwesenden erreicht und erfasst. Diese Form der Empathie als Grundlage der Vertrauensbeziehung zu seinen Mandant*innen war authentisch, da die Art und Weise der Darstellung ihrer Gedanken und Gefühle nicht nur Worte waren, sondern wir sie als die ihren empfanden.

Das Plädoyer von Herrn Walther dauerte eine Stunde und die Aufmerksamkeit Aller war vom ersten bis zum letzten Moment hoch. Da im Gegensatz zum vorigen Verhandlungstag das Medieninteresse wieder gesunken war, hatten wir von den Publikumsplätzen einen guten freien Blick auf die Anklagebank. Der Angeklagte wirkte konzentriert und aufmerksam, er folgte den Ausführungen von Herrn Walther bis zum letzten Wort.

Dieser begann, die Bedeutung der Klage für seine Mandant*innen zu erläutern, die nicht nur anklagen, sondern beklagen, welcher Schmerz, welche Trauer und welchen Verlust sie seitdem mit sich tragen: „All unsere Klage lebt in uns. Dieser Tod von Auschwitz ist Teil unseres Lebens“.

Er vermittelt die Erwartungen und Hoffnungen seiner Mandant*innen an den Angeklagten, die ihn in dem Moment durch ihren Anwalt persönlich ansprechen. Ihre Hoffnung, dass ihre Klage ihn erreichen würde, da niemand der Anwesenden so nah am Geschehen war wie er und sie.

Dann spricht er den Angeklagten in seiner Sicht an und zeigt ihm zum einen seinen Respekt auf dafür, dass er sich diesem Verfahren stellt und nicht nur in diesem Gerichtssaal, sondern auch schon zuvor ohne äußere Forcierung öffentlich über seine Tätigkeit in Auschwitz berichtet. Dies unterscheidet ihn von Verhaltensweisen, die er von anderen NS Tätern kennt. Gleichwohl sind jedoch auch deutliche Parallelen zu ehemaligen NS Tätern zu sehen, die in ihm und seinen Mandant*innen zu großer Enttäuschung führen und die an diesen Prozess gestellten Erwartungen unerfüllt lassen. Hierzu zählt maßgeblich das Unvermögen des Angeklagten, das mit der schlichten Klarheit eines einzigen Wortes zu benennen, was es war: Mord! Und eben jene Mordhandlung mit dem eigenen Handeln und somit dem wichtigsten, der eigenen Verantwortung, mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Herr Walther greift die Aussage der Einlassung zu Beginn des Prozesses auf, indem er die Verknüpfung von Schuld und Moral des Angeklagten als gewählte Ebene benennt, die eben jene persönliche Verantwortung für das, was er nicht zu sagen fähig ist, nämlich Mord, begrenzt. Da es immer an die Moralvorstellung des Formulierenden geknüpft ist. Basierend auf dieser Feststellung spannt er den Bogen in die Gegenwart und zeigt auf: „ Diese Begrenzung von eigener Schuld am Tod von Juden birgt in der Gegenwart unserer Welt immense Gefahren in sich. Moderne Rechtfertigungen für praktizierten Antisemitismus sind zumeist moralischer Art. Eigene moralische Werte oder Normen von partikularen Gruppen werden verknüpft mit Empörung, Groll oder Neidgefühlen und treffen sich in einem modernen Antijudaismus. So möchte ich die tiefe Sorge der jüdischen Nebenkläger betonen. Sie alle sind zutiefst seit Generationen alarmiert, wenn die Schuld am Tod von Juden auf den Waagschalen der Moral gemessen werden soll. Hinter der komplexen gesellschaftlichen und politischen Deformation als Wegbereiter für das barbarische Abschlachten unschuldiger Menschen hat sich das eigene ICH von Oskar Gröning von Anfang an unerkannt verbergen können. Nach Wegfall dieser Deformationen ist es für die Nebenkläger unerträglich, die Beteiligung am Mord in Auschwitz im schlechtesten Fall als „unmoralisches Handeln“ einzuordnen“.

In diesen Momenten der direkten persönlichen Ansprache, aber vor allem auch dem in Beziehung setzen des Angeklagten, seinen Worten, seinen Taten, der Haltung, die sich daraus ableiten lässt und die Auswirkungen auf die, die nicht mehr da sind, weil sein Handeln zur Ermordung dieser Menschen beitrug sowie zu jenen, die um sie trauern, wechselt unser Blick zum Angeklagten und er ist nicht hinter einem Vorhang verschwunden. Da ist keine Mauer, hinter der er sich vergräbt, sondern er ist da und folgt jedem Wort, das Herr Walther und mit ihm die Nebenkläger*innen an ihn richten.

Herr Walther zeigt auf, wie biegsam doch die Moralvorstellungen des Angeklagten sind und bestätigt damit die Unzulässigkeit der jeweils eigenen gesteckten Moral als Referenzrahmen zur Bewertung von Morden: Die vielfach vom Angeklagten geschilderte Situation an der Rampe, als er Augenzeuge von dem Mord an einem Baby wird, dessen Kopf an einem Transporter zerschmettert wird, als wäre es ein nasser Lappen, hebte der er schon vor über 10 Jahren als markierenden Einschnitt für sich hervor, der mit seinen moralischen Vorstellungen nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Dies jedoch begründet durch die grausame Art des Tötens, das ihm vor Augen geführt wurde, nicht den Mord selbst. Keinerlei moralische Empörung regt sich jedoch bei jedem toten Baby, dass den dreitägigen Transport nicht überlebte, bei jedem Kind, das an ihm an der Rampe vorbeizog und von dem er wusste, dass und wie es gleich umgebracht wird. Kinder wie die Geschwister seiner Mandant*innen. Kinder wie Evike, Reuven, Gershon, Gilike, wie all die Tausenden, die er hat vorbeiziehen sehen und nur feststellte, wie geordnet doch alles vor sich gehe. Und erneut setzt Herr Walther den Angeklagten und seine Verantwortung in Beziehung zu den Menschen, die die Folgen seines Handelns so tödlich traf: Indem er sie benennt, ihren Namen, ihre Identität gibt und sie sichtbar macht. Erneut haben wir das Gefühl, als fülle sich der Gerichtssaal mit 10, 30, 60, Hunderten Menschen als Walther ausführt: „ Offensichtlich waren unsere Mandanten, die als Zeugen aussagten, nicht allein – und ich meine damit nicht ihre Kinder, die sie begleitet haben. Unsere Mandanten waren hier auch in Begleitung ihrer ermordeten Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel und Nichten. Es waren oft 50 oder 60 oder mehr, die mit einem einzigen Zeugen in dem quälenden Fühlen des gewaltsamen Verlustes ganzer Familienverbände hierher nach Lüneburg kamen.“

Einige seiner Mandant*innen haben haben ihre Ängste, die sie seit dem Trauma in Auschwitz Birkenau verfolgen, zumindest in dem Punkt überwunden, Deutschland zu betreten und sind nach Lüneburg gekommen, um in diesem Verfahren auszusagen. Dies hatte für sie eine positive, er spricht von „heilender Wirkung“ durch die Möglichkeit, ihre Erlebnisse zu schildern und die Art, wie ihnen begegnet wurde: „ Die Nebenkläger haben den Respekt wahrgenommen, mit denen Ihnen begegnet wurde. Sie haben vor dem Gericht die Suche nach Gerechtigkeit im Gegensatz zu ihrer Angst vor alten deutschen Selbstgerechtigkeiten erlebt. Auch Beamte in deutschen Uniformen von Justiz und Polizei wurden von ihnen ohne jedes Zögern als diejenigen erkannt, die sie hier in diesem Prozess vor jeglichen Gefährdungen beschützen. Deutsche Öffentlichkeit – mit wiederholt spontaner Zuwendung im öffentlichen Raum – und Vertreter der Medien, der Bürgermeister der Stadt Lüneburg, sie alle haben zu dieser so starken Wandlung von latenter Angst in Vertrauen beigetragen.“

Gleichwohl steht noch etwas aus: das Ungesagte, das Fehlende, das Vermiedene, das in der ergänzenden Einlassung des Angeklagten immer mit schwang und doch ausblieb. Dies kann er bis zuletzt nachholen und Walther appellierte an den Angeklagten: „ Er hat nach wie vor die Möglichkeit und Freiheit, die unaussprechlichen Verbrechen konkret zu beschreiben, wenn er nur seine eigene Traumwelt der Verharmlosung und die Wortkargheit bei der Erinnerung des Massenmordes verlässt. Die Nebenkläger geben die Hoffnung nicht auf, dass der Angeklagte in seinem „Letzten Wort“ endlich seine eigene Seele befreit und darüber spricht, was auf der Rampe und in Birkenau während der Ungarnaktion geschah und was er gesehen hat. Der Angeklagte ist für das lebenslange Leid der Nebenkläger mitverantwortlich. Er kann ihnen dieses Leid durch keine Worte nehmen. Aber er kann ihnen ein wenig dabei helfen, im Kontext dieses Strafverfahrens mit diesem Leid umzugehen. Dazu ist es noch nicht zu spät.“

Das gesamte Plädoyer von Rechtsanwalt Walther ist hier nachzulesen und sehr zu empfehlen:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/ra-thomas-walther/

Im Anschluss an das Plädoyer von RA Walther haben Hedy Bohm und Andrew Sternberg als Nebenkläger jeweils eine Erklärung vor dem Gericht abgegeben. Hedy Bohm hat Ende April als Zeugin der Nebenklage vor Gericht ausgesagt, nun geht sie darauf ein, was sie bislang vermisst. Ihre Schlussrede ist recht kurz, aber von einer deutlichen Klarheit: Sie kam ein zweites mal nach Lüneburg mit der Hoffnung, diese drei Worte vom Angeklagten zu hören: „I am sorry“. Als sie die von der Verteidigerin verlesene Einlassung hörte, vernahm sie den magischen Satz, aber in der folgenden Begründung und Erklärung für diesen Satz verlor dieser seine Bedeutung, da er sich nur auf den Sprachstil während der Verhandlung bezog. Ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt. Enttäuscht darüber, fragte sie sich selbst, warum es für sie so wichtig war, diese Worte von dem Angeklagten zu hören. Ist es wichtig für sie, für ihre Eltern, für all die Massen ermordeter Menschen? Sie weiß es nicht mehr und stellt die Überlegung in den Raum, dass der Angeklagte selbst vielleicht am meisten davon profitieren würde. Einfach ausgesprochen, diese drei Worte. Nicht mehr.

Sie alle, die dieses Grauen überlebt haben, tragen Narben, die meisten davon unsichtbar, aber dennoch schmerzend. Ein allgegenwärtiger Schatten liegt über ihrem Leben.

Die Schlusserklärung von Hedy Bohm ist hier zu lesen:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/hedy-bohm/

Herr Andrew Sternberg ging in seiner Erklärung auf die Verschleppung von ihm und seiner Familie ein, auf die Leiden während des Transports, das Chaos bei der Ankunft an der Rampe und wie ihm seine Familie entrissen und ermordet wurde. Er zeigte auf, dass für ihn der Angeklagte durch dessen Beitrag zum Funktionieren dieser ganzen Mordmaschinerie nicht nur in dem von ihm selbst gewählten moralischen Rahmen, sondern umfassend, also auch in der strafrechtlichen Dimension

schuldig ist.

Hier ein Radiofeature mit Beiträgen von Staatsanwaltschaft sowie Nebenkläger*innen:

www.deutschlandradiokultur.de/plaedoyers-im-auschwitzprozess-dreieinhalb-jahre-haft-fuer.2165.de.html?dram:article_id=324781

www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Dreieinhalb-Jahre-Haft-fuer-Groening-gefordert,auschwitz446.html

Mittwoch, 08.07.2015 Tag 15

Der Verhandlungstag begann mit der Fortsetzung der Plädoyers der Vertreter der Nebenklage.

Es spricht als erstes Herr Nestler, der mit Herrn Walther über 50 der Nebenkläger*innen vertritt. Während Herr Walther den Schwerpunkt seines Plädoyers auf die Erwartungen, Bedeutung und Wirkung dieses Prozesses für seine Mandant*innen legte, thematisiert Rechtsanwalt Nestler in seiner einstündigen Schlussrede den Aspekt, der diesen ganzen Prozess durchzieht und doch in der Beweisaufnahme weitestgehend unbehandelt blieb: das Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit NS Tätern. Die Ausführungen sind sehr und inhaltlich aufeinander aufbauend, nehmt Euch die Zeit, die gesamte Schlussrede ist hier dokumentiert:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/prof-dr-cornelius-nestler/

Auf Herrn Nestler folgte nun Rechtsanwalt Feld. Er begann sein Plädoyer mit den Berichten über die Gespräche mit seiner Mandantin Frau Rosenwasser, die er in Tel Aviv aufsuchte. Sie erklärte ihm, wie sehr sie die deutsche Sprache liebt und dass die SS Männer ihr die Schönheit der deutschen Sprache auch nicht nehmen konnten, da sie nur primitive Schreie von sich gaben, die für sie mit der Sprache nichts zu tun haben. Allerdings wird sie Deutschland nicht betreten, da sie ihre schrecklichen Erlebnisse in Auschwitz nicht mit der Sprache, sondern mit den deutschen Männern verbindet. Herr Feld war zuvor über 30 Jahre Staatsanwalt in Köln und hat dort in dieser Funktion auch mehrere Prozesse gegen NS Täter erlebt. Die Prozesse fanden in Gerichtsgebäuden statt, bei denen die Sicherheitsvorkehrungen mit den heutigen nicht vergleichbar waren. Zahlreiche Schulklassen haben die Verhandlungen besucht und es war im Anschluss häufig die Möglichkeit für die Schüler*innen, sich mit ihm über die Verfahren zu unterhalten. Hierbei erfolgte nie die Frage: „Warum jetzt noch?“, sondern sie fragten ihn immer: „Warum erst jetzt?“ Das Interesse dieser Menschen an einer Auseinandersetzung war groß und ist es heute noch. In diesem Moment ist zu beobachten, wie der Angeklagte seinen Kopf dreht und den Zuschauerplätzen zuwendet. Er blickt direkt in die Gesichter der Jugendlichen, die dem Geschehen folgen. Es waren an mehreren Verhandlungstagen ganze Schulgruppen anwesend.

Herr Feld geht auf die Strafmaßbemessung ein, die sich im Falle von „Beihilfe zu Mord“ vorgesehen ist und zeigt auf, dass er sich der Forderung der Staatsanwaltschaft nicht anschließen kann. Bei einer Spanne von drei bis fünfzehn Jahren stellt die Hälfte neun Jahre dar. Zieht man noch weitere strafmildernde Aspekte vom Strafmaß ab, die aufgrund der Erkenntnisse im Prozessverlauf zu berücksichtigen sind, verringert sich diese Zahl zwar, aber nicht auf diese minimale Größe, die der Staatsanwalt bei Berücksichtigung der Kompensationslösung aufgeworfen hat. Dies sei ein zu geringes Strafmaß. Bezüglich der Anwendung der Kompensationslösung muss hervorgehoben werden, dass es sich nicht darum handelte, dass der heute Angeklagte die Situation belastet schien, ein Verfahren ziehe sich in die Länge, bis es zu einem Abschluss durch ein Urteil gegen ihn käme. Vielmehr handelte es sich um eine Situation, die nur die Einstellung eines Verfahrens verzögerte. Dass es jedoch zu einer Einstellung kommen würde, schien von vornherein klar und ließ sich auch aus der erinnerten und geschilderten Wahrnehmung des Angeklagten heraushören.

Abschließend nimmt er seine Ausführungen zu Beginn der Rede wieder auf, in denen seine Mandantin Frau Rosenwasser verdeutlichte, dass ihr die SS Männer die Schönheit der deutschen Sprache nicht nehmen konnten, gleichwohl aber das Land an ihre grausamen Erinnerungen verknüpft ist. Diese Ambivalenz zwischen einer Sprache, in der so schöne Gedichte und Schriften entstehen können und dem Verhalten, den Taten, die von den Menschen, die sie sprechen begangen werden können, zeigt er durch ein Gedicht auf, das sehr bekannt und ihm sehr wichtig ist.

Er liest nicht das gesamte Gedicht, sondern nur eine Zeile Paul Celans „Todesfuge“: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.

Es folgte das Schlussplädoyer von Rechtsanwalt Donat Ebert. Dieser legte seinen Fokus auf die Situation in Ungarn und spannte den Bogen von der Zeit der Verschleppung und Ermordung der ungarischen Juden zur heutigen Situation in dem Land. Herr Ebert lebt selbst seit 20 Jahren in Budapest und verfolgt somit seitdem direkt die Entwicklung in dem Land. Er machte deutlich, dass die Massenermordung der ungarischen Juden nur funktionieren konnte, weil sie auf so große und willfähige Unterstützung in Ungarn trafen. Die Berichte der Überlebenden nannten alle ungarische Milizen, Gendarmerie, die an ihre Haustüren donnerten, um sie abzuholen und in Ghettos zu verfrachten. Die Listen der jüdischen Familien, die es den Vernichtungsplänen der Nazis nach zu vernichten gelte, wurden von ungarischen Männern zusammengetragen. Die Zufriedenheit der Nazis über das Mitwirken von Teilen der ungarischen Bevölkerung wird durch das Resümee Adolf Eichmanns zu dem Ergebnis seines Sondereinsatzkommandos (in Ungarn) überdeutlich: „in Ungarn lief es wie geschmiert“. Dies erfolgte auf Grundlage eines stark verbreiteten Antisemitismus, der sich auch vor der Verschleppung und Ermordung der jüdischen Familien in vielen ausgrenzenden und diskriminierenden Erlassen zeigte. Auch hiervon berichteten alle Zeugen in ihren Aussagen vor Gericht. Nun verweist Ebert auf die heutige Situation in Ungarn, die ebenfalls von einem Erstarken des Antisemitismus und Rassismus geprägt ist. Nur ein Mandant von ihm hat den Mut gefunden, nach Lüneburg zu kommen und vor Gericht auszusagen. Damit verbunden ist, als Jude in die Öffentlichkeit zu treten und Anfeindungen in Ungarn ausgesetzt zu sein. Seine Mandant*innen werden im Internet öffentlich diffamiert und beleidigt. Während das Internet eine Plattform ist, in der sich Hass durch anonym verbleibende Menschen äußern kann, macht Herr Ebert durch Beispiele deutlich, wie groß die Ignoranz, sich mit der sog. „Ungarn Aktion“ und somit auch der Verantwortung der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen ist: Es waren nur zwei Journalisten aus Ungarn anwesend, diese mussten die Kosten für ihren journalistischen Einsatz, um über den Prozess in Lüneburg zu berichten, selbst tragen. Ebenso haben Rassismus und Antisemitismus weite Teile der Gesellschaft und auch parlamentarische Ebenen erreicht: So wurde von einem Abgeordneten der faschistischen Jobbik Partei gefordert, die Namen der Abgeordneten, die Juden sind, aufzulisten. Listen über jüdische Menschen zu erstellen (www.taz.de/!5078511/). Ein weiteres Beispiel für den starken Rassismus in Ungarn zeigte Herr Ebert anhand des Ausrufes eines Parlamentariers auf: dieser hat verkündet, man müsse „das Zigeunerproblem lösen, egal, mit welchen Mitteln“. Dieser Aufruf allein lässt einen zusammen schrecken, beängstigender noch ist die durchgehend ausbleibende Empörung darauf.

Dieser Prozess und entsprechend das Urteil haben eine internationale Relevanz und sind auch für seine Mandant*innen in Ungarn wichtig, indem er hofft, dass ihnen dadurch der Rücken gestärkt werden kann, wenn auch nur ein wenig.

Nach den Ausführungen von Herrn Ebert hielt Judith Kalman als Nebenklägerin ihre Schlussrede.

Zentral sind für sie im Prozess zwei Aspekte wichtig: Er verleiht den Menschen, die von diesem Terror betroffen waren, ein Gesicht. Ebenso das Ringen der Überlebenden, sich nach diesem Trauma und Verlust fast all ihrer Angehöriger, ein neues Leben aufzubauen. Gleichermaßen reißt es auch die Täter aus der Anonymität und mit dem Angeklagten erhält er ein Gesicht als Täter der „Endlösung“. Sie sieht die Relevanz dieses Prozesses nicht in der Frage, ob der Angeklagte mehr oder weniger schuldig ist als andere Täter, ob er sich Jahrzehnte danach damit auseinandergesetzt hat oder ob es ihm Leid tut. Für sie liegt die Relevanz dieses Prozesses in der Feststellung, ob er Wissen über das Geschehen hatte und sich darüber im Klaren war, dass sein Handeln diese Mordmaschinerie ermöglichte.

Nachzulesen ist ihre Schlussrede, ebenso ihre Aussage als Zeugin vor Gericht am 29.04.2015, hier:

http://nebenklage-auschwitz.de/category/judith-kalman/

Rechtsanwalt Rückel geht in seinem Schlussplädoyer sowohl auf die Auswirkungen der Schrecken von Auschwitz Birkenau für seine Mandant*innen ein, wie auch auf die Rolle der deutschen Justiz.

Er zeigt auf, wie lange die Schatten der Vergangenheit über seinen Mandant*innen liegt, indem er von einem Gespräch erzählt, in dem seine Mandantin ihm über ihre Schreckenserlebnisse und den Verlust in Auschwitz Birkenau berichtet. Ihr Sohn erklärt ihm, dass sie ihm nie davon erzählt habe. Weil sie es nicht konnte, fügt sie an. Dies ähnelt der Darstellung vieler Überlebenden, die erst nach Jahrzehnten sich öffnen konnten und über ihre Traumata berichten.

Die Trauer über den Verlust und das Ausmaß dessen ist kaum greifbar. Herr Rückel berichtet über eine Mandantin von ihm, die von ihrer Hochzeit 1947 sprach. Sie war allein auf ihrer Hochzeit, es war niemand mehr von ihrer Familie am Leben.

Er würdigt, dass durch die Aussagen in diesem Gerichtsverfahren jene zu Wort kamen, die vorher nicht zu hören waren. Die Überlebenden und Nachkommen für ihre verstorbenen Familien. Gleichwohl sind nicht alle zu Wort gekommen, da der Antrag, die Mandant*innen vor Ort zu vernehmen, die die Reise nach Deutschland nicht auf sich nehmen können, zurückgewiesen wurde.

Die Narben, die diese Geschehen in den Menschen hinterlassen haben, wirken bis heute fort. Herr Rückel liest zur Veranschaulichung einen kurzen Abschnitt aus dem Buch von Witold Pilecki „Freiwillig nach Auschwitz“ vor, in dem er die Demütigungen, die Angriffe, die Destruktion sowohl der Körper, aber vor allem auch der Psyche der Menschen beschreibt, die wie ein Feld durchpflügt und aufgerissen wurden, deren Wunden nie heilen. Parallel dazu die Bilder im Auschwitz Album, wie er es in Yad Vashem betrachtet hat, in der die Fotos eingeklebt und beschriftet sind, als handele es sich um einen Mallorca Urlaub. Eins dieser Fotos ist mit dem Wort „Entlausung“ beschrieben und die Nennung eines der schrecklichsten Erinnerungen seines Mandanten ist die, sich ein Jahr lang nicht waschen zu können. Er schilderte ihm, den größten Zoo am Körper getragen zu haben.

Den Hinweis auf die Gedenkstätte Yad Vashem ergänzt Herr Rückel mit der Empfehlung eines Besuches des NS Dokumentationszentrums in München, bei dessen Ankunft man zunächst auf eine graue Wand stößt, in der sämtliche Erlasse und Gesetze, Verordnungen gegen Jüdinnen und Juden aufgeführt waren. Es ist eine solche Vielzahl an Diskriminierungen, dass Herr Rückel noch einmal betont, in Anbetracht dieser Dimension kann niemand behaupten, er habe dies nicht mitbekommen.

Ebenso empört sich Herr Rückel, wenn die sprachliche Anwendung die Verschiebung von Tatsachen zu leisten drohe: Das Bezeichnung der Menschen als Häftlinge ist unzutreffend, denn Häftlinge befinden sich in Justizvollzugsanstalten und verbüßen dort ihre Haftstrafe. Die Menschen in Auschwitz waren keine Häftlinge, sie waren Verschleppte, Gekidnappte.

Er zeigt ebenso auf, wie sehr ihn die Auseinandersetzung mit Auschwitz, dem bis ins Detail organisierten industriell durchgeführten Massenmord, in Alltagsbegegnungen einholt: Die von ausländischen Kollegen ihm gegenüber gelobte „deutsche Gründlichkeit“ lässt ihn schaudern, da dies für ihn mit eben jenem tödlichen Perfektionismus und dem Ergebnis des millionenfachen Mordens verknüpft bleibt. „Deutsche Gründlichkeit“, uns schießen sogleich die entsprechenden Beschreibungen des Angeklagten ins Ohr, mit denen er den Ablauf des Mordens bezeichnete: abfertigen, versorgen, reibungslos, geordnet. Alles lief „geordnet“.

Er berichtet ausführlich über den Widerwillen im deutschen Justizsektor, gegen NS Täter zu ermitteln und verdeutlicht dies am Beispiel Fritz Bauers, welche Schwierigkeiten dieser als Staatsanwalt in den 60er Jahren hatte, um Ermittlungen gegen Täter in Auschwitz zur Anklage zu führen. Seine gesamte Arbeit war geprägt vom Mauern seiner Kollegen, bis hin zu Angst vor Sabotage. Seine Ermittlungstätigkeiten mussten sich diesen Situationen anpassen, die ein tiefes Misstrauen in die Strukturen der Arbeitsweise der deutschen Justiz bei ihm hinterließ. Herr Rückel verweist auf den jüngst in Kinosälen gezeigten Film „Das Labyrinth des Schweigens“, dass so trefflich die Situation benennt und aufzeigt.

Wenngleich „ZDF History“ nicht zu unserem gewohnten Quellenverweis zählt, so möchten wir an dieser Stelle die Dokumentation empfehlen, die sehr gut die Atmosphäre und den Widerstand verdeutlicht, mit dem Fritz Bauer innerhalb seines eigenen Berufsstandes konfrontiert war. Zum Glück kommt die Dokumentation ohne Verweis auf Herrn Knopp aus…: https://www.youtube.com/watch?v=c7dY9PEFmj4

Herr Rückel geht auf das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß ein und hält es für nicht akzeptabel. Er hebt hervor, dass ein Vergleich zu anderen Fällen nicht möglich ist, da jeder Prozess und jeder damit verbundene Hintergrund individuell zu betrachten ist, dennoch scheint ihm in Anbetracht des Urteils gegen Demjanjuk mit einem Strafmaß von fünf Jahren für die Beihilfe an Mord in 28.060 Fällen nicht im Verhältnis zu dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Maß, erst recht nicht die Anwendung der optionalen Kompensationslösung, die dieses Strafmaß umso mehr nach unten korrigieren könnte.

Abschließend wendet sich Herr Rückel an den Angeklagten und hebt die Relevanz seines Verhaltens positiv hervor, dass er sich in seinem Alter diesem Verfahren stellt. Andere hätten „gekniffen“, er nicht. Dies sei zu würdigen. Er appelliert an ihn, seine Chance auf das letzte Wort zu nutzen und vielleicht habe er eine Stufe der Altersweisheit erlangt, die ihn befähigt, dies auch zu nutzen. Herr Rückel schließt sein Plädoyer mit der Feststellung: „Das Wichtigste in diesem Prozess waren für mich die Stimmen der Überlebenden!“.

Als letzte Vertreterin der Nebenklage spricht Rechtsanwältin Baymak–Winterseel. Sie kritisiert den Angeklagten für die von ihm genutzte verletzende Sprache. Sie bezweifelt die Angaben des Angeklagten zu seinen Versetzungsgesuchen sowie der Häufigkeit seiner Rampendienste. Ebenso beantragt sie die Verurteilung des Angeklagten nicht nur auf Beihilfe, sondern auf Mittäterschaft zu bewerten.

Der nächste Verhandlungstag ist auf kommenden Dienstag, 14.07.2015 datiert. Es wird mit den Plädoyers der Anwälte der Nebenklage fortgesetzt und im Anschluss erfolgt das Plädoyer der Verteidigung. Beginn 9:30 Uhr, Einlass 8:30 Uhr. Am heutigen wie auch gestrigen Verhandlungstag erhielten alle Wartenden Einlass, eine Empfehlung bzgl. der Uhrzeit zum Anstellen können wir jedoch nicht abgeben, da der Andrang von Interessierten Schwankungen unterliegt und sich mit nahendem Ende der Verhandlung nächste Woche entsprechend wieder erhöhen kann.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen

Tag 16 + 17

Liebe Freund*innen,

liebe Mitstreiter*innen,

wir möchten Euch auf diesem Weg über den Prozessverlauf der vergangenen Woche informieren, vorab einige Hinweise:

1. Da das Ende des Verfahrens doch rascher kam als erwartet und für viele von uns der Bedarf besteht, sich auszutauschen, offene Fragen zu klären, aber auch einfach Eindrücke und Erfahrungen auszutauschen, möchten wir ein gemeinsames Treffen vorschlagen: Sonntag, 02.08.2015 um 14:00 Uhr im Heinrich Böll Haus im 1. Stock (Katzenstraße 2). Früher ist es uns leider nicht möglich. Bis dahin wissen wir zum einen mehr über den aktuellen Stand, wie viele Revisionsbestrebungen in der einwöchigen Frist eingegangen sind, zum anderen ist dadurch ein wenig Zeit zum Gedanken setzen erfolgt, da es auch bei uns nach den letzten beiden Verhandlungstagen noch „innerlich arbeitete“ und daher auch erst jetzt die letzte Zusammenfassung erfolgt. Dieses Zusammenkommen ist offen für alle Interessierten, natürlich auch für jene, die den Prozess nicht besuchen konnten.

2. Die Homepage www.nebenklage-auschwitz.de wird kontinuierlich ergänzt und aktualisiert, nun sind auch weitere, in der vorigen Mail von uns beschriebene Plädoyers der Vertreter der Nebenklage dort einsehbar. So von Rechtsanwalt Ebert (http://nebenklage-auschwitz.de/category/ra-dr-donat-ebert/) und Rechtsanwalt Rückel (https://nebenklageauschwitz.files.wordpress.com/2015/07/plc3a4doyer_rc_lg_lc3bcneburg_grc3b6ning_20150708_draft.pdf).

Durch das schriftliche Vorliegen der Plädoyers ist uns aufgefallen, dass wir eine von Herrn Ebert geschilderte Angabe falsch erinnert und entsprechend wiedergegeben haben, das möchten wir hiermit korrigieren. Als eines von mehreren Beispielen für ein Erstarken des Antisemitismus und Rassismus in Ungarn wurde von Herrn Ebert genannt, dass nicht ein Parlamentarier, sondern der Herausgeber der drittgrößten Tageszeitung und persönlicher Freund des Ministerpräsidenten forderte, das „Zigeunerproblem“ sei unbedingt „zu lösen und zwar sofort und gleichgültig wie“. Dies also unser Hinweis auf die Korrektur, im Ergebnis nicht weniger erschreckend.

Dienstag, 14.07.2015 Tag 16

Der vorletzte Verhandlungstag beinhaltete die Plädoyers weiterer Nebenklagevertreter, die Plädoyers der Verteidigung sowie die Möglichkeit des letzten Wortes durch den Angeklagten.

Rechtsanwalt Rothmann begann sein Plädoyer mit der Schilderung einer Begegnung mit einer Schülerin, die vor dem Gericht auf Einlass wartete und ihn fragte, ob auch sie und ihre Generation eine Schuld hätten, ob es eine Art Gesamtschuld, Kollektivschuld gäbe. Dies wies er zurück mit dem Hinweis, eine Schuld, nein, aber eine Scham, eine Kollektivscham über die Verbrechen, wie es dazu kommen konnte und wie grausam sie umgesetzt wurden. Er berichtet von seiner Mandantin, Frau Orosz–Richt, die in diesem Verfahren als Zeugin, als Nebenklägerin aussagte. Wie groß ihre Angst davor war, nach Deutschland zu kommen. Diese ist während ihrer Teilnahme am Prozess zunehmend gewichen und hat sich zunehmend in ein Gefühl der Sicherheit gewandelt. Dies liege begründet in dem respektvollen Verhalten, mit der ihr von allen Seiten begegnet wurde. Diesen Prozess verbindet sie mit positiven Erfahrungen, die wertschätzende Art, wie das

Gericht und alle Beteiligten mit ihr umgegangen sind. Die Möglichkeit, als Zeugin vor Gericht darüber zu sprechen und Gehör zu finden, welche Auswirkungen Auschwitz auf ihr Leben und das ihrer Familie auf ihr Leben hatte. Expliziten Dank richtet Herr Rothmann im Namen seiner Mandantin an die Medienvertreter*innen, das große Interesse an ihrer Person, an ihrem Schicksal, die vielen Interviews und Rückmeldungen haben sie positiv beeindruckt und sie bedankt sich für die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde und die ihr bestätigten, dass ihre Entscheidung, sich nichtnur als Nebenklägerin an diesem Verfahren anzuschließen, sondern ihre Angst zu überwinden und nach Deutschland zu kommen, um in diesem Prozess als Zeugin auszusagen, richtig war.

In Bezug auf den Angeklagten wertet Herr Rothmann die Angaben als unglaubwürdig, ebenso hält er das von der Anklage geforderte Strafmaß von dreieinhalb Jahren für unzureichend.

Rechtsanwalt Goldbach wies zu Beginn seines Plädoyers auf die Zeit hin, zu der der Angeklagte bereits zwei Jahre in Auschwitz als SS-Mann Diensttat und in der seine Versetzung an die Front kurz bevor stand: Oktober1944, und setzte diesen Zeitraum in Bezug zu den Menschen, die imGegensatz zum Angeklagten unfrei nach Auschwitz kamen, weil sieverschleppt wurden. Er zeigte auf, dass sie sich selbst in ihrer Unfreiheit der Wahl entschieden haben, Widerstand zu leisten: Der bewaffnete Aufstand der Sonderkommandos des Krematoriums III, bei dem sich mit Waffen, Steinen gegen die SS Männer zur Wehr gesetzt und mit Sprengstoff einen Teil des Krematoriums in Brand gesetzt wurde. Der verzweifelte Versuch, sich gegen die Peiniger aufzulehnen, ein Akt menschlicher Würde in einer menschenverachtenden Todesfabrik. Dies setzte Herr Goldbach in Verbindung zu dem Handeln, wie der Angeklagte seine Zeit in Auschwitz schilderte. Die, wo es nicht um das totgeschlagene Baby ging, die Zeit des Tanzes, des Trinkens, desFeierns, des Sports, der Freizeitaktivitäten, während hinter den Feiernden SS Männern und Frauen die Schlote der Krematorien rauchten. Indem Moment tauchen die Bilder der Auschwitz Alben wieder auf, die singenden, trinkenden und feiernden SS Männer von Auschwitz, begleitet von einem Akkordeonspieler, als sei es eine Wandertruppe. Die in ihremHandeln vollkommen unfreien Menschen der Sonderkommandos haben sichentschlossen, Widerstand zu leisten. Der Angeklagte hat sich frei über zwei Jahre dazu entschlossen, mitzumachen. Herr Goldbach verweist auf den Werdegang des Angeklagten: freiwillige Meldung zur SS, er hat sich wie Millionen Deutsche mit der nationalsozialistischen Ideologieidentifiziert. Hierbei kommt uns das Beispiel ins Gedächtnis, dass sogar Anleihen einer Überidentifizierung zulässt: Der Angeklagte hat seine evangelische Religionszugehörigkeit abgelegt und nannte sich, wie von Himmler gewünscht fortan „gottgläubig“. Dies haben nicht alle SS Männer getan, der Angeklagte schon.

Der Anwalt nimmt Stellung zum geforderten Strafmaß derStaatsanwaltschaft und hält es für inakzeptabel, er verweist auf die britische Kriegsgefangenschaft des Angeklagten, in die er nach dem Fronteinsatz kam. Welcher britische Staatsanwalt hätte bei Kenntnis der Tätigkeit, der Beihilfe des Angeklagten beim Morden in Auschwitz eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren gefordert? Das entspräche einer Haftzeit von sechs Minuten pro ausgelöschtem Menschenleben. Des weiteren verweist er darauf, dass es davon ausgehe, der Angeklagte werde keinen Tag in Haft verbringen. Ein Schuldspruch habe rein symbolische Bedeutung, eine zusätzliche Strafminderung sei unzulässig und auch ein falsches Signal. Er hielt dem Angeklagten zugute, dass er nicht wie tausende andere geschwiegen, aber dennoch große Schuld auf sich geladen habe. Mit dem Aufzeigen des Angeklagten im Einrichten des „guten Lebensneben der Grausamkeit“, dem Sport, dem Tanz, dem Alkohol, dem Speck und den Sardinen verweist er nicht nur auf die Teilnahme des Angeklagtendaran, sondern zeigt auf, dass dieser sich zusätzlich durch den Griff in die Kasse persönlich an diesem Grauen bereichert habe, es bestand ein eigenes Interesse und er habe Profit aus der Situation für sich geschlagen. Aus dieser Aufzählung zieht Herr Goldbach den Schluss, auf eine Verurteilung wegen Mittäterschaft zu plädieren.

Rechtsanwalt Daimagüler hielt das gemeinsame Plädoyer von ihm, Herrn Özata und Herrn von Münchhausen. Er ging ausführlich auf die Erlebnisse ihrer Mandant*innen ein, auf die Schrecken, die sie erfuhren und deren Erinnerungen sie all die Jahrzehnte nicht losließen. Er ging auf jene ein, die sie verloren haben, die ihnen an der Rampe entrissen wurden und direkt ermordet wurden. Ihre Geschwister, die keine Nummern oder Zahlen darstellen, sondern Menschen mit Namen, deren Biographie durch Auschwitz abgebrochen wurde, ebenso ihre Mandant*innen, die danach kein unbeschwertes Leben mehr fanden. Er verweist auf eine Rede des israelischen Staatspräsidenten Ezer Weizmann, die er vor fast 20 Jahren im deutschen Bundestag als Zuhörer vernahm und er uns den Bezug zu diesem Prozess und dem in Auschwitz erfolgten Verbrechen anhand dieser Rede aufzeigt: „…. Unter den Millionen Kindern …., die die Nazis in den Tod geführt haben, waren Namen, an die wir heute mit Ehrfurcht und Hochachtung erinnern könnten. Doch wir kennen diese Namen nicht. Wie viele Bücher, die niemals geschrieben wurden, sind mit ihnen gestorben? Wie viele Symphonien, die niemals komponiert wurden, sind in ihren Kehlen erstickt? …. Jeder und jede einzelne von ihnen ist zweimal getötet worden: einmal als Kind, das die Nazis in die Lager geschleppt haben, und einmal als Erwachsener, der er oder sie nicht sein konnte. Denn der Nationalsozialismus hat sie nicht nur ihren Familien und den Angehörigen ihres Volkes entrissen, sondern der gesamten Menschheit…“. Er verweist darauf, dass dieses Verfahren keine Gerechtigkeit herstellen könne, da es nur gerecht wäre, wenn Auschwitz niemals stattgefunden, der Tod nicht das letzte Wort gehabt hätte. In Anlehnung auf Paul Celan führt er in Bezug auf den Umgang der deutschen Politik, Justiz und Gesellschaft mit der Shoa aus: „Die Ungerechtigkeit ist ein Meister aus Deutschland“. In der Auseinandersetzung um Gerechtigkeit und gerechtes Handeln zeigt er jedoch unsere eigene Verantwortung auf, die sich in vielen Ebenen als das Gegenteil unseres Anspruchs von Gerechtigkeit belegen lässt. Hierzu zählt zum einen der Umgang mit dem eigenen Sprachgebrauch, als Beispiele nennt er die Bezeichnung der „Verbrechen in deutschem Namen“ zur Vermeidung dessen, was sie waren: deutsche Verbrechen, begangen von Deutschen. Der Bezeichnung der „Entmenschlichung“ der Deportierten und Ermordeten hält er entgegen, dass sie es waren, die bis zum Schluss Mensch geblieben sind, die Täter jedoch alles menschliche verloren haben. Ebenso die schon von Herrn Rückel kritisierte Bezeichnung „KZ–Häftlinge“, die verschleiert, was sie wirklich waren: Verschleppte, Gekidnappte.

Herr Daimagüler appelliert, sehr aufmerksam für die Überlieferungen der Überlebenden zu sein, da wir von ihnen viel über das Menschsein und Menschbleiben lernen können. Dies wirft uns auf unsere eigene Haltung zurück und treffend stellt er die die Frage, wie wir aktuell unser Menschsein praktizieren. Dies leitet er aus der Verantwortung aus den Erfahrungen der Vergangenheit ab, indem er ausführt: „Dieses Verfahren bot eine der letzten Gelegenheiten, die Überlebenden zu Wort kommen zu lassen. Sie konnten Zeugnis ablegen. Sie konnten uns Deutschen dabei die Möglichkeit geben, in den deutschen Abgrund zu schauen auch auf die Gefahr hin, dass der Abgrund zurückblickt. Es liegt an uns Deutschen, diesen Abgrund anzunehmen, der Wahrheit ins Auge zu schauen und daraus Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für uns, für unsere Taten, für die Frage, wie wir heute mit Minderheiten umgehen, wie wir die Schwachen und die Armen in unserer Welt behandeln“. Hierbei nimmt er Bezug auf das tausendfache Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer, auf die Haltung und Sichtweisen in der Gesellschaft über Sinti und Roma, über Juden und Muslime. Auch die Aktualität und die Gefahr des Antisemitismus benennt er, von dem bereits Herr Ebert in seinem Plädoyer ausführlich sprach. Auch der Mandant von Herrn Özata hat in Ungarn Angst vor antisemitischen Übergriffen, daher ist er nicht in diesen Prozess gekommen und möchte auch nicht seinen Namen nennen. Antisemitismus ist jedoch keine auf Ungarn beschränkte Gefahr: Durch seine Tätigkeit als Vertreter zweier Familien , die im NSU-Prozess als Nebenkläger beteiligt sind, hat er vielfach erlebt, wie sich Nazis mit rassistischen und antisemitischen Provokationen in Szene setzen, ebenso die Bezeichnung der Bombardierung Dresdens als „Bombenholocaust“ stellt eine Relativierung der Shoa dar, eine Verharmlosung, die bis hin zur Leugnung geht, wie es auch vor dem Lüneburger Gerichtssaal zu erleben war. Es ist aus unserer Sicht ein sehr gutes Plädoyer, da es den Bogen spannt von der Vergangenheit, deren Verbrechen in dem Prozess verhandelt werden, zu uns und unserer Gesellschaft heute. Er setzt uns dadurch in Bezug zu der heutigen Verantwortung und verdeutlicht uns, dass wir nicht in der Rolle verharren, die wir im Prozessgeschehen haben: Zuhörende, Zuschauende. Wir alle tragen Verantwortung dafür, welche Vorstellung wir von unserer Gesellschaft haben und wie wir diese umsetzen. Die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft obliegt uns. Herr Daimagüler hat uns freundlicherweise das Plädoyer von ihm und seinen Kollegen zur Verfügung gestellt, wir haben es Euch im Anhang mit beigefügt.

Pla_doyer Groening Prozess Final

Des weiteren hielten Rechtsanwalt Lode und Mohammed ihre Schlussplädoyers.

In den verschiedenen Ausführungen der bislang erfolgten Schlussreden wurde von mehreren Verteidigern gefordert, den Angeklagten wegenMittäterschaft schuldig zu sprechen. Hierfür wurden verschiedenen Anhaltspunkte der diese Ansicht vertretenden Nebenklage–Anwälte genannt.

Daraufhin meldete sich Herr Nestler zu Wort, um noch eine nachträgliche Ergänzung anzufügen. Dies war die direkte Reaktion auf die von verschiedenen Vertretern der Nebenklage erfolgte Forderung nach Verurteilung des Angeklagten aufgrund von Mittäterschaft. Herr Nestler verwies darauf, dass es in bzw. ab den 1960er Jahren in der Rechtsprechung manifestiert wurde, dass Täter zu Gehilfen degradiert wurden. Dies erfolgte in einem Dogmatismus, der die Verantwortlichkeit für Massenmord analog zu dem Aufbau der Vernichtungslager durch das Atomisieren in kleinste Arbeitsbereiche von den Beteiligten fern hielt. Nun warnte er davor, es sei ein Rückschritt in alte Dogmen, wenn die Gehilfen zu Tätern heraufgestuft würden.

Zunächst waren wir doch irritiert und fehlte uns der Zugang zu dieser Einsicht, da für uns jeder SS Mann, der in Auschwitz Dienst tat, auch ein Täter war. Später wurde uns in der Auseinandersetzung über diesen vehementen Hinweis von Herrn Nestler die eigentliche Bedeutung klar und ist für uns absolut verständlich und auch für die Urteilsfindung nicht nur in der juristischen Dimension relevant, sondern daraus abgeleitet auch für die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Verantwortung eines jeden „kleinen Rädchens“, als das sich so viele verstanden: Es geht hier nicht um die persönliche Bewertung von uns, sondern um die klare juristische Definition und die daraus abgeleitete Rechtsprechung.

Ein Durchbruch wäre es, würde festgehalten, dass jede Beteiligung, jeder Dienst in der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz als Beihilfe zum Mord bewertet wird. Ein Rückschritt wäre es, die Merkmale für Mittäterschaft in den Vordergrund zu stellen. Es geht gerade darum, entgegen der beschämenden Rechtsprechung seit den 1960er Jahren nun die Verantwortung jedes einzelnen ohne Beweisführung von Merkmalen der Mittäterschaft anbringen zu müssen, sondern das „Funktionieren des Rädchens“ als solches im Rahmen eines auf Vernichtung zielenden Systems zu beleuchten und juristisch zu bewerten: als Beihilfe zu Mord.

Es folgte das Plädoyer von dem Verteidiger Holtermann. Er würdigte die Aussagen der Zeugen, die vor Gericht ausgesagt haben und sehr ausführlich ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Leiden vorgetragen haben. Auch die Ausführungen der Sachverständigen, allerdings kritisierte er einzelne Aussagen und Handlungen des Historikers Hördler, der in Augen von Herrn Holtermann „übers Ziel hinausgeschossen“ sei, als er ein Foto mitbrachte, das zu Spekulationen führte, ob es sich hierbei um denAngeklagten bei einer Situation an der Rampe zeige oder nicht. Dass der Angeklagte sich dort mehrfach befand, habe dieser ja nicht bestritten.

Der Verteidiger kritisierte ebenso das von Rechtsanwalt Feld angewandteVorgehen der Strafbemessung, dies sei komplett unzulässig, da jeder Einzelfall individuell zu bewerten sei (diesen Einzelfall hat Herr Feld auch nie bestritten). Er zeigte auf, dass der Angeklagte in früherer Zeit freigesprochen wäre, so z. B. In den 1980er Jahren, als er gegen Herrn Weise im Verfahren aussagte. Es gelte, die Aussagen des Angeklagten seit Beginn des Verfahrens an zu würdigen. Ebenso ging er auf die Versetzungsgesuche ein, das Bemühen seines Mandanten, Auschwitz zu verlassen. Dann bezog er sich konkret auf die Handlungen des Angeklagten in Auschwitz und stellte dar: sein Mandant war an der Rampe tätig, er hatte auch eine Pistole, diese trug er jedoch immer unter der Uniform, diese war für die Deportierten nicht sichtbar im Gegensatz zu den aufgestellten Wachmannschaften. Somit nimmt der Verteidiger den Angeklagten als Teil der Drohkulisse an der Rampe heraus und stellt fest: „Weder durch seine Anwesenheit an der Rampe noch durch die Weiterleitung und Zählung der Devisen noch durch sonst irgendetwas anderes hat Herr Gröning eine Beihilfe geleistet, die den Holocaust befördert hat, jedenfalls nicht in strafrechtlich relevanter Weise“, des weiteren hebt er hervor: „Aufgabe der Mitglieder der Häftlings-Geld-Verwaltung (HGV) war es, Geld zu zählen und Diebstähle zu verhindern. Mit dem Heraustreiben der Menschen aus den Zügen hatten sie nichts zu tun.“ Er bleibt also dem bekannten Muster verhaftet und trägt dies in seinem Plädoyer fort, wonach es einer direkten Tatbeteiligung bedarf, um seinen Mandanten für schuldig zu sprechen. Doch genau das ist die gesamte Auseinandersetzung dieses Prozesses: Was ist die Tat (Mord) und wen braucht es, um sie umzusetzen? Viele, viele, tausende Helfer, Beihelfer, das ist unsere Erkenntnis. Herr Holtermann hingegen wirft die Frage auf, ab wann es sich denn um Beihilfe handeln würde? Was sei mit dem Arzt in Auschwitz, der ausschließlich SS Männer behandelt hätte, was mit dem Koch, der rein das Essen zubereite, was mit dem Lokführer, der die Transportzüge mit den Deportierten nach Auschwitz fuhr? Eine Antwort darauf wird er am Folgetag vom Richter erhalten. Herr Holtermann stellt dar, dass es keinen Einfluss auf die Massenvernichtung der Juden hatte, ob sein Mandant an der Rampe das Gepäck bewachte oder nicht. Folgerichtig ist für ihn der Freispruch seines Mandanten zu fordern.

Nun waren wir doch irritiert, warum er nicht seine im Prozessverlauf eingebrachte Kompensationslösung zum Tragen brachte, aber diese Frage wurde sogleich gelöst, indem nun seine Kollegin Frau Frangenberg ihr Plädoyer hielt. Während die Argumentation von Herrn Holtermann auf einen Freispruch abzielte, deckte sie nun die Verteidigungsstrategie für den Fall eines Schuldspruches ab. Im Ergebnis forderte sie im Falle eines Schuldspruches die nicht über die Mindeststrafe von drei Jahren zu gehen und diese als bereits verbüßt anzusehen. Begründung: Neben der zu würdigen umfassenden Aussage des Angeklagten sei auch seine Mitwirkung zur Verurteilung z. B. im Weise Verfahren in den 1980er Jahren zu berücksichtigen, zu dessen Verurteilung der Angeklagte durch seine Mitwirkung, seine Aufklärungsarbeit beigetragen habe. Maßgeblich spielte sie als Argumentationsgrundlage jedoch die gesamte Klaviatur der bereits von ihrem Kollegen zuvor erläuterte Notwendigkeit der Anwendung der Kompensationslösung für ihren Mandanten. In Anlehnung an die Ausführung des Staatsanwaltes bezeichnete auch sie das Verfahren gegen den Angeklagten in den 1970er Jahren als rechtsstaatliche Verfahrensverzögerung, ging jedoch noch einen Schritt weiter und sah es nicht als 1985 eingestellt an, sondern eine bis heute andauernde Verzögerung, die somit 37 Jahre andauere und den ihren Mandanten entsprechend belaste. Dies sei durch eine Strafmilderung von drei Jahren als verbüßt zu betrachten. Der Angeklagte sei auch im Verfahren gegen Weise formell als theoretisch Beschuldigter zu bewerten, daher käme für ihn die Anwendung des §46 STGB zur Anwendung. Zweifelsfrei sei der Beschuldigte Ende der 1970er Jahre als Beschuldigter vernommen und auch darüber belehrt worden, „selbst wenn er sich heute nicht mehr daran erinnert“. Hierbei senkte sie ihren Kopf zu ihrem links von ihr sitzenden Mandanten. Wir erinnern uns: zwei Wochen zuvor antwortete der Angeklagte auf die Frage des Richters, ob ihm denn bekannt war, dass er in dem Verfahren Ende der 1970er Jahre als Beschuldigter galt, mit einem klaren: „Nein, zu keinem Zeitpunkt“ und zerschlug damit innerhalb von Sekunden den zuvor von seinem Verteidiger Herrn Holtermann gestellten Antrag auf Berücksichtigung der langen Verfahrensdauer gegen seinen Mandanten als Beschuldigten, die eine immense Belastung darstelle.

Frau Frangenberg führte weiter an, zu berücksichtigen, dass sich der Angeklagte seit Bekanntwerden des Buches „Die Auschwitz Lüge“ von Thies Christophersen vehement mit seinem Wissen über Auschwitz gegen Holocaustleugner eingesetzt habe, die auch den Weg in diesen Prozesssaal fanden. Sie geht auf den Sinn und Zweck von Strafe ein, da weder ein generalpräventiver Aspekt noch der der Resozialisierung zum Tragen käme, wäre der restliche Strafzweck rein der der Vergeltung. Eine ausschließliche Vergeltungsstrafe sei jedoch unzulässig. Die Forderung nach Straffreiheit durch Hinzuziehen der als verbüßt geltenden drei Jahre wurde des weiteren durch sie mit folgenden Argumenten begründet: Jede Haftstrafe könnte für den Angeklagten mit lebenslänglich gleichzusetzen sein, dies bezieht sie auf das zweite Argument der „Strafempfindlichkeit“ des Angeklagten aufgrund seines hohen Alters. Neben der von ihr als 37 Jahre fortwährenden Verfahrensverzögerung (!) nennt sie als weitere Belastungsmerkmale für ihren Mandanten die hohe Medienpräsenz und forderte die Achtung der Persönlichkeitsrechte für ihn.

In Bezug auf den Fall Demjanjuk verwies sie darauf, dass dieses Verfahren anders gelagert war, da Sobibor wie auch Treblinka und Belzec im Rahmen der Aktion Reinhardt als reine Vernichtungslager und ausschließlich zu diesem Zweck geschaffen wurden. Zuletzt nahm sie sogar die Aussage der Überlebenden als Teil ihrer Verteidigungsstrategie mit auf, indem sie benannte, dass diese mehrfach angaben, nicht ums Strafmaß, sondern ums Urteil ginge es ihnen.

Wir stellen fest: Jeder hat das Grundrecht auf Verteidigung, so auch der Angeklagte und dies nach besten Möglichkeiten für ihren Mandanten umzusetzen, gehört zur Aufgabe der Verteidigung. Ebenso hat die Verteidigung sich im Prozessverlauf durch einen würdigen und respektvollen Umgang mit den Überlebenden und Angehörigen ausgezeichnet. Dies erfolgte alles in einem diesem Prozess angemessenen Rahmen. Die von Frau Frangenberg nun jedoch im Kontext ihrer Verteidigungsrede gebrauchten Argumente, Mittel, strategischen Coups stießen bei zahlreichen Prozessbesucher*innen auf starke Gegenreaktion, die in den Gesprächen vor dem Gericht deutlich wurden. Sofern die Zuschauer*innen Worte dafür finden konnten, reichten die Beschreibungen der Reaktionen auf das letzte Plädoyer und wie es empfunden wurde von empörend,erschütternd, beschämend, geschmacklos, grotesk. Was bei vielen Beteiligten der kleinen Gesprächsgruppen vor dem Gerichtsgebäude jedoch vernommen werden konnte, war durchgängig die eine Bezeichnung: zynisch.Es wurde als solch geballter Zynismus wahrgenommen, dass vielen dazu zunächst die Sprache verschlug.

Nun sind alle Schlussplädoyers gehalten und es ist an dem Angeklagten, die Möglichkeit zu nutzen, das letzte Wort zu sprechen, bevor das Gericht über das Urteil berät. Es vergehen einige Momente, die durch Gestikulieren zwischen den Verteidigern und dem Angeklagten gekennzeichnet sind. Durch mehrfaches Kopfschütteln der Beteiligten,abwinkenden Gesten untereinander und dem Verschieben des Mikrophons,schien es uns zunächst, als werde es kein letztes Wort geben und der Angeklagte dies verkünden, als sein Anwalt Herr Holtermann ihm das Mikrophon zu schob mit dem Hinweis, dies müsse er selbst sagen. Statt dem Ausschlagen der Möglichkeit von letzten Worten hörten wir dann jedoch die Stimme des Angeklagten, das erste Wort war trotz derbrüchigen Stimme für alle Anwesenden laut zu hören und füllte den Raum: Auschwitz. Der Angeklagte sprach sehr langsam und schien bei jedem Wort mit der Fassung zu ringen: „Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte. Das haben wir hier gehört, das ist mir bewusst. Ich bereue aufrichtig, dass ich diese Erkenntnis nicht früher umgesetzt habe. Das tut mir aufrichtig leid.“

Es war zwar ein kurzer, aber wichtiger Beitrag, dies nicht nur in Bezug auf den Inhalt, auf das, was der Angeklagte sagte, sondern wie. Wie schwer es ihm fiel, diese Sätze zu Ende zu sprechen und zwar nicht, weil es ihm widerstreben würde, sondern das genaue Gegenteil. Es war eine authentische Aussage, für uns die erste wahrnehmbare menschliche Regung,dafür aber sehr deutlich. Das Ringen um Fassung, das Ringen mit sich, das für alle offensichtliche stark emotional Berührtsein durch die Aussagen der Überlebenden und dem Erkennen und Anerkennen der eigenen Verantwortung des Beitrags an diesem Schrecken – wir hatten zum erstenmal den Eindruck, dass es ihn erreicht hat und dass die Anwesenden seine Worte als die seinen erreicht hat. Fast drei Monate blieb jede erkennbare menschliche Regung aus.

Dieser kurze Beitrag war viel bedeutsamer als das seitenlange Vortragen einer Erklärung durch seine Verteidigerin Frau Frangenberg, wodurch für uns das verlesene Wort und deren Bedeutung eine nur noch größere Distanz zu dem Angeklagten hergestellt wurde. Es war sehr schade, dass in diesem Moment keine Nebenkläger*innen, keineÜberlebenden oder ihre Angehörigen anwesend waren, da sie so lange auf eine solche Aussage, aber vielleicht auch genau auf ein erkennbaresZeichen gewartet haben, was die vom Angeklagten zu Beginn formulierte „Reue und Demut“ irgendwie erkennbar, greifbar macht.

Abschließend beendete der Vorsitzende Richter Kompisch den vorletztenVerhandlungstag mit dem Hinweis, dass am morgigen Mittwoch um 9:30 Uhr die Urteilsverkündung erfolgen wird.

Mittwoch, 15.07.2015 Tag 17

Das Medieninteresse am letzten Verhandlungstag war aufgrund der angekündigten Urteilsverkündung entsprechend groß, ebenso die Zahl der interessierten Besucher*innen. Neonazis sind nicht wie am ersten Verhandlungstag aufgetreten.

Da die Urteilsverkündung doch sehr rasch auf die Plädoyers folgte, war es den Nebenkläger*innen nicht möglich, anwesend zu sein. Dennoch war mit Herrn Leon Schwarzbaum ein Überlebender von Auschwitz anwesend, um die Urteilsverkündung mitzuerleben. Er ist kein Nebenkläger in dem Verfahren, da die Anklage sich auf die sog. „Ungarn Aktion“ und die in dieser kurzen Zeit von 57 Tagen 300.000 ermordeten Jüdinnen und Juden aus Ungarn bezieht. Leon Schwarzbaum wurde nicht in diesem Zeitraum, sondern bereits 1943 nach Auschwitz verschleppt, aber er war zwei Jahre in diesem Vernichtungslager, hat 30 Familienangehörige verloren, die dort vergast, ermordet wurden.

Herr Schwarzbaum ist 94 Jahre alt, also genauso alt wie der Angeklagte. Geboren 1921 in Hamburg Altona, zog er zwei Jahre später mit seiner Familie in die oberschlesische Kleinstadt Bendzin, damals eine der größten jüdischen Gemeinden Polens. Nach der Besetzung Polens durch die Wehrmacht 1939 wurden die jüdischen Familien in Polen verfolgt und in Ghettos verschleppt, so auch seine Familie. 1943 wurden sie von dort nach Auschwitz deportiert. Er überlebte Auschwitz, Buchenwald, Sachsenhausen und den Todesmarsch von Sachsenhausen nach Schwerin. Kurz vor Schwerin erlebt er die Befreiung durch die US-amerikanische Armee, er war der einzige Überlebende seiner großen Familie.

Es war sehr wertvoll, dass Herr Schwarzbaum als Überlebender von Auschwitz bei diesem historischen Prozess und der Urteilsverkündunganwesend war. Im Gerichtssaal ging er bis an die vorderste Absperrung, um den Angeklagten direkt zu sehen. Dies, wie auch seine Bewertungen zum Prozess und dem Urteil sind hier festgehalten:

www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hallo_niedersachsen/Auschwitz-Prozess-Vier-Jahre-Haft-fuer-Groening,hallonds28076.html

Um 9:45 Uhr verkündet der Vorsitzende Richter Kompisch das Urteil. Im Namen des Volkes erklärt er: Die Strafkammer des Landgerichts Lüneburg spricht den Angeklagten Oskar Gröning der Beihilfe zu Mord in 300.000 Fällen für schuldig. Das Strafmaß beträgt vier Jahre Freiheitsstrafe.

Nun war es also beschlossen und verkündet: schuldig. Kein Freispruch, keine Anwendung der Kompensationsregel, schuldig für die Förderung der Haupttat, die wie auch ihre Beihilfe nie verjährt: Mord! Der von dem Vertreter der Nebenklage, Rechtsanwalt Nestler, benannte Satz, dem sich auch der Angeklagte gestern anschloss: „Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte“ wurde durch die Feststellung des Richters Kompisch mit Nachdruck bekräftigt, indem er verdeutlicht:„Auschwitz war eine insgesamt auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie“.

Dieser Satz als zentraler Bestandteil eines Schuldspruchs gegen einen ehemaligen SS Mann, der in Auschwitz Dienst tat, ist von immenser Relevanz, da klar benannt wird, dass jede Tätigkeit in Auschwitz den Massenmord förderte und sich somit Tausende der Beihilfe zum Massenmord schuldig gemacht haben, die sich nie vor einem deutschen Gericht verantworten mussten.

Wir erinnern uns an das Bild, dass Herr Nestler in der Vorwoche auf warf: „Stellen Sie sich Auschwitz ohne die SS vor!“. Allen Zuhörenden und vielleicht auch jetzt Lesenden tat sich ein Bild auf, dass sofort verdeutlicht: Es hätte nicht „funktioniert“, jeder einzelne mit seiner

ihm zugeteilten Tätigkeit war wichtig dafür, dass die Maschinerie in Gesamtheit reibungslos lief. Und in der Konsequenz eben auch verantwortlich dafür, dass sie es tat sowie verantwortlich für die Förderung des Ergebnisses: Massenmord.

Herr Kompisch trägt in mehr als einer Stunde sehr ausführlich und eindringlich die Begründung des Urteils vor, die wir hiermit nachzeichnen wollen, soweit uns dies möglich ist: Er beginnt in der Vorrede der Komplexität der Frage nachzugehen, wie man gerecht werden soll – dies bezieht er auf alle Prozessbeteiligten: „Wie werden wir den Opfern gerecht, deren Leidensgeschichten wir hier gehört haben? Wie werden wir dem Angeklagten gerecht, einem 94 Jahre alten Mann, dessen Taten wir in den letzten drei Monaten versucht haben, aufzuklären? Wie wird man den weiteren Beteiligten gerecht, der Presse, der Öffentlichkeit, nicht zuletzt der Staatsanwaltschaft? All diese Umstände waren abzuwägen und sind schließlich in dieses Urteil gemündet.“ Er zeigt auf, dass dieser Prozess auch für ihn und seine Kollegen Anstoß war, über sich und ihren Beruf nachzudenken. Sie bewegen sich nicht in einem Elfenbeinturm, sondern bekommen sehr wohl mit, welche Diskurse sich außerhalb dieses Gerichtssaals abspielen, dieses Verfahren und die Auseinandersetzung damit haben auch zu einer Veränderung ihrer Gedankenwelt geführt. Wie verhält man sich zur Geschichte der deutschen Justiz? Er zeigt auf, dass sie nicht den Stab über das Verhalten ehemaliger Kollegen brechen, wie sie damals gehandelt haben, aber dennoch: mit dem Verweis auf die vorangegangene Zeit und die darin erfolgten Versäumnisse, die gegenwärtige Zeit und die Debatten über die Sinnhaftigkeit eines solchen Prozesses stellt er fest: „Muss das sein? Nach 70 Jahren? Ja! Kann man nach 70 Jahren ein juristisches Urteil finden? Man kann und man muss es auch. Mord verjährt nicht“. Gleichermaßen hebt er die Feststellung hervor, die bereits zu Beginn dieses Prozesses genannt wurde: „Es ist und bleibt ein Strafprozess, bei dem es um die Taten Oskar Grönings geht“ und leitet in die eigentliche Urteilsbegründung über mit den Worten: „Wir sind in diesem Prozess in eine andere Zeit abgetaucht. Jetzt tauchen wir erneut gemeinsam ab“ und beginnt mit dem Aufzeigen der Biographie des Angeklagten, wie er es selbst schon am ersten Verhandlungstag schilderte. Der Unterschied hierbei: während der Angeklagte die Angaben seiner Sozialisierung wie eine erklärende Rechtfertigung für sein Handeln und die dem zugrunde liegende Biographie schilderte, schreitet Herr Kompisch jede einzelne biographische Sequenz des Angeklagten mit dem Aufzeigen von Optionen ab, die er nicht wahrgenommen hat.

Es beginnt mit der Erziehung im Elternhaus, wo der Angeklagte durch seinen Vater eine nationalbetonte und kaisertreue Prägung erfuhr. Der Richter verdeutlicht, dass dies keine Grundlage für eine von Rassenwahn getriebene Haltung sein muss. Er bezieht sich auf die Aussagen von Eva Pusztai–Fahidi, die am vierten Verhandlungstag vor Gericht als Überlebende von Auschwitz aussagte. Wie sie sich an die Geschehnisse erinnert, als sie und ihre Familie aus ihrem Haus gerissen wurden, um in ein Ghetto gepfercht zu werden. Ihr Vater, der dies alles nicht verstehen konnte, da er im ersten Weltkrieg gekämpft hat und dies durch das Vorzeigen der Soldatenuniform der österreichisch–ungarischen Armee belegen wollte. Auch der Vater von Frau Pusztai–Fahidi verstand sich als kaisertreu. „Eine kaisertreue Gesinnung hatten auch viele Vorfahren der Überlebenden“ hebt der Richter hervor und macht deutlich: „Eine solche Erziehung muss nicht zwangsläufig nach Auschwitz führen“. Auch Frau Puzstai–Fahidi gab an, wie sehr sie die Musik Wagners und deutsche Gedichte liebte, nichts von all dem hat einen Automatismus, der in die Barbarei führt.

Er kommt zu der Feststellung, die die gesamte Biographie des Angeklagten durchzieht: „Es war ihre Entscheidung, in der sie nicht unfrei waren. Es ist nicht so, dass sie keine Wahl hatten“. Der Angeklagte selbst gab zu Beginn des Prozesses an, dass und warum er sich freiwillig zur SS meldete. Er benannte das „zackige und schneidige“ Auftreten der Truppe, das ihm imponierte und die Schnelligkeit, in der sie Polen besetzten (der Angeklagte verwendete hierfür andere Worte). Er wollte dazugehören und gab an, nicht zu wissen, was die SS eigentlich tat. Dies glaubt ihm Richter Kompisch nicht und das war auch zu Beginn des Prozesses in der Befragung durch die weiteren Richter deutlich geworden und sie kommen zu dem Schluss, dass der Angeklagte dazugehören wollte, um nach dem siegreichen Krieg auf der Gewinnerseite zu stehen, wobei ihm die Grundlage der Ideologie und des Handelns, dass die SS ausmachte, sehr wohl bekannt war und er dies auch zu Beginn seiner ersten Einlassung benannte, so z. B. In Bezug auf die Vernichtungspläne gegenüber den Juden. Herr Kompisch zeigt auf, dass der Angeklagte ein normaler Mensch war, er hatte seine Ausbildung zum Sparkassenkaufmann abgeschlossen, hatte kulturelle Interessen, Kontakt zu Menschen, er hätte sich ganz anders entscheiden können, aber er wollte dabei sein. Es war seine freie und überzeugte Entscheidung, mitzumachen. Nach seinen 1,5 Jahren Dienst in Dachau wurde der Angeklagte nach Berlin berufen, um dort eine Verschwiegenheitsverpflichtung zu unterschreiben, in dem Zusammenhang wurde ihm übermittelt, er habe eine Aufgabe, einen Auftrag zu erfüllen, der so hart wird wie an der Front, der aber ebenso wichtig sei wie der Dienst an der Front für den Sieg, den Endsieg – Er kam nach Auschwitz. Seine damalige Denkweise zum Krieg, zum Kampf und wer denn der Feind sei, den es zu bekämpfen gelte, sagte der Angeklagte zuvor aus: „Wenn die Juden unsere Feinde sind, ist es Teil des Krieges, dass sie erschossen werden.“ Der Richter spricht den Angeklagte während der Urteilsbegründung mehrfach persönlich an, so auch jetzt, indem er aufzeigt, dass die Juden in Ungarn überhaupt nichts mit dem Kriegsgeschehen zu tun hatten, es waren unschuldige Menschen, die innerhalb kürzester Zeit entrechtet, verschleppt, ermordet wurden, zu hunderttausenden nur aus dem Grund, weil sie Juden waren. Dass dies erfolgte, wusste der Angeklagte bereits kurz nach seiner Ankunft. Das war 1942, die sog. „Ungarn Aktion“ war im Sommer 1944. Auf diesen Zeitraum (der sog. „Ungarn Aktion“) ist die Anklage beschränkt, aber es verdeutlicht, wie lange der Angeklagte zuvor bereits wusste, dass und wie die jüdischen Menschen in Auschwitz umgebracht werden. Der Richter spannt den Bogen von der Person des Angeklagten zu seiner Relevanz als „Rad im Getriebe“ der Mordmaschinerie von Auschwitz. So wie er zuvor aufgrund seiner Bildung und seiner beruflichen Fähigkeiten in Dachau gebraucht wurde, wurde er nun in Auschwitz benötigt: „Sie wurden genau dafür gebraucht. Den Vernichtungsapparat konnte man nicht nur mit Leuten betreiben, denen jegliche Bildung fehlt, die nur Sadismus ausleben wollten. Deshalb hat man Sie im Herbst 1942, als der Krieg für Deutschland in eine schlechte Richtung lief, nicht an die Front sondern nach Auschwitz geschickt.“ Die Einbindung solcher Menschen war wichtig für das Gesamtkonzept der SS und Auschwitz. Herr Kompisch zeigt auf, wie die Struktur und Organisation in Auschwitz aufgebaut war: mit der Gliederung wie der einer Behörde, mit vordergründig unverfänglichen Namen, minder schwere Bezeichnungen der Einheiten wie „Verwaltungsstelle“ oder „Häftlingsgeldverwaltung“. Laut Kompisch zielte dies schon von Beginn an darauf, dass durch die Arbeitsteilung („Atomisierung“) sich niemand vollständig verantwortlich für den gesamten Vernichtungskomplex fühlte.

Auschwitz war kein Ort, an dem man mitmachen durfte“, auf dieses Zitat von Herrn Nestler bezieht der Richter sich, wenn er weiter ausführt, dass wenn dies für die dort Beteiligten (so auch der Angeklagte) deutlich würde, sie sich auf ihre Verantwortung für ihren einzelnen kleinen Arbeitsbereich zurückziehen. Darauf war die Arbeitsteilung in Auschwitz angelegt, dies erleichterte ein Wegschieben der eigenen Verantwortung für das Grauen, dass durch das eigene Handeln gefördert wurde, er spricht von einer „Zerstückelung des Tötungsvorgangs“ und hebt hervor: „Niemand sollte für alles verantwortlich sein. Die Organisation der SS hatte dies so vorgesehen. Nur so konnte man sich einreden: Ich bin auf einer Stelle eingesetzt, in der ich nicht direkt töte. Dort waren Sie, Herr Gröning, drin.“ Eben jene Atomisierung der Vernichtungsmaschinerie greift Richter Kompisch wieder auf und an, indem er die Argumentation der deutschen Justiz kritisiert, die diese Arbeitsteilung für die Bewertung der Schuld von SS Männern in Auschwitz zugrundelegte. Es wurde nur jener für Schuldig befunden, dem eine konkrete und direkte Beteiligung an Mordhandlungen nachgewiesen werden konnte, Auschwitz in seiner Gesamtheit als auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie wurde nicht wie heute als Bewertungsgrundlage genommen.

Der Richter zeigt auf, wodurch er bzw. die Kammer den Straftatbestand der Beihilfe zum Mord erwiesen sieht. Hierzu geht es zunächst um die Betrachtung der Haupttat: Mord. Dies ist durch die beiden MerkmaleHeimtücke und Grausamkeit gekennzeichnet. Herr Kompisch zeigt die perfide und perfekt inszenierte Täuschungskette auf, die aufgebaut wurde, um die deportierten Juden arg- und wehrlos bis zu ihrem Tod in die Gaskammern zu führen. Beginnend bei den fingierten Postkarten, die den jüdischen Familien zugesandt wurden, die einen Aufenthalt auf Farmland vortäuschten und den Eindruck vermitteln sollten, es gäbe Arbeit, Essen, es gehe den Menschen dort gut. Verknüpft mit dem Appell, doch auch dorthin zu kommen. Die „Abholung“ der Menschen zu Hause mit dem Verweis, sie könnten Gepäck mitnehmen. Es ist dem Richter anzumerken, wie erschüttert er selbst von dem Vorgehen ist, als er Bezug nimmt auf die Ausführungen der Nebenklägerin Susan Pollack, die vor diesem Gericht als Zeugin, als Überlebende aussagte, dass sie ihre Singer–Nähmaschine einpackte, da sie glaubte, damit ihre Familie ernähren zu können.

Herr Kompisch hält fast die komplette Urteilsbegründung frei und führt hierbei die Argumente der Kammer sehr klar und eindringlich aus. In dem eben beschriebenen Moment hält jedoch auch er kurz inne und atmet tief durch, um das Unbeschreibliche zu beschreiben. Es folgt die Auflistung des bis ins kleinste Detail organisierten und inszenierten Scheins seit Ankunft an der Rampe, um die Menschen in (trügerischer) Sicherheit zu wiegen: Die Angabe, sie erhalten ihr Gepäck später wieder, die Schilder an den Gebäuden, die die Menschen glauben ließen, sie würden sich in Duschräume begeben, wo selbst die Duschköpfe, aus denen nie Wasser kam, perforiert wurden, damit den Menschen nicht sofort auffiel, dass sie getäuscht wurden. Der Richter führt aus: „Ein besseres Beispiel als das, was wir hier erlebt haben – der Hinweis an die Deportierten: ,Geht duschen‘ – gibt es nicht. Die Menschen sind völlig wehrlos und ahnungslos in den Tod gegangen“.Und er setzt den Angeklagten in Bezug zu dem Geschehen, indem er dessen Argument, an der Rampe ja „nur“ das Gepäck der Menschen bewacht zu haben als integrierten wichtigen Teil der Täuschung aufzeigt: Durch seine Anwesenheit und das Bewachen haben die Deportierten den falschen Angaben Glauben geschenkt, sie erhielten ihre Habe später zurück, schließlich sahen sie, dass darauf aufgepasst wurde. Erneut spricht der Richter den Angeklagten direkt an, auf sein Herunterspielen der eigenen Tätigkeitund damit zusammenhängend der eigenen Verantwortung für sein Handeln und setzt ihn nicht nur ihn Bezug auf seine Rolle an der Rampe, sondernspannt den Bogen bis in den heutigen Gerichtssaal, indem er anführt:„Herr Gröning, schauen sie sich um, hier sind so viele Menschenanwesend, wollen Sie uns wirklich erzählen, dass Sie das Leid nichtgesehen haben? Selbst das, Herr Gröning, wäre für eine Verurteilung ausreichend. Auch die Gepäckbewachung stellte den reibungslosen Ablaufsicher“. Deutliche Worte, die der Vorsitzende Richter auch im weiteren Verlauf seiner Ausführungen findet. Er beschreibt die Verwirklichung des zweiten Mordmerkmals: Grausamkeit. Hierzu zählt maßgeblich die Art, die Durchführung des Umbringens. Das Morden durch Zyklon B, auf dessenWirkungsweise auf den menschlichen Organismus der sachverständige Rechtsmediziner in seinen Ausführungen ausführlich eingegangen ist. Gesteigert noch durch den Ablauf, dass das freigesetzte Giftgas leichter als Sauerstoff ist und nach oben steigt, Herr Kompisch benennt die Konsequenz: „Durch das Giftgas starben die Erwachsenen zuerst, die Kinder erst später. Das weiß Herr Gröning. Deshalb hat er sich schuldig gemacht der Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen.“ Ebenso führt der Richter den dreitägigen Transport in Viehwaggons, mit bis zu 80, 90 Menschen pro Waggon überfüllt als grausames Merkmal an, es stellt sogareine Schnittstelle dar, in der Grausamkeit und Heimtücke so perfektineinander greifen: Die Menschen, die den Transport überstanden haben,waren komplett erschöpft, körperlich am Ende ihrer Kräfte. Der Transport selbst wird von der Kammer als zusätzlicher Beleg für die Grausamkeit bewertet, die von Vornherein auf die Vernichtung dieser Menschen zielte. Diesen vollkommen erschöpften Menschen dann aufzuzeigen, sich in die Duschen zu begeben mit dem Wissen, dass das Bedürfnis nach Waschen und erfrischendem Wasser groß sein muss, stellt eine zugespitzte Symbiose der Mordmerkmale Heimtücke und Grausamkeit dar.

Die Haupttat Mord ist benannt und begründet. Beihilfe stellt jede Förderung der Haupttat dar (Hilfestellung physischer sowie psychischer Art). Die Förderung der Haupttat ist durch das Handeln des Angeklagten für die Kammer unbestritten und belegt. Dies sowohl durch seine Tätigkeit an der Rampe, von der der Richter angibt, dass es für die Bewertung unerheblich ist, ob er zwei bis dreimal oder öfter Dienst getan hat. Er hat es getan und er hat gewusst, was mit den Menschen geschieht, die abgeführt werden und wie wichtig sein Handeln für das „Funktionieren“ der Mordmaschinerie war: „Für die Vernichtung der ungarischen Juden wurden Spezialisten zusammengezogen. Herr Grönings Aufgabe war: Ordnung halten. Das förderte die Erleichterung des Tötungsvorgangs.“ Ebenso seine Tätigkeit in der HGV zählt der Richter als Förderung auf, da das Geld sortieren, zählen und Verbringen nach Berlin der Finanzierung der Haupttat diente.

Ein weiteres mal spricht der Richter den Angeklagten persönlich an und nimmt Bezug auf sein Selbstbild als „Kleines Rädchen“: „Was Sie, Herr Gröning, als moralische Schuld ansehen, als Rad im Getriebe darstellen, ist genau das, was der Gesetzgeber als Beihilfe ansieht: das Fördern der Haupttat“.

Der Richter geht auf die Auseinandersetzung der verschiedenen Sichtweisen der Prozessbeteiligten ein, die Angaben des Angeklagten bzgl. seiner Versetzungsgesuche zu bewerten und stellt dies in den Kontext des Angeklagten und seiner jeweiligen präferierten Aufenthaltsoption: Als er nach Auschwitz berufen wurde, begann sich die Kriegssituation für die Wehrmacht bereits zu wandeln. Von Beginn seines Aufenthaltes in Auschwitz an wusste er, was mit den jüdischen Menschen dort geschieht. Sein vielfach vorgebrachtes Beispiel der moralischen Erschütterung durch den Anblick der grausamen Erschlagung eines Babys hat ihn nicht dazu gebracht, seinem genannten Versetzungswunsch Nachdruck zu verleihen. Auch als sein Bruder an der Front stirbt und er seine vorherige Verlobte heiratet, um „die Blutslinie“ aufrecht zu halten, kehrt er nach dem dreiwöchigen Urlaub nach Auschwitz zurück. Er habe sich für das Weitermachen entschieden, stellt Richter Kompisch fest. Wir erinnern uns an die Eingangsworte der Urteilsbegründung, der Richter zeigt jeweils die Wahlmöglichkeiten des Angeklagten auf und macht deutlich, dass es seine freien Entscheidungen waren, die seinen Weg bestimmten. Die Einberufung an die Front erfolgte erst, als die Massenvernichtung in Auschwitz wie die sog. „Ungarn Aktion“ beendet war, er wurde dann an der Front gebraucht. Hätte er sich wirklich früher aus Auschwitz an die Front versetzen lassen wollen, wäre dies durch seine als kriegsverwendungsfähig und abkömmlich bezeichnete Rolle möglich gewesen. Das Kriegsgeschehen hatte sich jedoch schon längst zu Ungunsten der deutschen Wehrmacht gewendet, die Zahlen der Gefallenen stiegen stetig an, dies hatte nichts mehr mit dem vom Angeklagten glorifizierten Siegeszug zu tun. Erneut findet der Richter deutliche Worte, indem er dem Angeklagten mitteilt, er wolle ihn nicht als feige bezeichnen, aber er habe sich für den einfacheren Weg entschieden, den Ort des sicheren Schreibtisches in Auschwitz. Gleichermaßen hebt er hervor, dass der Angeklagte sich nicht wie so viele hinter dem Argument des Befehlsnotstandes zurückzog, sondern keiner so treffende Worte wie der Angeklagte selbst für sein Handeln wählte: Er war der Bequemlichkeit des Gehorsams verhaftet, das stellt eine ehrliche Betrachtung und Benennung dar, wie es sie sonst nicht gibt. Durch den Verweis auf die Bequemlichkeit rückt das eigene Handeln in den Fokus, die eigene Motivationslage und nicht der Befehl als externer Zurichtungsmotor. Also wieder eine selbst getroffene Entscheidung.

Der Richter geht ebenso auf die Geschichte der deutschen Justiz mit NS–Verbrechen und die daran beteiligten Personen ein. Gab es zu Beginn nach Kriegsende die bekannten Kriegsverbrecherprozesse der Alliierten in Nürnberg, ebenso schon zuvor den Bergen Belsen Prozess in Lüneburg und weitere, so wurde danach die Gerichtsbarkeit an die deutsche Justiz abgegeben und dann passierte recht wenig. Die 1960er Jahre hingegen bezeichnet Herr Kompisch als „Hochzeit der Prozesse“ und verdeutlicht, was nicht oft genug betont werden kann: die rechtliche Grundlage hat sich seitdem nicht geändert, sowohl was die Mordmerkmale wie auch die Beihilfe dazu betrifft. Als Beleg führt er an, dass bis in die 1960er Jahre Verurteilungen wegen Beihilfe zum Mord aufgrund der Tätigkeit in Konzentrationslagern erfolgten. Doch dann wurde eine Phase eingeleitet, die er und mit ihm die Kammer als „merkwürdige Rechtsprechung“ bezeichnet. Gerade das Ergebnis des Auschwitz Prozesses in Frankfurt, der gegen großen Widerstand innerhalb des Justizsektors zur Anklage gebracht wurde, führte zu dieser Haltung, dieser „merkwürdigen Rechtsprechung“. Die Intention Fritz Bauers war klar, er verfolgte eine Rechtsprechung, wie sie durch die Rechtsgrundlage schon immer zu bewerten möglich war und in Lüneburg umgesetzt wurde: Auschwitz in seiner Gesamtheit als eine auf die Tötung von Menschen gerichtete Maschine zu bewerten, in der jeder Tätige sich durch seinen Beitrag schuldig macht. Statt dessen orientierte die Rechtsprechung sich an der bereits beschriebenen Atomisierung der Arbeitsbereiche analog zu dem, wie sie von den Nazis im Vernichtungslager angelegt waren mit der Konsequenz, dass nur durch direkt nachweisbare Tatbeteiligung an einem konkreten Mord ein Schuldspruch erfolgt, nicht aber durch Beitrag am Gesamtkomplex. Das Ergebnis dieser Bewertungsmaßstäbe war nachhaltig und führte nicht nur kaum zu Verurteilungen, sondern vor allem kaum zu Anklagen. Das Argument, über 6000 Ermittlungsverfahren und ggf. daraus abgeleitete Anklagen stelle ein zu großes Ausmaß dar, stößt bei Richter Kompisch auf Unverständnis, indem er verdeutlicht: „Es sind 6500 Menschen bekannt, die in Auschwitz Dienst taten. 49 wurden verurteilt. Das ist nicht viel. Zum Vergleich: Die Staatsanwaltschaft Lüneburg hat im Jahr 30.000 Verfahren zu führen. Das Personal aus Auschwitz ätte also ein Viertel des Jahrespensums einer mittelgroßen Staatsanwaltschaft ausgemacht. Das ist nicht so viel, dass man es nicht hätte schaffen können.“

Auch auf die vom Verteidiger Holtermann in seinem gestrigen Plädoyer aufgeworfene Frage, ob man auch den Lokführer, der die Transporte der Deportierten nach Auschwitz fuhr, anklagen und verurteilen hätte müssen, findet der Richter eine eindeutige Antwort: Wenn er gewusst hat, was mit den Menschen in Auschwitz passiert und davon kann man ausgehen, den es fuhren nur leere Transporter wieder heraus, die Menschen sind allein während der sog. „Ungarn Aktion“ zu hunderttausenden dorthin und nie wieder von dort weggefahren worden, wenn der Lokführer also von dem Schicksal der Menschen wusste, in das er sie fuhr, dann hätte es nach Auffassung von Richter Kompisch auf jeden Fall eine Anklage und auch Verurteilung wegen Beihilfe zu Mord erfolgen müssen. Jedes Rad der Maschine war wichtig für das Funktionieren, für den reibungslosen Ablauf in Gesamtheit.

Einmal mehr wird deutlich, dass es weniger bis eher gar nicht an fehlender rechtlicher Handhabe oder den Möglichkeiten der Kapazitäten, sondern vielmehr am Willen mangelte, diese Verfahren zu führen. Diesführte in der Rechtspraxis dazu, dass fast nur noch „Exzess Taten“ verhandelt und verurteilt wurden, darunter fasst er auch das Verfahren gegen Weise in den 1980er Jahren. In dem Zusammenhang nimmt Herr Kompisch auch Bezug zu den Ausführungen der Verteidigung, ihr Mandant stand unter der Belastung einer 37 Jahre währenden rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und habe in seiner Rolle als formell Beschuldigter gegen ehemalige Kameraden ausgesagt und somit zur Aufklärung beigetragen. Beide Aspekte weißt der Richter mit einer Klarheit zurück, die bei vielen Zuhörenden innerlich auf große Zustimmung stößt, da die Empörung über die Ausführungen in den Plädoyers der Verteidigung gerade einen Tag alt und somit kaum gewichen war. Der Angeklagte war im Weise Prozess kein Beschuldigter gemäß § 46 StGB, er habe auch nicht wesentlich wie von der Verteidigung behauptet, zur Aufklärung beigetragen. Dies sei den Gerichtsunterlagen deutlich zu entnehmen. Eine Verfahrensverzögerung liege ebenso nicht vor, es erfolgte keine Verurteilung, sondern eine absehbare Einstellung, eine Belastung des Angeklagten sei während der Zeit nicht gegeben gewesen, dies habe er selbst dem Gericht durch Nichtkenntnis seines Beschuldigtseins verdeutlicht. Herr Kompisch verweist auf das Selbstverständnis des Angeklagten, dass er in öffentlichen Äußerungen in den Jahren zuvor angibt und von dem sich der nicht gegebene Belastungszustand ableiten ließe: „Juristisch bin ich nicht schuldig geworden“ habe der Angeklagte 2005 im Spiegel Interview angegeben. Diese deutliche Zurückweisung der Forderung nach Kompensationslösung und somit Zurückweisung von Strafmilderung für den Angeklagten aufgrund der jahrzehntelangen Versäumnisse der Justiz stellte einen wichtigen von vielen klaren Standpunkten der Urteilsbegründung dar, auf die zunehmend mehr Nicken im Publikum erfolgte.

Abschließend spricht der Vorsitzende Richter den Angeklagten erneut direkt an, indem er ihm Respekt zollt dafür, dass und wie er sich dem Prozess stellt und diese Verhandlung durchgestanden hat: Er hat im Gegensatz zu anderen früheren Angeklagten ausgesagt, was war und dies mit ehrlichen Worten, die teilweise kaum zu ertragen waren: „Das Geständnis wiegt schwer. Der Angeklagte hat sich nicht versteckt, er hat sich dem Verfahren gestellt. Er hat sich mit dem Geschehen auseinandergesetzt. Es waren ehrliche Worte, die der Angeklagte wählte, auch wenn sie für die Opfer hart klangen“. Gerade das jedoch unterscheidet ihn von so vielen anderen, die wegen NS-Verbrechen angeklagt waren. Er benutzt die Sprache, die den SS Jargon im Gerichtssaal verbreitete. Gerade dies jedoch war wichtig, um einen Einblick in die Denkweise des Angeklagten zu erhalten. Die Denkweise, die herrschte, als er in Auschwitz Dienst tat und die sich in seiner Sprache, für die er sich später bei der Überlebenden entschuldigte, so ungefiltert Bahn brach. Ebenso hebt Herr Kompisch hervor, dass der Prozessverlauf den Angeklagten sichtbar gezeichnet hat, er unter dem Gesagten gelitten hat und ihm dies auch anzusehen sei. Als weiteren Aspekt, der bei der Strafmaßbemessung zu berücksichtigen sei, nennt er die „Strafempfindlichkeit“ des Angeklagten aufgrund seines hohen Alters. Es bestehe eine nicht unwesentliche Wahrscheinlichkeit, dass er das Strafende nicht erleben werde, aber aufgrund der Dimension des Verbrechens war kein niedrigeres Strafmaß möglich: „Es ist ein unfassbares Verbrechen. Sie waren bei der gesamten Ungarn-Aktion dabei, auch vorher schon dort. Das musste einbezogen werden. Wir konnten nicht am unteren Rand des Strafrahmens bleiben“.

Herr Kompisch bezieht sich auch direkt auf die Auswirkungen der Schrecken von Auschwitz auf die Überlebenden, indem er Balzac zitiert: „Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich“, dies ergänzt er durch den Bezug zu den Ausführungen der Nebenkläger*innen, die das Leid nicht vergessen konnten, es hat sie ihr ganzes Leben begleitet. Er hofft, dass durch dieses Verfahren und das Urteil die Überlebenden ein wenig inneren Frieden finden können.

Abschließend wendet sich der Richter ein letztes mal dem Angeklagten zu: „Herr Gröning, Ich hege die Hoffnung, dass Sie mit dieser Entscheidung auch für sich einen Schlussstrich ziehen können. Ob Sie in Haft müssen, können wir nicht prognostizieren. Ich hoffe aber, dass diese Strafe ein wenig von dem vorweg nimmt, was Sie vom Herrgott erfahren wollten.“

Damit endet die Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters und für uns war nicht nur das Urteil an sich, sondern auch die 90minütigen Ausführungen von großer Bedeutung und Bestätigung der jahrelangen Anstrengungen der Nebenkläger*innen und ihrer Anwälte, diesen Prozess zu führen.

Wir erinnern uns an die Worte von Eva Puzstai–Fahidi, die von Beginn an erklärte: „Es geht mir nicht um die Strafe, es geht mir um das Urteil, die Stellungnahme der Gesellschaft“. Über das Strafmaß gehen die Meinungen auseinander, auch unter den Nebenkläger*innen, aber einig ist man sich in der Relevanz eines Schuldspruchs, der ist nun da.

Wir möchten unsere Dokumentation mit dem Verweis auf die Presseerklärung (eines Großteils) der Nebenkläger*innen enden, in der sie ausführen: „SS-Angehörige wie Gröning, die bei der Ermordung unserer Familien mitgewirkt haben, haben uns lebenslanges und unerträgliches Leid zugefügt. Weder das Strafverfahren noch die Worte des Angeklagten können dieses Leid lindern. Es erfüllt uns mit Genugtuung, dass nunmehr auch die Täter Zeit ihres Lebens nicht vor einer Strafverfolgung sicher sein können. Dennoch begrüßen wir es, dass sich nach über einem halben Jahrhundert der Strafverfolgung von NS-Verbrechen zum ersten Mal ein Angeklagter ausdrücklich zu seiner Schuld bekannt und sich dafür entschuldigt hat.Und dieses Strafverfahren hat besonders denen von uns, die noch dazu fähig waren, vor das Gericht zu treten und auszusagen, dabei geholfen, in Zukunft besser mit unserem Leid zu leben. Denn wir konnten Zeugnis ablegen über das ungeheuerliche und unsagbare Verbrechen, das an uns und unseren Familien begangen wurde. Wir konnten unser Leid schildern. Wir konnten unseren Angehörigen, die häufig nur als Zahl in den unfassbaren Dimensionen des Genozids an den Juden aufscheinen, einen Namen und ein Gesicht geben. Dieses Urteil ist ein später, leider allzu später Schritthin zur Gerechtigkeit“.

Die gesamte Presseerklärung ist hier nachzulesen: nebenklage-auschwitz.de/category/presseerklarungen

Wir möchten uns bei Euch allen bedanken, die mit uns diesen Prozess begleitet haben. Für das Anstehen zum Freihalten der Plätze für die Angehörigen, für das Zusammentragen der Erinnerungen der jeweiligen Verhandlungstage, ohne das diese Prozess-Mails nicht zustande gekommenwären, für das vehemente Eintreten gegen Holocaustleugner, für die positiven Rückmeldungen, für das Weiterverbreiten, für das Dienstetauschen, um die Prozessbeobachtung zu ermöglichen, für so vieles mehr …

Diese 17 Verhandlungstage, diese fast dreimonatige Dauer des Prozessgeschehens hat uns alle, die ihn verfolgten nicht nur beeindruckt, sondern auch verändert. Der Grund dafür liegt nicht nur darin, dass es eine historisch bedeutsame Verhandlung war, sondern maßgeblich an den Menschen, ohne deren Beteiligung dieser Prozess ein anderer gewesen wäre: den Nebenkläger*innen. Den Überlebenden von Auschwitz und ihren Angehörigen. Sie zu erleben, ihre Stimmen zu hören, war die wertvollste Erfahrung für uns.

Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen